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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 06.04.2004
Aktenzeichen: 7 B 223/04
Rechtsgebiete: BauO NRW


Vorschriften:

BauO NRW § 6 Abs. 1 Satz 2
BauO NRW § 6 Abs. 4 Satz 5
BauO NRW § 6 Abs. 15
1. Ein Wintergarten ohne eigene tragende Wände, der lediglich aus einer Terrassenüberdachung besteht, stellt keine öffentlich-rechtliche Anbausicherung i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW dar.

2. Dass gem. § 6 Abs. 4 Satz 5 BauO NRW die Höhe von Dächern mit einer Dachneigung von nicht mehr als 45° bei der Ermittlung der Abstandfläche unberücksichtigt bleibt, hat für die Auslegung von § 6 Abs. 15 BauO NRW keine Bedeutung.

Daraus, dass nach § 6 Abs. 5 BauO NRW eine bauliche Änderung bestehender Gebäude mit Veränderung von Länge und Höhe der den Nachbargrenzen zugekehrten Wände nicht "geringfügig" ist, kann nicht geschlossen werden, dass bauliche Änderungen stets geringfügig sind, wenn Länge und Höhe dieser Wände nicht verändert werden.

3. Wo die Grenze zwischen einer geringfügigen und einer nicht mehr geringfügigen Änderung liegt, ist nach den Umständen des Einzelfalles zu entscheiden. Eine Erhöhung des Gebäudes um mehr als die Hälfte durch ein geändertes Dach ist nicht mehr geringfügig.


Gründe:

Die Baugenehmigungen, mit denen den Beigeladenen anstelle des vorhandenen Pultdaches die Errichtung eines - höheren - Satteldaches mit 40° Neigung auf dem grenzständig errichteten Gebäude genehmigt worden ist, verstoßen bei der im vorliegenden Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung gegen die gesetzlichen Abstandvorschriften, denn es sind weder die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 2 a oder b noch des § 6 Abs. 15 BauO NRW gegeben.

Da der Bereich, in dem das Vorhaben liegt, planungsrechtlich nach § 34 BauGB zu beurteilen ist, läge der Fall des § 6 Abs. 1 Satz 2 a BauO NRW allenfalls dann vor, wenn im maßgeblichen Bereich nahezu ausschließlich ohne Grenzabstand gebaut worden wäre und eine Bauweise mit Grenzabstand sich als absolute Ausnahme darstellte. Dies ist ausweislich der bei den Akten befindlichen Lagepläne jedoch nicht der Fall. Selbst das Haus der Beigeladenen ist zum Nachbargrundstück Flurstück 1895 in ganzer Tiefe und zum Nachbargrundstück Flurstück 1876 im südlichen Bereich nicht grenzständig errichtet.

Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 2 b BauO NRW liegen jedenfalls insoweit nicht vor, als nicht öffentlich-rechtlich gesichert ist, dass auf dem rückwärtigen Nachbargrundstück der Antragsteller ohne Grenzabstand gebaut wird. Zwar sieht die Rechtsprechung das Tatbestandsmerkmal der öffentlich-rechtlichen Sicherung auch dann als erfüllt hat, wenn auf dem Nachbargrundstück ein Gebäude ohne Grenzabstand gebaut ist,

vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 17.2.2000 - 7 B 178/00 -, BRS 63 Nr. 137 und vom 17.10.2000 - 10 B 1053/00 -, BRS 63 Nr. 198,

der grenzständig errichtete Wintergarten auf dem Grundstück der Antragsteller stellt bei der hier nur möglichen summarischen Prüfung jedoch keine hinreichende Anbausicherung i.S.v. § 6 Abs. 1 Satz 2 b BauO NRW dar.

Als einer öffentlich-rechtlichen Sicherung gleichwertig ist nur ein vorhandenes, grenzständiges Gebäude anzusehen, von dessen Fortbestand auch ausgegangen werden kann.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 2.8.2002 - 7 A 74/02 - und vom 6.11.1998 - 7 B 2057/98 -.

