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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 18.02.2009
Aktenzeichen: 6t E 1059/08.T
Rechtsgebiete: HeilBerG NRW


Vorschriften:

HeilBerG NRW § 75 Abs. 1
Für die Eröffnung eines berufsgerichtlichen Verfahrens nach § 75 Abs. 1 HeilBerG NRW genügt der aus konkreten Tatsachen ableitbare Verdacht einer Berufspflichtverletzung bzw. die ernste Möglichkeit einer solchen. Der Maßstab des § 203 StPO (hinreichender Tatverdacht) ist zu eng.
Tatbestand:

Der Beschuldigte ist als Facharzt für Allgemeinmedizin niedergelassen. Der Vater eines am 13.1.2004 verstorbenen Patienten wandte sich beschwerdeführend an die "Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler" und trug vor, der Beschuldigte habe den durch Metastasen eines malignen Melanoms verursachten Tod seines Sohnes durch unsachgemäße naturheilkundliche Behandlungen zumindest mitverschuldet, denn er habe seinen Sohn immer wieder in dem Glauben bestärkt, ohne Chemotherapien und/oder Bestrahlungen auszukommen; insbesondere habe er nicht für eine sofortige fachgerechte klinische Behandlung gesorgt. Der Beschuldigte habe auch laufend seine Firma Z.-GmbH sowie Fremdlabore eingeschaltet; dieser "Wahnsinn" sei auch nach der OP in B. weitergegangen. Der Beschuldigte habe versucht, seinen Sohn selbst noch im finalen Stadium "auszunehmen wie eine Weihnachtsgans".

Die Gutachterkommission übersandte dem Vater das Statut der Kommission sowie ein Formular "Entbindungserklärung von der ärztlichen Schweigepflicht zum Antrag auf Überprüfung einer ärztlichen Behandlung". Darin erklärt sich der Unterzeichner damit einverstanden, dass die Gutachterkommission alle zur Sachverhaltsaufklärung erforderlichen ärztlichen und sonstigen Unterlagen beizieht und auswertet. Nachdem der Vater die ihm vorgelegte Entbindungserklärung unterzeichnet hatte, leitete die Gutachterkommission das Beschwerdeschreiben an den Beschuldigten mit der Bitte um Stellungnahme weiter. Der Beschuldigte ließ sich in seiner Erwiderung dahin ein, der Patient habe seine Hilfe in Anspruch genommen, um "die notwendige Operation zur Entfernung der Metastasen durch seine systemische biologische Behandlung begleiten zu lassen". Es habe zwischen dem Patienten und ihm Einvernehmen bestanden, dass die Operation unbedingt erforderlich sei. Dies belegten die Schriftwechsel.

Der Beschuldigte und seine Versicherung erklärten sich grundsätzlich mit der Durch-führung des Verfahrens vor der Gutachterkommission einverstanden, allerdings unter der Voraussetzung, dass ein Gutachter mit Kenntnissen in der Naturheilkunde und der biologischen Krebstherapie eingeschaltet werde. Die Gutachterkommission stand demgegenüber auf dem Standpunkt, die Sache sei "nach Standard eines Hautarztes" zu behandeln. Nachdem im November 2004 der Chefarzt einer Klinik für Dermatologie, Allergologie, Phlebologie und Umweltmedizin um eine sachverständige Begutachtung gebeten worden war, widersprachen der Beschuldigte und seine Versicherung mehrfach der Weiterführung des Verfahrens.

Die Gutachterkommission stellte in ihrem späteren Bescheid in Übereinstimmung mit dem Gutachten des Chefarztes Dr. W. einen Behandlungsfehler des Beschuldigten fest und übersandte den gesamten Vorgang der Ärztekammer (Antragstellerin) "zu einer eventuellen weitergehenden berufsrechtlichen Überprüfung". Diese beantragte daraufhin die Eröffnung eines berufsgerichtlichen Verfahrens gegen den Beschuldigten. Das Berufsgericht lehnte den Antrag auf Eröffnung des Verfahrens aus tatsächlichen Gründen ab. Auf der Grundlage der dem Gericht vorliegenden tatsächlichen Erkenntnisse sei der Beschuldigte einer Berufspflichtverletzung nicht hinreichend verdächtig. Vielmehr sei nach Aktenlage und unter Berücksichtigung der noch gegebenen Beweismöglichkeiten mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass es nicht zu einer Feststellung von Berufspflichtverletzungen kommen werde.

