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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 07.10.2009
Aktenzeichen: 8 B 1433/09.A
Rechtsgebiete: AsylVfG, Dublin II-VO, Verordnung (EG) Nr. 343/2003, GG


Vorschriften:

AsylVfG § 27a
AsylVfG § 34a
Dublin II-VO
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 Art. 3
GG Art. 100
Der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes durch § 34a Abs. 2 AsylVfG ist im Anwendungsbereich des § 27a AsylVfG verfassungsrechtlich nicht unproblematisch (wie BVerfG, Beschluss vom 8.9.2009 - 2 BvQ 56/09 -).

In Griechenland liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Asylverfahrenspraxis nicht an den Standard heranreichen, den der nationale Gesetzgeber bei Einfügung des § 27a AsylVfG vor dem Hintergrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) bei dem EG-Mitgliedstaat, der nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (sog. Dublin II-VO) zuständig ist, als gegeben vorausgesetzt hat.


Tatbestand:

Der aus Eritrea stammende Antragsteller stellte im Bundesgebiet einen Asylantrag. Während des Verfahrens stellte sich heraus, dass er zuvor bereits in Griechenland einen entsprechenden Antrag gestellt hatte. Daraufhin ordnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durch Bescheid vom 14.5.2008 seine Abschiebung nach Griechenland an. Dagegen erhob der Antragsteller Klage, die das VG abwies. Nachdem der Antragsteller vorübergehend untergetaucht, in Österreich festgenommen und wieder in das Bundesgebiet zurückgekehrt war, wurde die Abschiebung für den 8.10.2009 angesetzt. Zwischenzeitlich hatte das OVG die Berufung des Antragstellers gegen das klageabweisende Urteil des VGs wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Der gegen die bevorstehende Abschiebung am 5.10.2009 erhobene Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hatte Erfolg.

Gründe:

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.

Dem steht nicht entgegen, dass gemäß § 34a Abs. 2 AsylVfG die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) nach 34a Abs. 1 AsylVfG nicht im Wege einstweiligen Rechtsschutzes (§ 80 oder § 123 VwGO) ausgesetzt werden darf. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 34a Abs. 2 AsylVfG liegen allerdings vor. Die Antragsgegnerin sieht den im Bundesgebiet gestellten Asylantrag des Antragstellers nach § 27a AsylVfG als unzulässig an, weil auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft - hier der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 (ABl. L 50/1 vom 25.2.2003), sog. Dublin II-VO - ein anderer Staat, nämlich Griechenland, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Der Antragsteller soll deshalb nach Griechenland abgeschoben werden; Griechenland hat sich auch zur Übernahme des Antragstellers bereit erklärt. Zugleich ist Griechenland gemäß § 26a Abs. 2 AsylVfG als Mitgliedstaat der Europäischen Union sicherer Drittstaat.

1. Der im Wortlaut des § 34a Abs. 2 AsylVfG zum Ausdruck gekommene generelle Ausschluss einstweiligen Rechtsschutzes ist verfassungsrechtlich zweifelhaft. Wie das BVerfG bereits in Bezug auf die Drittstaatsregelung in § 26a AsylVfG entschieden hat, bedarf die Regelung einer "sinnentsprechenden restriktiven Auslegung".

Vgl. BVerfG, Urteil vom 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93 u.a. -, BVerfGE 94, 49 = juris, Rn. 233.

Danach kann die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes trotz der Ausschlussregelung in § 34a Abs. 2 AsylVfG in gewissen Sonderfällen gleichwohl statthaft und geboten sein, etwa wenn sich die für die Qualifizierung als "sicher" maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG hierauf noch aussteht, wenn der Drittstaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) greift und dadurch zum Verfolgerstaat wird oder wenn sich der Drittstaat - etwa aus Gründen besonderer politischer Rücksichtnahme gegenüber dem Herkunftsstaat - von seinen rechtlichen Verpflichtungen löst und einem bestimmten Ausländer Schutz dadurch verweigert, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen wird.

Verfassungsrechtlich nicht unproblematisch ist der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes durch § 34a Abs. 2 AsylVfG auch in dem hier maßgeblichen Anwendungsbereich des § 27a AsylVfG. Nach Auffassung des BVerfG besteht Anlass zur Untersuchung, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 16a Abs. 2 Sätze 1 und 3 GG für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung bei der Anwendung von § 34a Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der Dublin II-VO zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften ist. Einer diesbezüglich erhobenen Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 8.9.2009 - 2 BvQ 56/09 - Erfolgsaussichten nicht abgesprochen und daraufhin mit Blick auf die im Falle einer Abschiebung nach Griechenland unter Berufung auf "ernst zu nehmende Quellen" zu befürchtenden Rechtsbeeinträchtigungen die Abschiebung eines Asylbewerbers untersagt.