Die faktische Sicherung der Grenzbebauung muss ein solches Gewicht haben, dass sie der Sicherung durch eine Baulast gleich kommt. Hier besteht der Wintergarten ausweislich der in der Akte befindlichen Fotos weitgehend aus einer Holzkonstruktion ohne Tür mit einfacher Überdachung. Der Wintergarten ist in keinem der in den Akten befindlichen Amtlichen Lagepläne als Gebäude verzeichnet. Lediglich in dem zur Nachtragsbaugenehmigung vom 19. November 2003 gehörenden Lageplan hat die Bauaufsichtsbehörde ihn handschriftlich mit der Bezeichnung "Wintergarten/Terrassenüberd." eingezeichnet. Die Beigeladenen verhalten sich in der Beschwerdebegründungsschrift lediglich zur Funktion der Anlage, nicht jedoch zu ihrer bautechnischen Ausgestaltung, z.B. dazu, ob der Wintergarten eigene Wände besitzt. Aufgrund der in den Akten befindlichen Fotos, der vom Bauaufsichtsamt gewählten Bezeichnung "Terrassenüberdachung" und des Fehlens entgegenstehender sonstiger Anhaltspunkte geht der Senat davon aus, dass es sich bei dem Wintergarten nicht um ein Gebäude mit eigenen tragenden Wänden handelt, das ohne Fortbestand der angrenzenden Gebäude/Mauern selbständig existieren kann, sondern um eine bloße Überdachung, die leicht zu beseitigen ist, und damit nicht um ein der öffentlich-rechtlichen Sicherung gleichwertiges Gebäude.

Ob sich die Genehmigung des Vorhabens mit einer nach Aktenlage und den unbestrittenen Angaben des Antragsgegners um mehr als zwei Meter erhöhten Gebäudehöhe gegenüber den Antragsteller als rücksichtslos erweist, kann der Senat deshalb offen lassen. Die Antragsteller bemängeln insoweit - ebenso unbestritten - eine massive Beeinträchtigung der Besonnung ihres Grundstücks gegenüber dem bisherigen genehmigten Zustand, auf den allein abzustellen ist. Dass möglicherweise auch früher ähnliche Beeinträchtigungen durch das Nachbargebäude bestanden haben, spielt keine Rolle, da das frühere Satteldach - das allerdings auf einer geringeren Wandhöhe aufsetzte - beseitigt worden ist. Zwar ist in verdichteten innerstädtischen Bereichen gerade mit Altbestand der Bebauung die Belichtungs- und Besonnungssituation regelmäßig schlechter als in Baugebieten, die von aufgelockerter Bebauung geprägt sind, doch rechtfertigt dies nicht, berechtigte nachbarliche Belange einfach außer Acht zu lassen. Gerade wenn wie hier Abstandflächen, die auch eine hinreichende Besonnung der Nachbargrundstücke gewährleisten sollen, wegen der bestehenden Bebauung nicht eingehalten werden, müssen bei einer die Situation verschärfenden Bebauung die negativen Auswirkungen bei der Erteilung der Baugenehmigung berücksichtigt werden.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29.7.2003 - 10 B 1057/03 -, Baurecht 2004, 314.

Auch die Voraussetzungen des § 6 Abs. 15 BauO NRW liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift können bei Nutzungsänderungen sowie bei geringfügigen baulichen Änderungen bestehender Gebäude ohne Veränderung von Länge und Höhe der den Nachbargrenzen zugekehrten Wände unter Würdigung nachbarlicher Belange geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet werden, wenn Gründe des Brandschutzes nicht entgegenstehen. Die Vorschrift hat solche Fallgestaltungen im Blick, in denen das bestehende Gebäude nach derzeitiger Rechtslage die erforderliche Abstandfläche nicht einhält.

Vgl. Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen Teil C § 6 Rdnr. 335.

§ 6 Abs. 15 BauO NRW ermöglicht also aus Gründen des Bestandsschutzes die Genehmigung der Änderung bestehender Gebäude auch dann, wenn sie nach geltendem Recht mit bauordnungsrechtlichen Abstandvorschriften nicht vereinbar sind, nämlich größere als die vorhandenen Tiefen der Abstandflächen fordern. Die Voraussetzungen der Vorschrift für eine Genehmigung der Änderung liegen hier jedoch nicht vor, weil die Beigeladenen das bestehende Gebäude baulich verändert haben und diese Änderung nicht geringfügig ist.

