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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 17.06.2002
Aktenzeichen: 7 A 1829/01
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 6 Abs. 1 Satz 2
BauO NRW § 6 Abs. 1 Satz 3
BauO NRW § 6 Abs. 6
BauO NRW § 6 Abs. 6 Satz 2
BauO NRW § 6 Abs. 6 Satz 4
BauO NRW § 6 Abs. 6 Satz 5
BauO NRW § 6 Abs. 5
BauO NRW § 6 Abs. 11
1. Das Schmalseitenprivileg kann für ein (vorhandenes) Gebäude auch dann nur mit einer (weiteren) Außenwand in Anspruch genommen werden, wenn es zwar nicht "ohne Grenzabstand", aber grenznah zur Nachbargrenze gebaut ist.

2. § 6 Abs. 6 Satz 5 BauO NRW bezieht sich seinem eindeutigen Wortlaut nach nur auf rechtmäßig bestehende "Teile" einer Aussenwand, die für sich das Schmalseitenprivileg in Anspruch nehmen will.


Tatbestand:

Die Klägerin verlangt vom Beklagten, gegen den rückwärtigen Anbau an das bestehende (Alt)Wohnhaus der Beigeladenen einzuschreiten, der 3 m von ihrer Grundstücksgrenze entfernt errichtet wurde. Der bestehende Altbau der Beigeladenen war mit seiner dem Grundstück der Klägerin gegenüberliegenden südöstlichen Gebäudeseite einschließlich des Anbaus grenzständig errichtet. Nach amtlicher Vermessung lag die westliche Gebäudeecke der nordwestlichen Außenwand des Wohnhauses der Beigeladenen 1,66 m und die östliche Gebäudeecke der nordwestlichen Außenwand 0,06 m von der Grenze zum Grundstück der Klägerin entfernt. Der Beklagte lehnte ein Einschreiten auf Beseitigung des Anbaus ab. Die dagegen gerichtete Klage wies das VG ab. Auf die hiergegen zugelassene Berufung änderte das OVG das Urteil und verpflichtete den Beklagten zum Einschreiten.

Gründe:

Auf die nördliche Außenwand des Anbaus findet das Schmalseitenprivileg keine Anwendung, weil bereits das Hauptgebäude mit seiner südöstlichen und mit seiner nordwestlichen Außenwand jeweils an eine Nachbargrenze gebaut ist und daher das sog. Schmalseitenprivileg nicht nochmals für die nördliche Außenwand des Anbaus in Anspruch genommen werden kann. Der Altbau ist trotz eines geringen Abstandes von 0,06 m mit seiner nordwestlichen Außenwand "an eine Nachbargrenze" i.S.d. § 6 Abs. 6 Satz 2 BauO NRW gebaut.

Das Tatbestandsmerkmal des § 6 Abs. 6 Satz 2 BauO NRW "an eine Nachbargrenze gebaut" lässt nicht eindeutig erkennen, ob hiervon nur eine grenzständige oder auch eine grenznahe Bebauung umfasst ist. Zu dem Tatbestandsmerkmal "an der Grenze" i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW 1984 (GV.NRW. 1984, S. 419, ber. S. 532) hat der Senat seinerzeit offengelassen, ob ein Gebäude auch dann als "an der Grenze" gebaut anzusehen ist, wenn es nicht grenzständig, sondern lediglich grenznah errichtet worden ist; für eine so genannte grenznahe Bebauung wird in der Regel ein Grenzabstand von weniger als 50 cm gefordert.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 14.1.1993 - 7 A 287/91 - und Beschluss vom 5.10.1998 - 7 B 1850/98 -, BRS 60 Nr. 105.

Hintergrund hierfür sind örtliche Besonderheiten, die durch eine vorhandene, historisch gewachsene enge Bebauung bedingt sind.

§ 6 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW 1984 sah die Gestattung der vom Planungsrecht abweichenden offenen Bauweise vor, sofern auf dem Nachbargrundstück ein Gebäude "an der Grenze" vorhanden war. Mit der zum 1.1.1996 neugefassten Landesbauordnung NRW 1995 (GV. NRW. 1995, S. 218, ber. S. 982) stellt § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW allerdings nicht mehr auf ein "an der Grenze" gebautes, sondern auf ein Gebäude "ohne Grenzabstand" ab. Für eine Gleichstellung grenznaher mit grenzständiger Bebauung lässt § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW 1995/2000 danach keinen Raum mehr.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5.10.1998, a.a.O.; Böddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (1995/2000), Stand: Mai 2000, § 6 Rn. 91.