Ob hiervon ausgehend (nur) eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung des - den Rechtsschutz in Fällen der vorliegenden Art ausschließenden - § 34a Abs. 2 AsylVfG in Betracht kommt (dazu 3.) oder gegebenenfalls auch eine Verfassungswidrigkeit dieser Norm in Frage steht (dazu 2.) , kann der Senat offen lassen. In beiden Fällen ist dem Antragsteller einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren.

2. Soweit die Verfassungsmäßigkeit des § 34a Abs. 2 AsylVfG in Frage steht, ist der Senat nicht durch Art. 100 Abs. 1 GG gehindert, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren.

Das dem BVerfG vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zwar zur Folge, dass ein Gericht Folgerungen aus der Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes jedenfalls im Hauptsacheverfahren erst nach deren Feststellung durch das BVerfG ziehen darf. Die Fachgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.6.1982 - 1 BvR 1028/91 -, BVerfGE 86, 382 (389).

Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vor.

a) Wirksamkeit und Anwendungsbereich des § 34a Abs. 2 AsylVfG sind im vorliegenden Fall für die Entscheidung über das Rechtsschutzgesuch entscheidungserheblich. Wäre ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO entgegen § 34a Abs. 2 AsylVfG statthaft, wäre er auch begründet, weil schon vor dem Hintergrund der Entscheidung des BVerfG vom 8.9.2009 ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen. Im Hinblick auf die im Hauptsacheverfahren 8 A 1789/09.A aufgeworfenen grundsätzlichen Rechts- und Tatsachenfragen hat der Senat die Berufung des Klägers durch Beschluss vom 30.9.2009 zugelassen.

b) Der Erlass der einstweiligen Anordnung ist zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich. Im Falle einer Rückführung des Antragstellers nach Griechenland drohen ihm Rechtsbeeinträchtigungen, die die Durchführbarkeit des Hauptsacheverfahrens gefährden und zudem während und nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht mehr verhindert bzw. rückgängig gemacht werden können.

Die Antragsgegnerin geht selbst davon aus, dass es in Griechenland Defizite bei der Bereitstellung ausreichender Unterbringungskapazitäten für Flüchtlinge gibt, und zwar gerade auch im Hinblick auf die Unterbringung von sogenannten Dublin-Rückkehrern. Den festgestellten Kapazitätsengpässen trägt die Ermessenspraxis der Antragsgegnerin bislang - lediglich - dadurch Rechnung, dass bei besonders schutzwürdigen Personen von Überstellungen nach Griechenland im Zweifel abgesehen und von dem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch gemacht wird. Das gilt insbesondere für Flüchtlinge hohen Alters, für minderjährige Flüchtlinge sowie für Flüchtlinge, bei denen eine Schwangerschaft, ernsthafte Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder besondere Hilfebedürftigkeit vorliegt.

Entgegen dem Vortrag der Antragsgegnerin liegen darüber hinaus ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass auch die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die Verfahrenspraxis in Griechenland nicht an den Standard heranreichen, den der nationale Gesetzgeber bei Einfügung des § 27a AsylVfG mit Wirkung zum 28.8.2007 vor dem Hintergrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2004/83/EG,

Richtlinie des Rates vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. vom 30.9.2004, L 304/12, nachfolgend: RL 2004/83/EG, sog. Qualifikationsrichtlinie, bei dem EG-Mitgliedstaat, der nach der Dublin II-VO zuständig ist, als gegeben vorausgesetzt hat und - nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Qualifikationsrichtlinie am 10.10.2006 (vgl. deren Art. 38 Abs. 1) - voraussetzen durfte.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), dessen Stellungnahmen nach Erwägungsgrund 15 der Qualifikationsrichtlinie ein besonderes Gewicht zukommt, hat in mehreren Memoranden Rechtsgrundlagen und Praxis griechischer Asylverfahren als unzureichend kritisiert. Zuletzt hat er am 17.7.2009 erklärt, sich zukünftig nicht mehr an Asylverfahren in Griechenland zu beteiligen, solange nicht durch strukturelle Änderungen faire und effiziente Asylverfahren garantiert seien. Zur Begründung hat er ausgeführt, er stelle mit großer Sorge fest, dass die durch den neuen Präsidialerlass Nr. 81/2009 vom 30.6.2009 mit Wirkung ab dem 20.7.2009 eingeführten strukturellen Änderungen die vom internationalen und europäischen Recht geforderte Fairness und Effizienz des Asylverfahrens in Griechenland nicht ausreichend garantierten. Insbesondere sei das - gemeinschaftsrechtlich gebotene - Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht gewährleistet.

