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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 16.12.2008
Aktenzeichen: VerfGH 12/08
Rechtsgebiete: KWahlG


Vorschriften:

KWahlG § 33 Abs. 2
KWahlG § 33 Abs. 3 Satz 1
1. Die Einführung des Divisorverfahrens mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers anstelle des Proportionalverfahrens nach Hare/Niemeyer für die Berechnung und Verteilung von Mandaten im Verhältnisausgleich nach dem nordrhein-westfälischen Kommunalwahlgesetz (§ 33 Abs. 2 KWahlG) unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

2. Die in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG geregelte Modifizierung im Berechnungssystem nach Sainte-Laguë/Schepers, wonach Parteien und Wählergruppen bei der Sitzzuteilung unberücksichtigt bleiben, die nach § 33 Abs. 2 KWahlG nicht mindestens eine Zahl von 1,0 für einen einzigen Sitz erreichen, bedarf eines besonderen, sachlich legitimierten, "zwingenden" Grundes.

3. Beruft sich der nordrhein-westfälische Gesetzgeber zur Rechtfertigung der Modifizierung auf die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen (Rat und Kreistage), gelten die Maßgaben aus dem Urteil des VerfGH NRW vom 6.7.1999 (VerfGH 14/98, 15/98 - 5 v.H.-Sperrklausel) entsprechend.


Tatbestand:

Die Antragstellerin wandte sich im Organstreitverfahren dagegen, dass der Antragsgegner (Landtag Nordrhein-Westfalen) im Zuge der Änderung des Kommunalwahlgesetzes vom Oktober 2007 eine Regelung eingefügt hatte, wonach Parteien oder Wählergruppen bei der Verteilung von Mandaten im Verhältnisausgleich unberücksichtigt blieben, die nicht mindestens eine Zahl von 1,0 für einen einzigen Sitz erreichten. Der Antrag hatte Erfolg.

Gründe:

A.

Der Antrag ist gemäß Art. 75 Nr. 2 LV, § 12 Nr. 5, §§ 43 ff. VerfGHG zulässig.

I.

Die Antragstellerin kann als Landesverband einer politischen Partei Beteiligte eines Organstreitverfahrens sein (vgl. VerfGH NRW, OVGE 44, 301 <303>; OVGE 47, 304 <305>; OVGE 49, 290, jeweils m. w. N.).

II.

Die Antragstellerin ist gemäß § 44 Abs. 1 VerfGHG antragsbefugt. Sie kann geltend machen, sie sei durch ein Verhalten des Antragsgegners in den ihr durch die Landesverfassung übertragenen Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet.

1. Zum verfassungsrechtlichen Status der politischen Parteien gehört zum einen ihr Recht auf Chancengleichheit bei Wahlen. Der Grundsatz der Chancengleichheit für Wahlbewerber findet für politische Parteien seine Grundlage in Art. 21 Abs. 1 GG, dessen Grundsätze als Landesverfassungsrecht unmittelbar auch in den Ländern gelten (vgl. VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <305> m. w. N.). Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit ergibt sich aus der Bedeutung, die der Freiheit der Parteigründung und dem Mehrparteienprinzip für die freiheitliche Demokratie zukommt, und aus dem vom Grundgesetz gewollten freien und offenen Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes (vgl. BVerfG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <409>; VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <305>; Beschluss vom 23.7.2002 - VerfGH 2/01 -, NWVBl. 2003, 12, jeweils m. w. N.). Der Grundsatz der Chancengleichheit verlangt, dass jeder Partei, jeder Wählergruppe und ihren Wahlbewerbern grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden (BVerfG, a. a. O.).

Zum verfassungsrechtlichen Status der politischen Parteien gehört zum anderen ihr Recht auf Wahlrechtsgleichheit. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl wird ebenso wie die anderen Wahlrechtsgrundsätze im Bereich der Länder und Gemeinden durch Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet. Der Grundsatz der Wahlgleichheit ist zudem Ausprägung des Demokratieprinzips, das auf der Ebene des Landesverfassungsrechts durch Art. 2 LV garantiert ist (vgl. VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <305 f.>; Beschluss vom 23.7.2002 - VerfGH 2/01 -, NWVBl. 2003, 12). Der Grundsatz der gleichen Wahl sichert - gemeinsam mit dem Grundsatz der allgemeinen Wahl - die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger. Er gebietet, dass alle Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können. Daraus folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss (vgl. BVerfG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <408> m.w.N).

2. Nach dem Antragsvorbringen besteht die Möglichkeit, dass der Antragsgegner mit der Normierung einer rechnerischen Mindestsitzzahl in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG die Rechte der Antragstellerin auf Wahlgleichheit und Chancengleichheit im politischen Wettbewerb verletzt hat. Die Antragstellerin hat hinreichend dargelegt, dass die Regelung eine Hürde für die Berücksichtigung bei der Sitzverteilung aufstellt und ihre Wahlchancen beeinträchtigen kann.

III.

Die Antragsfrist des § 44 Abs. 3 VerfGHG ist eingehalten. Die Sechsmonatsfrist begann mit der Verkündung des Gesetzes zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes am 16.10.2007. Damit galt die angegriffene Rechtsnorm als allgemein bekannt geworden (vgl. BVerfGE 114, 107 <115 f.> m. w. N., zu der gleichlautenden Fristregelung für den bundesrechtlichen Organstreit in § 64 Abs. 3 BVerfGG). Der am 8.4.2008 bei Gericht eingegangene Antrag ist somit rechtzeitig gestellt.