Dies gilt aber nicht in gleicher Weise für das in § 6 Abs. 6 Satz 2 BauO NRW 1995/2000 nach wie vor enthaltene Tatbestandsmerkmal "an eine Nachbargrenze gebaut". Im Gegensatz zu der Änderung in § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW 1995 hat der Gesetzgeber den Wortlaut in § 6 Abs. 6 Satz 2 BauO NRW 1995 beibehalten und nicht geändert. Die Beibehaltung des Wortlauts "an eine Nachbargrenze gebaut" deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber mit dem Anbau an eine Nachbargrenze - anders als in § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO NRW 1995 - ein unterschiedliches Begriffsverständnis verbunden hat und nicht allein eine grenzständige, sondern eben auch eine grenznahe Bebauung als "an" einer Nachbargrenze gebaut ansieht.

Hierfür spricht, dass dem Gesetzgeber die in der Rechtsprechung aufgeworfene Frage bekannt war, ob ein Gebäude "an der Grenze" nur eine grenzständige oder aber auch eine grenznahe Bebauung erfassen würde. Nicht zuletzt im Hinblick hierauf hat sich der Gesetzgeber bei § 6 Abs. 1 Satz 2 und 3 BauO NRW 1995 entschlossen, den Wortlaut neu zu fassen. Auch bezüglich des Privilegierungstatbestandes des § 6 Abs. 11 BauO NRW 1995 erfolgte mit der Aufnahme der Sätze 2 und 3 eine Regelung, wonach die in § 6 Abs. 11 BauO NRW 1995 genannten baulichen Anlagen selbst dann privilegiert sein sollen, wenn sie in einem Abstand von 1 bis 3 m von der Nachbargrenze gebaut werden. Von einer vergleichbaren Regelung hinsichtlich der Vorschrift des § 6 Abs. 6 Satz 2 BauO NRW 1995 hat der Gesetzgeber hingegen abgesehen, was nur so verstanden werden kann, dass für ein (vorhandenes) Gebäude das Schmalseitenprivileg auch dann nur mit einer (weiteren) Außenwand in Anspruch genommen werden kann, wenn es zwar nicht "ohne Grenzabstand", aber "an eine Nachbargrenze" gebaut ist. Dass umgekehrt nur eine Bebauung ohne Grenzabstand zur Nachbargrenze das Schmalseitenprivileg gemäß § 6 Abs. 6 Satz 2 BauO NRW 1995 ausschließen soll, ergibt sich aus dieser Vorschrift nicht. Letztlich hätte eine dahingehende Gesetzesintention in den Gesetzesmaterialien ihren Niederschlag finden müssen.

Die sich aus der Gesetzessystematik und ihrem Wortlaut ergebende Auslegung wird durch ihren Sinn und Zweck bestätigt. Mit der Einfügung der Vorschrift des § 6 Abs. 6 BauO NRW 1984 verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, eine verdichtete Bebauung und ein flächensparendes Bauen zu ermöglichen.

Vgl. LT-Drs. 9/2721, S. 73, 75, 76.

Gleichzeitig soll das Maß zulässiger Bebauungsverdichtung nicht über die sich aus § 6 Abs. 6 Satz 2 BauO NRW ergebenden Beschränkungen hinaus ermöglicht werden. Im Falle einer mit einer Bebauung an der Grenze vergleichbaren grenznahen Bebauung ist eine Bebauungsverdichtung erreicht, wie sie der Gesetzgeber auf der einen Seite privilegieren, auf der anderen Seite aber auch allenfalls hinnehmen wollte.

Ein Weiteres kommt hinzu: Bei der Einfügung des Schmalseitenprivilegs in die Landesbauordnung NRW 1984 hatte der Gesetzgeber nicht nur neu zu errichtende Gebäude, sondern auch bereits bestehende Gebäude vor Augen. Dem Gesetzgeber war bekannt, dass im Einzelfall auf Grund örtlicher Situationen, insbesondere bei einer vorhandenen historisch gewachsenen Bebauung, die nach der Landesbauordnung NRW 1984 an sich vorgesehenen Abstandflächen, beispielsweise aufgrund vorhandener Traufgassen, nicht eingehalten werden.

Vgl. Böddinghaus, Probleme mit schmalen Traufgassen, BauR 1987, 635 ff.

