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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 18.04.2002
Aktenzeichen: 7 B 326/02
Rechtsgebiete: VwVfG, BauNVO 1977


Vorschriften:

VwVfG § 48 Abs. 1
BauNVO 1977 § 8
1. Wird eine Baugenehmigung mit der Begründung zurückgenommen, sie sei von Anfang an rechtswidrig gewesen, ist mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon auszugehen, dass die Rücknahme "ex tunc" erfolgt ist; dies gilt umso mehr, wenn die Rücknahme veranlasst ist durch einen Nachbarwiderspruch, der als begründet gewertet wird.

2. In Gewerbegebieten nach § 8 BauNVO 1977 sind kerngebietstypische Vergnügungsstätten (hier: Diskothek mit überörtlichem Einzugsbereich) nicht allgemein zulässig.

3. In demselben Gewerbegebiet Ansässigen stehen gegen eine solche Diskothek auf Grund ihres Gebietsgewährleistungsanspruchs Abwehrrechte zum Schutz ihrer genehmigten Nutzung (Gewerbe oder betriebsbezogenes Wohnen) zu.


Tatbestand:

Der Antragsteller begehrte einstweiligen Rechtsschutz gegen die für sofort vollziehbar erklärte Rücknahme einer Baugenehmigung. Das VG gab dem Antrag mit der Begründung statt, die Rücknahme sei offensichtlich rechtswidrig, weil sie unbestimmt und ermessensfehlerhaft sei; sie lasse nicht erkennen, ob sie ex tunc oder ex nunc ausgesprochen sei. Das OVG gab der Beschwerde des Antragsgegners statt.

Gründe:

Der Antragsgegner hat hinreichende Gründe dargetan, aus denen die angefochtene Entscheidung abzuändern ist.

Gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO - hier maßgeblich in der Fassung des Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom 20.12.2001 (BGBl. I S. 3987); VwGO n.F. - hat der Beschwerdeführer die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander zu setzen. Satz 6 der angeführten Vorschrift schreibt ferner ergänzend vor, dass das Oberverwaltungsgericht nur die dargelegten Gründe prüft. Diese Regelungen sind dahin zu verstehen, dass sie den Beschwerdeführer dazu veranlassen sollen, alle aus seiner Sicht gegen die erstinstanzliche Entscheidung sprechenden Gesichtspunkte innerhalb der Monatsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO n.F. vorzutragen, und insoweit den Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts einschränken. Dieses soll bei seiner zunächst vorzunehmenden Prüfung, ob die erstinstanzliche Entscheidung des VG Bedenken unterliegt, auf die Gesichtspunkte beschränkt sein, die mit der Beschwerde fristgerecht vorgetragen sind.

Vgl. hierzu im Einzelnen: OVG NRW, Beschluss vom 18.3.2002 - 7 B 315/02 - zur Veröffentlichung vorgesehen.

Diesen Anforderungen wird das vom Antragsgegner (= Beschwerdeführer) innerhalb der Monatsfrist Vorgetragene in jeder Hinsicht gerecht.

Das VG hat seine dem Antrag stattgebende Entscheidung ausschließlich damit begründet, dem von der Antragstellerin angegriffenen Rücknahmebescheid fehle die erforderliche ausdrückliche Bestimmung über die zeitliche Wirkung der Rücknahme, sodass der Bescheid schon deshalb nicht hinreichend bestimmt und ermessensfehlerhaft sei. Hiergegen wendet sich die Beschwerde zu Recht.

Wird - wie im vorliegenden Fall - eine Baugenehmigung mit der Begründung zurückgenommen, sie sei von Anfang an rechtswidrig gewesen, ist mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon auszugehen, dass die Rücknahme "ex tunc" erfolgt ist. Ohne entsprechende Verlautbarungen im Tenor oder der Begründung der Entscheidung über die Rücknahme einer Baugenehmigung kann nicht davon ausgegangen werden, die Baugenehmigungsbehörde wollte einer von Anfang an rechtswidrigen Baugenehmigung für einen begrenzten Zeitraum - bis zum Zeitpunkt der ausgesprochenen Rücknahme - eine Wirksamkeit belassen. Dies gilt namentlich dann, wenn - wie hier - die Ausnutzung der Baugenehmigung mit baulichen Aktivitäten verbunden ist. Im vorliegenden Fall spricht für ein entsprechendes Verständnis der Rücknahmeentscheidung neben den Ausführungen im Tenor des Bescheides, dass "die Zulassung dem geltenden Recht widersprach und noch widerspricht", auch die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Rücknahmebescheids, nach der es mit der sofortigen Vollziehung darum gehe zu verhindern, dass "baurechtswidrige Zustände verfestigt" würden.