Der Vorwurf der mangelnden Aufklärung über die dringende Notwendigkeit der Operation und der im konkreten Fall nicht bestehenden Erfolgsaussichten einer naturheilkundlichen Therapie könne nicht auf den Akteninhalt gestützt werden. Der Beschuldigte habe die mangelnde Aufklärung in Abrede gestellt; seine Mitarbeiterin ha-be dies schriftlich bestätigt. Aus dem Fehlen einer entsprechenden Dokumentation könne nicht darauf geschlossen werden, dass eine Aufklärung nicht vorgenommen worden sei. Die Frage der ordnungsgemäßen Dokumentation sei als solche nicht Gegenstand der berufsrechtlichen Vorwürfe. Auch der Ablauf der Geschehnisse spreche gegen eine Verletzung der Aufklärungspflicht. Denn als der Patient den Beschuldigten das erste Mal konsultiert habe - im November 2002 - sei er bereits aufgrund der Aufklärung in der Fachklinik H. über die Notwendigkeit einer weiteren Operation informiert gewesen. Dass der Beschuldigte dem Patienten ausdrücklich von dem gebotenen Eingriff abgeraten habe und dies der Grund sei, weshalb der Patient die Operation nicht habe durchführen lassen, könne nicht angenommen werden und werde auch von der Antragstellerin nicht behauptet. Ähnlich verhalte es sich zum Zeitpunkt der zweiten Konsultation. Dieser sei eine E-Mail vorangegangen, in welcher der Patient selbst auf die Notwendigkeit einer weiteren Operation hingewiesen habe, sowie ein Aufenthalt in der Universitätsklinik E. Schließlich habe der Patient sich etwa 10 Tage nach der Konsultation bei dem Beschuldigten - am 28.10.2003 - einer weiteren Operation in einer Klinik unterzogen.

Beweismittel für den erhobenen Vorwurf seien nicht gegeben. Weder aus der Behandlungskartei des Patienten noch aus den vorgelegten Verwaltungsvorgängen ergebe sich ein Beleg. Der als Zeuge benannte Vater sei bei den Gesprächen mit dem Patienten nicht zugegen gewesen und vermöge deshalb keine zuverlässigen Angaben zu machen.

Ähnliches gelte für den Vorwurf der mangelnden Aufklärung über die nicht bestehenden Erfolgsaussichten der naturheilkundlichen Behandlung. Zwar könne unterstellt werden, dass der Beschuldigte eine solche Aufklärung nicht vorgenommen habe, weil er nicht von der fehlenden Wirksamkeit überzeugt gewesen sei. Aus dem Gutachten des Dr. W. ergebe sich aber, dass es Vermutungen gebe, dass derartige Präparate mögliche Nebenwirkungen abschwächen könnten. In letztgenanntem Sinne wolle der Beschuldigte seine Therapie verstanden wissen. Dies lasse sich nicht widerlegen.

Soweit dem Beschuldigten vorgeworfen werde, eine medizinisch nicht indizierte Behandlung ohne wirksame Patienteneinwilligung vorgenommen zu haben, sei auch dieser Vorwurf nicht beweisbar.

Die Antragstellerin hat gegen die Nichteröffnung des Verfahrens sofortige Beschwerde eingelegt. Anders als die Staatsanwaltschaft habe sie keine vergleichbaren Ermittlungskompetenzen. Zudem verkenne das Berufsgericht, dass auch der Zeuge vom Hörensagen ein nach der Strafprozessordnung zulässiges Beweismittel sei; die Ausführungen zum Vater des Patienten, der unbestritten nicht bei den Gesprächen seines Sohnes zugegen gewesen sei, verstießen gegen das Verbot der Beweisantizipation. Auch den zeitlichen Ablauf werte das Gericht fehlerhaft. Man könne ihn "ebenso gut in gegenteiliger Hinsicht" interpretieren, nämlich dahin, dass der Patient erst durch die Gespräche mit dem Beschuldigten wieder von seiner Bereitschaft, den Eingriff durchführen zu lassen, Abstand genommen habe. Dass die Therapie nur begleitend gedacht gewesen sei und hierüber auch eine Aufklärung stattgefunden habe, könne nicht belegt werden. Originäres Beweismittel für eine erfolgte Aufklärung sei - neben der Aussage des Patienten - die Patientenkartei. In Übereinstimmung mit den im Rahmen eines Arzthaftungsprozesses geltenden Grundsätzen müsse auch hier die Beweiserleichterung für den Patienten - bzw. in der vorliegenden Konstellation zugunsten der Antragstellerin - gelten, wonach alles, was nicht dokumentiert sei, auch nicht geschehen sei. Dass das von dem Beschuldigten verwendete Präparat keinerlei Nutzen für die eigentliche Tumorbehandlung habe, habe der Gutachter Dr. W. eindeutig bestätigt. Auf die etwaige Behandlung von Nebenwirkungen komme es hier nicht an, weil gerade keine konservative Tumortherapie erfolgt sei.