Der Vortrag der Antragsgegnerin stellt diese fachkundige Einschätzung nicht substantiiert in Frage.

Es ist im Übrigen auch weder ersichtlich, dass und ggf. wie sich die danach im Falle einer Rückführung nach Griechenland zu befürchtenden unzumutbaren Beeinträchtigungen im Kontakt zwischen deutschen und griechischen Behörden ausräumen lassen, noch dass die Antragsgegnerin zu diesbezüglichen diplomatischen Bemühungen bereit wäre.

Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes - bereits - im vorliegenden Verfahren ist zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes auch deshalb geboten, weil wegen des unmittelbar bevorstehenden Abschiebungstermins am 8.10.2009 nicht mehr sichergestellt ist, dass der Antragsteller seine drohende Abschiebung noch rechtzeitig durch Anrufung des BVerfG verhindern könnte.

c) Der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes steht hier nicht entgegen, dass die Hauptsacheentscheidung durch die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes möglicherweise vorweggenommen wird. Diesem Erfordernis kommt unter dem Aspekt des Verwerfungsmonopols nach Art. 100 GG deshalb ein geringeres Gewicht im vorliegenden Fall zu, weil das BVerfG selbst für die vorliegende Fallkonstellation (Abschiebung nach Griechenland) bereits in einem Parallelfall angeordnet hat, eine Abschiebungsanordnung vorläufig nicht zu vollziehen.

3. Näher liegt es, dass die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes auch im Anwendungsbereich des § 27a AsylVfG deshalb statthaft ist, weil § 34a Abs. 2 AsylVfG in Fortführung der in dem Urteil des BVerfG vom 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93 u. a. -, BVerfGE 94, 49, aufgestellten Grundsätze verfassungskonform einschränkend auszulegen sein dürfte.

Das vom BVerfG gewürdigte Konzept der normativen Vergewisserung betrifft die Anwendungsfälle des § 26a AsylVfG und berücksichtigt die durch § 26a Abs. 3 AsylVfG eingeräumte Befugnis zur Bezeichnung sicherer Drittstaaten. Ausgehend von einer bewussten Entscheidung des Gesetz- bzw. Verordnungsgebers, einen Staat als sicheren Staat einzuordnen, bedarf es konkreter Anhaltspunkte dafür, dass sich die Lage nachträglich in erheblicher Weise verschlechtert hat, um gleichwohl Rechtsschutz zu gewähren. Hiervon unterscheidet sich der Anwendungsbereich des § 27a AsylVfG. Nach dieser Regelung ist ein (im Bundesgebiet gestellter) Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags zuständig ist. Die Zuständigkeit des anderen EU-Mitgliedstaates ergibt sich aus der Verordnung (EG) Nr. 343/2003. Die hiernach anderen Mitgliedstaaten überlassene Zuständigkeit für die Durchführung eines Asylverfahrens beruht mithin nicht auf einer Bewertung des Ist-Zustandes durch den deutschen Gesetz- bzw. Verordnungsgeber, sondern auf der Prognose, dass in den EG-Mitgliedstaaten ein in verfahrensrechtlicher und materieller Hinsicht hinreichender Schutz gewährt wird. Trifft diese Annahme im Einzelfall nicht zu, ist das Konzept der normativen Vergewisserung nicht berührt. Der deutsche Gesetz- und Verordnungsgeber kann aufgrund der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben einzelne EU-Mitgliedstaaten nicht durch generelle nationale Regelungen vom Anwendungsbereich der Dublin II-VO ausschließen. Einer unzureichenden Umsetzung der materiellen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben durch andere, nach der Dublin II-VO zuständige Mitgliedstaaten kann er - auch wenn es sich um einen Dauerzustand handelt - nur durch Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin II-VO Rechnung tragen.

Dies zugrunde gelegt ist auch bei verfassungskonformer einschränkender Auslegung des § 34a Abs. 2 AsylVfG einstweiliger Rechtsschutz aus den unter 2. a), b) und c) dargelegten Gründen zu gewähren.

Ende der Entscheidung

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