Diese Situation, vgl. insoweit auch OVG NRW, Urteil vom 14.1.1993 - 7 A 287/91 -, Beschluss vom 10.3.1994 - 10 B 3385/93 -, hat der Gesetzgeber mit der Novellierung der Landesbauordnung NRW 1995 aufgegriffen, wie der systematische Zusammenhang in § 6 Abs. 6 BauO NRW 1995 zu dem neu eingefügten Satz 5 zeigt. Aus der Einfügung des Satzes 5 in § 6 Abs. 6 BauO NRW 1995 und der Gesetzesbegründung hierzu ergibt sich, dass der Gesetzgeber in Ansehung der aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG resultierenden Baufreiheit Ausbauten und Erweiterungen der Altbausubstanz selbst dann für zulässig ansehen wollte, wenn ein rechtmäßig bestehender Wandteil aufgrund älteren Rechts mit einem geringeren Abstand zur Nachbargrenze errichtet wurde, als er nach § 6 Abs. 5 BauO NRW erforderlich wäre.

Vgl. Landtags-Drs. 11/7153, S. 150.

Er hat jedoch einen Abstand "zur" Nachbargrenze vorausgesetzt und es damit dabei bewenden lassen, dass ein Wandteil "an" einer Nachbargrenze zum Verbrauch des Schmalseitenprivilegs im Sinne des § 6 Abs. 6 Satz 2 BauO NRW führt.

Die vorstehende Auslegung wird durch die Gesetzesgeschichte bestätigt. (wird ausgeführt)

Da nach alledem für jede Außenwand, mit der ein Gebäude grenzständig oder - wie hier - grenznah an eine andere Außenwand oder an eine Nachbargrenze angebaut wird, jeweils einmal die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs entfällt, können die Beigeladenen für die selbständige nördliche Außenwand des Anbaus das Schmalseitenprivileg nicht mehr in Anspruch nehmen.

Der Anwendung des Schmalseitenprivilegs für den Altbau steht nicht entgegen, dass das Hauptgebäude der Beigeladenen bereits vor Inkrafttreten der hier einschlägigen Regelung des § 6 Abs. 6 Satz 4 BauO NRW genehmigt war und insoweit Bestandsschutz genießt. Folge der Anwendung des neuen Rechts auf das Haupthaus ist nicht etwa, dass der Bestandsschutz verloren geht und dass das Gebäude nicht mehr erweitert werden kann. Die Beigeladenen sind lediglich daran gehindert, das Haupthaus um Anbauten mit Außenwänden zu erweitern, die ihrerseits die Begünstigung des Schmalseitenprivilegs benötigen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4.5.2000 - 7 A 4749/96 -.

Die Beigeladenen können sich insoweit auch nicht auf § 6 Abs. 6 Satz 5 BauO NRW berufen, da diese Vorschrift im vorliegenden Fall nicht einschlägig ist. Zwar stehen danach rechtmäßig bestehende Wandteile, die einen geringeren Abstand zur Nachbargrenze aufweisen, als er nach Absatz 5 erforderlich ist, dem Schmalseitenprivileg nicht entgegen, doch findet die Vorschrift hier schon deshalb keine Anwendung, weil sie sich ihrem eindeutigen Wortlaut nach nur auf rechtmäßig bestehende Wand"teile" bezieht, nicht aber auf selbständig zu bewertende Außenwände. Die Anwendung des § 6 Abs. 6 Satz 5 BauO NRW 1995 setzt voraus, dass der "rechtmäßig bestehende Wandteil" Teil der Außenwand ist, die für sich das Schmalseitenprivileg in Anspruch nehmen will.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4.5.2000 - 7 A 4749/96 -.

Das ist hier gerade nicht der Fall. Die rechtmäßig bestehende nordwestliche Außenwand des Haupthauses der Beigeladenen soll nicht um Wandabschnitte verlängert werden, die das Schmalseitenprivileg benötigen, vielmehr ist - wie oben ausgeführt - mit der nördlichen Gebäudewand des neu errichteten Anbaus eine neue, rechtlich als selbständig zu wertende Außenwand neben der bereits vorhandenen des Altbaus entstanden. Eine solche Fallkonstellation wird von der Regelung des § 6 Abs. 6 Satz 5 BauO NRW 1995 nicht erfasst.

Diese Sichtweise der genannten Vorschrift wird durch die Entstehungsgeschichte ihrer Einfügung in § 6 Abs. 6 BauO NRWW bestätigt.

Ende der Entscheidung

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