Der Beschuldigte beantragte, die sofortige Beschwerde zurückzuweisen. Das Berufsgericht habe - wie geschehen - den hinreichenden Verdacht mit der Begründung verneinen dürfen, dass der Beschuldigte nach Aktenlage bei den gegebenen Beweismöglichkeiten wahrscheinlich nach dem Grundsatz in dubio pro reo freizusprechen sei. Dabei habe es die vorhandenen Beweise im Freibeweisverfahren würdigen dürfen. Grundsätze des Arzthaftungsrechts mit den ggf. zu gewährenden Beweiserleichterungen bei nicht eindeutiger Dokumentation fänden im berufsgerichtlichen Verfahren keine Anwendung, da dieses den Maximen der Strafprozessordnung unterworfen sei, die eine Beweislastumkehr grundsätzlich nicht zuließen.

Gründe:

Die sofortige Beschwerde ist zulässig und im Wesentlichen begründet.

Das berufsgerichtliche Verfahren ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang zu eröffnen, weil der Beschuldigte durch das ihm zur Last gelegte Verhalten einer Berufspflichtverletzung gemäß § 29 Abs. 1 des Heilberufsgesetzes vom 9.5.2000 (GVBl. NRW. S. 403) - HeilBerG - in Verbindung mit §§ 2 Abs. 2, 8 und 11 Abs. 1 der Berufsordnung (BO) für die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte vom 14.11.1998 (MBl. NRW 1999 S. 350) i.d.F. vom 18.3.2000 (MBl. NRW S. 1254) verdächtig ist.

1. Der Verfahrenseröffnung steht kein Verfahrenshindernis entgegen. Die Einleitung des Verfahrens durch die Antragstellerin war nicht unzulässig (vgl. hierzu § 95 Abs. 1 HeilBerG). Es besteht auch kein Verwertungsverbot in Bezug auf die von der Antragstellerin zur Gerichtsakte gereichten Unterlagen der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler (Beiakte Heft 2).

a) Den Antrag auf Eröffnung eines berufsgerichtlichen Verfahrens kann die Kammer oder die Aufsichtbehörde bei dem zuständigen Berufsgericht für Heilberufe stellen (§ 71 Abs. 1 HeilBerG). Einen solchen Antrag hat die Antragstellerin unter dem 17. 7.2007 aufgrund des Vorstandsbeschlusses vom 6.6.2007 gestellt. Eine zulässige Verfahrenseinleitung lag damit vor.