Schließlich war die Rücknahmeentscheidung veranlasst durch einen Nachbarwiderspruch, den der Antragsgegner nach entsprechenden Hinweisen der Widerspruchsbehörde als begründet gewertet hat. Die Ausgangsbehörde - hier der Antragsgegner - kann aus ihrer Sicht gute Gründe haben, sich auch im Falle eines zulässigen und begründeten Widerspruchs dafür zu entscheiden, einen von ihr erlassenen begünstigenden Verwaltungsakt nicht durch Abhilfe, sondern durch Rücknahme aufzuheben und damit in dieser Weise die ursprüngliche Rechtslage herzustellen.

Vgl.: BVerwG, Urteil vom 18.4.1996 - 4 C 6.95 - NVwZ 1997, 272 (273).

Mit der Rücknahme sollte hier daher offensichtlich vermieden werden, dass dem Widerspruch mit der Folge stattzugeben war, dass die Baugenehmigung mit Wirkung "ex tunc" aufgehoben würde. In dieser Situation ist kein Anhalt dafür ersichtlich, dass der Antragsgegner als Bauaufsichtsbehörde mit seiner Entscheidung, von sich aus der angenommenen Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung Rechnung zu tragen, eine andere Rechtsfolge beabsichtigt hätte, als sie bei einem erfolgreichen Nachbarwiderspruch eingetreten wäre.

Erweist sich nach alledem, dass die angefochtene Entscheidung des VG fristgerecht mit zutreffenden Gründen in Frage gestellt wurde, ist der Senat durch § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO n.F. allerdings nicht gehindert, in eine an den für das hier in Rede stehende Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes einschlägigen Maßstäben ausgerichtete Prüfung des dem VG unterbreiteten und im Beschwerdeverfahren - mit ergänzender Begründung des Antragstellers - weiterverfolgten Antragsbegehrens einzutreten.

Vgl. auch hierzu im Einzelnen: OVG NRW, Beschluss vom 18.3.2002 - 7 B 315/02 - zur Veröffentlichung vorgesehen.

Diese Prüfung führt zu dem Ergebnis, dass die Beschwerde in der Sache Erfolg hat. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes war abzulehnen, weil bei der hier nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung überwiegend wahrscheinlich ist, dass der angegriffene Rücknahmebescheid einschließlich der ausgesprochenen Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtmäßig ist.

Die Rücknahmeentscheidung des Antragsgegners ist tragend auf folgende Erwägungen gestützt:

- Das Grundstück, auf dem die Nutzung der Diskothek stattfinden solle, sei im Bebauungsplan als Gewerbegebiet ausgewiesen.

- Bei der Diskothek handele es sich um eine kerngebietstypische Diskothek, die nach der Rechtsprechung des BVerwG in einem Gewerbegebiet unzulässig sei.

- Die hiernach rechtswidrige Baugenehmigung für die Diskothek sei zurücknehmen, da anlässlich eines Nachbarwiderspruchs von der Bezirksregierung festgestellt worden sei, dass die Widerspruchsführerin einen Rechtsanspruch auf Wahrung der Gebietsart hätte, und deshalb dem öffentlichen Interesse an der Wahrung baurechtsgemäßer Zustände Vorrang vor dem auf Bestand der erteilten Genehmigung gerichteten Interesse der Antragstellerin einzuräumen sei; die Rücknahme der widerrechtlich erteilten Baugenehmigung sei "unumgänglich".

Diese Erwägungen, die durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräftet werden, vermögen die ausgesprochene Rücknahme der Baugenehmigung ersichtlich zu stützen.