Es kann hier dahin stehen, ob erhebliche bauliche Änderungen allein im Inneren des Gebäudes, die dessen Außenmaße unberührt lassen und auf die durch die Abstandregelungen geschützten Belange keinen Einfluss haben, als im Sinne des Gesetzes noch geringfügig anzusehen sind. Dieser Fall liegt hier nicht vor, weil die Errichtung des Satteldaches sich unstreitig auf die Besonnung des Grundstücks der Antragsteller und damit auf einen durch das Abstandrecht geschützten Belang auswirkt.

Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass gem. § 6 Abs. 4 Satz 5 BauO NRW die Höhe von Dächern mit einer Dachneigung von nicht mehr als 45° bei der Ermittlung der Tiefe der Abstandfläche unberücksichtigt bleibt. § 6 Abs. 15 BauO NRW regelt - wie dargelegt - Fallgestaltungen, in denen das bestehende Gebäude die - an sich - erforderliche Abstandfläche nicht einhält. § 6 Abs. 4 Satz 5 BauO NRW regelt dagegen die Berechnung der erforderlichen Abstandfläche bei der offenen Bauweise. Hier verlangt das Gesetz einen Mindestabstand, der nach der Entscheidung des Gesetzes auch bei Dächern bis zu einer Dachneigung von 45° die nachbarlichen Belange hinreichend schützt.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1.9.1988 - 7 B 2106/88 -.

Dieser Schutz ist in den Fällen des § 6 Abs. 15 BauO NRW aber gerade nicht gegeben, so dass für die Auslegung dieser Norm die in § 6 Abs. 4 Satz 5 BauO NRW für dessen Anwendungsbereich normierte abstandrechtliche Irrelevanz des Daches der Beigeladenen keine Bedeutung hat.

Die durch die Baugenehmigungen erlaubten baulichen Veränderungen sind nicht geringfügig, auch wenn Länge und Höhe der dem Grundstück der Antragsteller zugekehrten Wand nicht verändert sind.

Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist jede Veränderung einer Grenzwand der genannten Art nicht als geringfügig anzusehen. Daraus kann jedoch nicht im Umkehrschluss geschlossen werden, eine bauliche Änderung ohne Veränderung von Länge und Höhe der maßgebenden Wand sei stets geringfügig. Für eine derartige Auslegung gibt das Gesetz nichts her. Die Norm schließt lediglich von vornherein aus, eine Änderung auch dann noch als geringfügig anzusehen, wenn die genannten Wandmaße verändert werden.

Wo die Grenze zwischen einer geringfügigen und einer nicht mehr geringfügigen Änderung liegt, legt das Gesetz nicht fest. Die Frage ist nach den Umständen des Einzelfalles zu beantworten. Abgesehen von den Fällen, in denen durch die Änderung praktisch ein neues Gebäude, ein "aliud" entsteht, ist Maßstab dafür jedenfalls auch die Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes, wie es sich für den Nachbarn darstellt, denn § 6 Abs. 15 BauO NRW ist eine Regelung des auch dem Schutz der Nachbarn dienenden Abstandrechts. Hier sehen sich die Antragsteller nicht mehr - wie bisher - einem 3,75 m hohen, sondern einem 6 m hohen grenzständigen Gebäude gegenüber, auch wenn dessen höchster Punkt nunmehr 2,50 m von der Grenze abgerückt ist. Das ursprüngliche Gebäude ist damit um mehr als die Hälfte erhöht. Eine derartige bauliche Veränderung, die fast ein zweites Geschoss mit Aufenthaltsräumen erlaubt, kann nicht mehr als geringfügig angesehen werden.

Liegen somit bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 Abs. 15 BauO NRW nicht vor, braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob nicht auch die Würdigung der nachbarlichen Belange eine Gestattung geringerer Tiefen der Abstandflächen ausschließt.



Ende der Entscheidung

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