b) Ob die vom Beschuldigten geltend gemachten Verfahrensfehler in der Begutachtungssache des Herrn N. wegen der Behandlung seines Sohnes durch den Beschuldigten vorlagen, muss für die Entscheidung über den Eröffnungsantrag nicht im Einzelnen untersucht werden. Bei den meisten Rügen, die der Beschuldigte vorbringt (Nichteinholung eines fachgleichen Gutachtens, Fortsetzung des Verfahrens trotz Rücknahme seines Antrags, Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs, mangelnde Würdigung entlastender Beweise) ist schon nicht erkennbar, inwiefern sich hieraus ein Verfahrenshindernis für die Eröffnung des berufsgerichtlichen Verfahrens ergeben könnte. Denn das Verfahren vor der Gutachterkommission dient der Vermeidung zivilrechtlicher Schadensersatzklagen (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 3 des Statuts) und damit einem anderen Zweck als das berufsgerichtliche Verfahren; dementsprechend entfaltet das abschließende Gutachten der Kommission (§ 10 des Statuts) keine Bindungswirkung für das Verfahren vor dem Heilberufsgericht, anders als etwa ein strafgerichtliches Urteil oder eine Disziplinarentscheidung (vgl. § 76 Abs. 3 und 4 HeilBerG). Auch die - im Statut der Gutachterkommission nicht ausdrücklich vorgesehene - Übersendung der Unterlagen an die Antragstellerin zum Zwecke einer berufsrechtlichen Überprüfung hält der Senat im Ergebnis für unbedenklich, auch wenn sich die vom Vater des Verstorbenen unterzeichnete Schweigepflichtentbindungserklärung dem Wortlaut nach auf die Gutachterkommission beschränkte und lediglich eine Weiterleitung der Unterlagen an den zuständigen Haftpflichtversicherer des betroffenen Arztes erwähnte. Denn die Gutachterkommission lässt bereits in ihrem Namenszusatz (§ 1 Satz 2 des Statuts: "Diese führt die Bezeichnung Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein.") erkennen, dass sie eine - wenngleich unabhängige und weisungsfreie (§ 1 Abs. 2 des Statuts) - Einrichtung der Antragstellerin ist; sie residiert auch unter derselben Anschrift. Die Beteiligten des Verfahrens vor der Gutachterkommission müssen deshalb regelmäßig damit rechnen, dass im Falle der Feststellung eines Behandlungsfehlers eine Weiterleitung an die Antragstellerin zum Zwecke einer Prüfung von Berufspflichtverstößen erfolgt.

Vgl. auch Laum/Smentkowski, Kurzkommentar zum Statut der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein, 2. Aufl. 2002, S. 10.

Selbst wenn man mangels ausdrücklicher Erstreckung der Entbindungserklärung auf die Antragstellerin einen Verstoß der Gutachterkommission gegen die Schweigepflicht annehmen würde, könnte sich auf einen solchen Verstoß allenfalls der Vater des verstorbenen Patienten als Rechtsgutträger, nicht aber der Beschuldigte berufen.

2. Das Berufsgericht ist von der bisherigen Rechtsprechung des Landesheilberufsgerichts NRW ausgegangen, wonach ein berufsgerichtliches Verfahren nur dann eröffnet werden kann, wenn ein hinreichender Tatverdacht gegen den Beschuldigten besteht. Dies soll aus § 112 HeilBerG NRW in Verbindung mit § 203 StPO folgen. Ein hinreichender Tatverdacht liege vor, wenn "bei einer vorläufigen Tatbewertung im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Beweismöglichkeiten" eine "ausreichende Wahrscheinlichkeit für eine spätere Verurteilung des Beschuldigten wegen einer Berufspflichtverletzung besteh(e)".

Vgl. nur Beschlüsse vom 10.12.1998 - 12t E 473/97.T -, vom 18.5.2000 - 6t E 921/99.T - und vom 25. 2.2004 - 13 E 920/01.T -, juris.

Diese Rechtsprechung lässt außer Betracht, dass § 203 StPO - wie schon der Wortlaut zeigt - auf den Ergebnissen des in der Strafprozessordnung vorgesehenen vorbereitenden Verfahrens aufbaut. In diesem Verfahren bestehen umfangreiche Ermittlungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft (§§ 160 ff. StPO), die den ursprünglich nur geforderten Anfangsverdacht, vgl. Schoreit, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, § 152 Rn. 28 ff., und Wache, ebenda, § 160 Rn. 7 erhärten und sich in der Folge zu einem hinreichenden Tatverdacht im Sinne von § 203 StPO verdichten können. Im Heilberufsgesetz NRW ist ein solches Verfahren nicht vorgesehen; das am ehesten damit zu vergleichende Ermittlungsverfahren (§ 74, § 79 Abs. 2 Satz 2 HeilBerG NRW) findet nicht vor der Eröffnung statt, sondern kann erst nach der Eröffnung beginnen. Auch verfügt die Antragstellerin ebenso wie die antragsberechtigte Aufsichtsbehörde über kein mit den Befugnissen der Staatsanwaltschaft vergleichbares Instrumentarium zur Aufklärung des Sachverhalts.