Der Einwand der Antragstellerin, der Bebauungsplan sei "mangels Bezugs zur städtebaulichen Entwicklung und Ordnung nichtig", geht ebenso fehl wie ihr Einwand, der Plan sei funktionslos geworden. (wird ausgeführt)

Mit dem weiteren Einwand, die strittige Diskothek der Antragstellerin sei in einem Gewerbegebiet ausnahmsweise zulässig, verkennt die Beschwerde die einschlägige Rechtsprechung des BVerwG. Dieses hat in seiner im Rücknahmebescheid des Antragsgegners ausdrücklich in Bezug genommenen Entscheidung - vgl.: BVerwG, Urteil vom 24.2.2000 - 4 C 23.98 - BRS 63 Nr. 80 = NVwZ 2000, 1054 = BauR 2000, 1306 - die Zulässigkeit von Diskotheken als kerngebietstypischen Vergnügungsstätten nicht nur für Industriegebiete verneint, weil sie keine "sonstigen Gewerbebetriebe" seien, sondern - bezogen auf die nach Aktenlage hier einschlägige Baunutzungsverordnung 1977 - ausdrücklich ausgeführt (Unterstreichungen durch den Senat):

"Maßgeblich ist vielmehr, ob bei typisierender Betrachtung kerngebietstypische Vergnügungsstätten mit der Zweckbestimmung des Industriegebiets vereinbar sind. Diese Frage ist - ebenso wie für das Misch- und Gewerbegebiet - zu verneinen."

Maßgeblich hierfür ist die Erwägung, dass Kerngebiete zentrale Funktionen haben. Sie bieten vielfältige Nutzungen und ein urbanes Angebot an Gütern und Dienstleistungen für die Besucher der Stadt und die Wohnbevölkerung eines größeren Einzugsbereichs, gerade auch im Bereich von Kultur und Freizeit. In den Kerngebieten sollen deshalb auch Vergnügungsstätten konzentriert sein. Sie sollen nicht in die regelmäßig am Rande gelegenen und für größere Besucherzahlen nicht erschlossenen Industriegebiete abgedrängt werden; für Erholung und Vergnügen sind Industriegebiete nicht bestimmt. Dies gilt auch für Gewerbegebiete nach § 8 BauNVO 1977, in denen kerngebietstypische Vergnügungsstätten nicht allgemein zulässig sind.

Vgl.: BVerwG, Beschluss vom 28.7.1988 - 4 B 119.88 - BRS 48 Nr. 40.

bei der Diskothek "b." handelt es sich um eine Vergnügungsstätte mit offensichtlich überörtlichem Einzugsbereich, wie schon aus den bei den Akten befindlichen werbenden Aussagen folgt (wird ausgeführt).

Auf die hiernach offensichtlich zu bejahende Unvereinbarkeit der strittigen Diskothek mit dem festgesetzten Gewerbegebiet kann sich die widersprechende Bewohnerin desselben Gebiets ersichtlich auch berufen.

Soweit die Antragstellerin die Widerspruchsbefugnis der Widerspruchsführerin in Frage stellt, vermag dieser Vortrag allein den vom Antragsgegner nach entsprechenden Hinweisen der Bezirksregierung angenommenen Gebietsgewährleistungsanspruch nicht in Frage zu stellen.

Zwar kann ein Schutz für eine eigene unzulässige Nutzung nicht verlangt werden. Die Antragstellerin trägt jedoch noch nicht einmal schlüssig vor, die tatsächliche Nutzung der Widerspruchsführerin sei unzulässig. Selbst wenn dem so wäre, ließe sich hieraus allein ein fehlender Gebietsgewährleistungsanspruch nicht herleiten. Im Gewerbegebiet ist jedenfalls betriebsbezogenes Wohnen i.S.v. § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO ausnahmsweise zulässig. Wenn der Inhaber einer Werkswohnung gegenüber Nutzungen, die im Gewerbegebiet unzulässig sind, einen Gebietsgewährleistungsanspruch geltend macht, so ist grundsätzlich davon auszugehen, dass es ihm jedenfalls um den Schutz der genehmigten - gewerblichen bzw. betriebsbezogenen - Nutzung geht.

Vgl. auch hierzu: BVerwG, Urteil vom 24.2.2000, a.a.O.

Konnte der Antragsgegner nach summarischer Prüfung damit von einem durch die strittige Diskothek verletzten Gebietsgewährleistungsanspruch der Widerspruchsführerin ausgehen, war er in der Tat auch gehalten, an Stelle einer sonst erforderlichen, dem Widerspruch stattgebenden Widerspruchsentscheidung die Rücknahme der rechtswidrigen Baugenehmigung "ex tunc" auszusprechen. Für Ermessensfehler ist bei dieser Sachlage nichts ersichtlich.

Ende der Entscheidung

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