Im Schrifttum wird deshalb mit Recht die Auffassung vertreten, dass für die Eröffnung eines berufsgerichtlichen Verfahrens schon der aus konkreten Tatsachen ableitbare, also nicht aus der Luft gegriffene Verdacht einer Berufspflichtverletzung oder - anders ausgedrückt - die ernste Möglichkeit einer solchen, genügen müsse. Dem ist allerdings eine Schlüssigkeitsprüfung vorgeschaltet: Stellt eine Handlung rechtlich betrachtet schon kein Berufsvergehen dar, kommt es nicht mehr darauf an, ob sie sich tatsächlich so ereignet hat.

Vgl. im Einzelnen Willems, Das Verfahren vor den Heilberufsgerichten, 2009, S. 137 ff.

Die so verstandenen Voraussetzungen für die Verfahrenseröffnung sind bei den hier erhobenen Anschuldigungen weitgehend erfüllt mit der Folge, dass der Beschwerde im Wesentlichen zu entsprechen ist.

3. Es besteht die ernste aus konkreten Tatsachen ableitbare Möglichkeit einer Berufspflichtverletzung und zugleich die ausreichende Wahrscheinlichkeit für eine spätere Verurteilung des Beschuldigten.

a) Für die Vorwürfe zu 1. (mangelnde Aufklärung über die dringende Notwendigkeit der von der Fachklinik H. vorgeschlagenen Behandlung) und 2. (Unterlassen der erforderlichen Aufklärung über die realistischen Chancen der naturheilkundlichen Therapie) spricht in tatsächlicher Hinsicht zunächst der zeitliche Ablauf. Zwar wurde der Patient unstreitig am 6.11.2002 in der Fachklinik H. über seine schwere Erkrankung und den potentiellen Nutzen der von dort vorgeschlagenen konventionellen Behandlung aufgeklärt. Obwohl er dieser Behandlung zunächst zugestimmt hat, unterzog er sich der Operation aber erst knapp ein Jahr später. In der Zwischenzeit war er bei dem Beschuldigten - in der Zeit vom 25.11.2002 bis zum 17.12.2002 - in naturheilkundlicher Behandlung. Ob und in welcher Weise der Beschuldigte den Patienten über das Erfordernis der Operation und insbesondere die Folgen eines Hinauszögerns oder einer Verweigerung der Operation aufgeklärt hat, ist nach Aktenlage offen. In der handschriftlich geführten Karteikarte des Beschuldigten fehlt hierzu jegliche Dokumentation. Zwar ist dem Berufsgericht darin zuzustimmen, dass die ordnungsgemäße Dokumentation selbst nicht von der Antragstellerin zum Gegenstand der berufsrechtlichen Vorwürfe gemacht worden ist. Auch können die im Arzthaftungsrecht geltenden Grundsätze über Beweiserleichterungen im - dem Strafverfahren angenäherten - berufsgerichtlichen Verfahren keine Anwendung finden, so dass allein aus dem Fehlen der Dokumentation nicht schon geschlossen werden darf, dass diese nicht stattgefunden hat. Dennoch ergibt sich aus dem Fehlen von Aufzeichnungen und insbesondere aus dem Umstand, dass der Beschuldigte sich hinsichtlich der dringend notwendigen Operation offenkundig umentschieden, sich also ausschließlich auf die naturheilkundliche Behandlung durch den Beschuldigten verlassen hat, ein deutlicher Anhaltspunkt dafür, dass der Beschuldigte dem Patienten den Ernst der Lage und die besondere Dringlichkeit der in H. vorgeschlagenen Behandlung nicht (erneut) vor Augen geführt hat.

Hierbei ist in rechtlicher Hinsicht von Folgendem auszugehen:

Das Unterlassen einer nach Lage des Falles gebotenen therapeutischen Aufklärung stellt einen Behandlungsfehler dar.

Landesberufsgericht für Heilberufe beim OVG NRW, Urteil vom 22.1.1962 - Z A - 1/61 -, HeilBGE A 1.2 Nr. 3 (nur Leits.); Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rn. 186.

Die Anwendung einer sogenannten "Außenseitermethode" erfordert zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten dessen Aufklärung über das Für und Wider dieser Methode. Einem Patienten müssen nicht nur die Risiken und die Gefahr eines Misserfolges der Behandlung erläutert werden, sondern er ist auch darüber aufzuklären, dass die geplante Behandlung nicht medizinischer Standard ist und seine Wirksamkeit nicht abgesichert ist. Der Patient muss wissen, auf was er sich einlässt, um abwägen zu können, ob er die Risiken einer Behandlung und deren Erfolgsaussichten eingehen will.

BGH, std. Rspr., vgl. nur Urteil vom 22.5.2007 - VI ZR 35/06 -, NJW 2007, 2774 (2775 m. w. N.).

Gerade bei lebensbedrohenden Erkrankungen liegt eine besondere Erwartungshaltung des Patienten vor, die der Arzt bei der Aufklärung über eine Außenseitermetho-de zu berücksichtigen hat. Ein solcher Patient neigt verständlicherweise dazu, den "letzten Strohhalm" zu ergreifen und ist daher in Bezug auf alternative Heilkonzepte in aller Regel besonders beeinflussbar. Hier muss der Arzt auch dann, wenn er selbst von der Wirkung einer schulmedizinisch nicht akzeptierten Alternativbehandlung überzeugt ist, dem Patienten eine sachlich kritische Distanz vermitteln, damit dessen Entscheidungsfreiheit gewahrt bleibt. Die Notwendigkeit, den Patienten über die Einschätzung der therapeutischen Wirksamkeit einer alternativen Behandlungsmethode durch die medizinische Wissenschaft nicht im Unklaren zu lassen, folgt zugleich daraus, dass der Arzt gegenüber dem Patienten der Wahrheit verpflichtet ist.

Berufsgericht für Heilberufe beim VG Münster, Urteil vom 9.1.2008 - 14 K 1779/05 -, juris.

Die Aufklärungspflicht besteht besonders dringend in den Fällen, in denen der Kran-ke sich einem gebotenen diagnostischen oder therapeutischen Eingriff nicht unter-ziehen will. Hier hat der Arzt alles nach der Sachlage Gebotene zu unternehmen, damit der Patient seine Weigerung aufgibt und seine Einwilligung zu notwendigen ärztlichen Eingriffen erteilt. Zwar hat der Arzt die ernstliche Weigerung eines Patien-ten zu respektieren. Jedenfalls in bedrohlichen Fällen hat er aber nach einiger Zeit erneut auf den Patienten einzuwirken; unter Umständen kann sogar die Drohung mit einem Behandlungsabbruch geboten sein.

Laufs, in: Handbuch des Arztrechts, 2002, § 62 Rn. 3 unter Hinweis auf BGH, VersR 1954, 98 (99); OVG Bremen, Urteil vom 21.2.1990 - HB-BA 1/88 -, MedR 1990, 279 (282).

Hieraus ergibt sich für den Vorwurf zu 1.: Auch nach einer anderweitig erfolgten Belehrung, wie sie hier unstreitig in H. stattgefunden hat, hätte der Beschuldigte den Patienten nochmals nachdrücklich auf das Erfordernis der Operation und die Folgen einer Verzögerung bzw. einer endgültigen Verweigerung hinweisen müssen. Der Beschuldigte selbst hat sich zu dem Vorwurf der mangelnden Aufklärung bisher nur unzureichend und zum Teil widersprüchlich eingelassen. Er hat zum einen geltend gemacht, eine Belehrung sei deshalb nicht erforderlich gewesen, weil der Patient bereits in der Fachklinik H. aufgeklärt worden sei. Dann heißt es, der Patient und er seien einvernehmlich davon ausgegangen, dass dieser sich operieren lasse. An wieder anderer Stelle weist der Beschuldigte darauf hin, der Patient habe sich jederzeit operieren lassen können. Später hat der Beschuldigte - unter Hinweis auf eine schriftliche Erklärung seiner Sprechstundenhilfe - vorgetragen, er habe den Patienten aufgeklärt. Zwar wird man der vorgelegten Erklärung nicht allein wegen des Beschäftigungsverhältnisses bei dem Beschuldigten jeglichen Beweiswert absprechen können, doch bleibt abzuwarten, ob sich aus einer Aussage der Angestellten wirklich Entlastendes ergibt. Die bloß schriftliche Erklärung genügt hierfür jedenfalls nicht, denn sie ist zu unbestimmt. So wird als Zeitangabe "Ende 2002" angegeben, was angesichts des Behandlungsendes (17.12.2002) nicht plausibel erscheint. Zudem sind der genaue Wortlaut der Aufklärung sowie die näheren Umstände nach dem oben Gesagten von Bedeutung.

Für die weitere Aufklärung des Tatvorwurfs kommen neben der persönlichen Anhörung des Beschuldigten und der Beiziehung der Patientenkartei, die bisher nur dem Gutachterausschuss zur Verfügung stand, außerdem die Aussagen der Ärzte in Betracht, die den Patienten in der fraglichen Zeit mitbehandelt haben. Es ist nicht auszuschließen, dass sich daraus sowie aus der kurzen Dauer der Behandlung durch den Beschuldigten entlastende Umstände ergeben, die Art und Umfang seiner Aufklärungspflicht in einem für ihn günstigeren Licht erscheinen lassen. Möglicherweise kann auch der Vater des Patienten - wenn auch nur als Zeuge vom Hörensagen - zur Frage der Aufklärung einen Beitrag leisten.

Davon ausgehend ist die Eröffnung des Verfahrens wegen des unter 1. genannten Vorwurfs nur insoweit gerechtfertigt, als es um den Zeitraum vom 25.11. bis 17.12.2002 geht. Für die weitere Behandlung vom 23.11. bis 3.12.2003 kann eine diesbezügliche Verletzung der Aufklärungspflicht nicht angenommen werden. Die tatsächlichen Umstände sprechen insoweit eindeutig für den Beschuldigten; denn der Patient hat sich vor dieser Behandlung, nämlich am 17.10.2003, von dem Beschuldigten beraten lassen und sich wenig später, nämlich am 28.10.2003, also ebenfalls noch vor dieser Behandlung der erforderlichen Operation unterzogen.

Was den Vorwurf zu 2. anbelangt, erscheint es nach dem zuvor Gesagten für den Zeitraum 25.11. bis 17. 12.2002 auch hinreichend wahrscheinlich, dass der Beschuldigte den Patienten nicht ordnungsgemäß über die Erfolgsaussichten einer (wegen der offenkundig nicht erfolgten Operation) ausschließlich naturheilkundlichen Behandlung aufgeklärt hat. Hinsichtlich des Zeitraums vom 23.11. bis 3. 12.2003 stellt sich die Lage etwas anders dar, denn der Patient hatte sich inzwischen - wie erwähnt - einer Operation unterzogen. Bei dieser war allerdings ein Teil des Tumors im Plexus brachialis (Arm-Nervengeflecht) verblieben, so dass dem Patienten die Vorstellung in einem Onkologischen Zentrum zur Planung der weiteren adjuvanten Therapie empfohlen worden war. Für diesen zweiten Zeitraum kommt es mithin für das Vorliegen einer Berufspflichtverletzung darauf an, ob der Beschuldigte den Patienten vor dem Hintergrund des stark fortgeschrittenen Stadiums der Erkrankung hinreichend über die Erfolgsaussichten der naturheilkundlichen Behandlung aufgeklärt hat. Der Senat hält auch dies für so zweifelhaft, so dass es einer Verfahrenseröffnung bedarf; denn der Patient wurde bereits am 8. 12.2003 im finalen Stadium stationär aufgenommen und verstarb wenig später im Januar 2004.

b) Aus den voranstehenden Darlegungen ergibt sich zugleich, dass hinsichtlich des Vorwurfs zu 3. hinsichtlich beider Zeiträume die durchgeführte Behandlung mit dem Mittel Tationil fragwürdig erscheint. Zwar gibt es auch nach dem Gutachten des Dr. W. Vermutungen, dass Glutathionpräparate wie Tationil mögliche Nebenwirkungen einer Tumortherapie abschwächen können. In dem erstgenannten Zeitraum konnte dieser Effekt der Behandlung allerdings schon mangels Bestrahlung oder Chemotherapie, die sich an die geplante - aber eben nicht durchgeführte - Operation hätte anschließen sollen, gar nicht zum Tragen kommen. Auch in dem zweitgenannten Zeitraum fand eine solche Behandlung tatsächlich nicht statt.

Ende der Entscheidung

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