B.

Der Antrag ist begründet. Der Antragsgegner hat das Recht der Antragstellerin auf Gleichheit der Wahl und auf Chancengleichheit als politische Partei dadurch verletzt, dass er durch das Gesetz zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes vom 9.10.2007 (GV. NRW. S. 374) in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG Parteien oder Wählergruppen bei der Sitzzuteilung unberücksichtigt lässt, die nach § 33 Abs. 2 KWahlG nicht mindestens eine Zahl von 1,0 für einen einzigen Sitz erreichen. Die dadurch bewirkte Ungleichgewichtung der Wählerstimmen ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Hinreichende Gründe, die diese Differenzierung beim Erfolgswert erforderlich machen, hat der Antragsgegner weder im Gesetzgebungsverfahren noch im Verfahren vor dem VerfGH dargelegt.

I.

1. Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 GG ist ebenso wie der Grundsatz der gleichen Wahl aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG wegen des Zusammenhangs mit dem egalitären demokratischen Prinzip im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit zu verstehen (BVerfG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <408, 409> m. w. N.). Der Grundsatz der Wahlgleichheit erfordert bei der Verhältniswahl grundsätzlich, jeder Wählerstimme den gleichen Erfolgswert beizumessen. Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien und Wählergruppen in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind. Dem Gesetzgeber verbleibt für Differenzierungen nur ein eng bemessener Spielraum. Entsprechendes folgt aus dem Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien. Regelt der Gesetzgeber den Bereich der politischen Willensbildung bei Wahlen in einer Weise, welche die Chancengleichheit der politischen Parteien und Wählervereinigungen verändern kann, sind seinem Gestaltungsspielraum besonders enge Grenzen gezogen (BVerfG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <408, 409>; Urteil vom 3.7.2008 - 2 BvC 1/07 u. a. -, DVBl. 2008, 1045 <1046> m. w. N.).

2. Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung in diesem Bereich zulässig ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. Danach bedürfen Differenzierungen zu ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten, "zwingenden" Grundes. Hierzu zählt insbesondere die Verwirklichung der mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehören die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (BVerfG, Urteil vom 13.2.2008

- 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <409>; Urteil vom 3.7.2008 - 2 BvC 1/07 u. a. -, DVBl. 2008, 1045 <1046>, jeweils m. w. N.).

Differenzierende Regelungen müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Der Gesetzgeber darf sich bei seiner Einschätzung und Bewertung nicht von abstrakt konstruierten Fallgestaltungen leiten lassen. Er muss sich vielmehr an der politischen Wirklichkeit orientieren (BVerfG, a. a. O.).

3. a) Die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen bei der Verhältniswahl verlangt nicht, dass sich - bei einer ex-post-Betrachtung - für jeden Wähler die ihm gewährleistete gleiche Erfolgschance auch als exakt "verhältnismäßiger" Stimmerfolg realisiert haben muss. Bei jedem Sitzberechnungsverfahren bleiben zwangsläufig Reststimmen unberücksichtigt. Eine Auf- oder Abrundung zur nächsten ganzen Zahl von Sitzen ist danach unausweichliche Folge eines jeden Verteilungsverfahrens. Stehen verschiedene Berechnungssysteme zur Verfügung, von denen sich unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit keines als allein systemgerecht erweist, ist es der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, für welches Berechnungsverfahren er sich entscheidet. Die mit dem jeweiligen Verteilungsverfahren verbundenen systembedingten Differenzierungen im Erfolgswert der Stimmen sind grundsätzlich hinzunehmen (vgl. z. B. BVerfGE 79, 169 <170 f.>; BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 8.9.1994 - 2 BvR 1484/94 -, NVwZ-RR 1995, 213 <214>; BVerfG, Urteil vom 3.7.2008 - 2 BvC 1/07 u. a. -, DVBl. 2008, 1045 <1047>; BayVerfGH, Entscheidung vom 12.8.1994 - Vf. 6-IVb-94 -, BayVBl. 1994, 716 <718>).

b) Modifizierungen im Berechnungssystem sind zulässig, wenn sie sachlich gerechtfertigt sind.

Eine Modifizierung, die ihrerseits zu einer Erfolgswertungleichheit führt, erweist sich danach als verfassungskonform, soweit sie darauf zielt, eine im Berechnungsverfahren angelegte, aber über das Normalmaß hinausgehende Ungleichgewichtigkeit zu beseitigen. In einem solchen Fall zweier unvermeidbarer Ungleichgewichtigkeiten bei der Sitzverteilung ist es der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, für welche der beiden er sich entscheidet (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 8.9.1994 - 2 BvR 1484/94 -, NVwZ-RR 1995, 213 <214>; BVerwG, Urteil vom 29.11.1991 - BVerwG 7 C 13.91 -, NVwZ 1992, 488; Nds. StGH, Urteil vom 20.9.1977 - StGH 1/77 -, DVBl. 1978, 139 <145>).

Im Übrigen ist eine Modifizierung des Berechnungsverfahrens, die eine (zusätzliche) Erfolgswertungleichheit bewirkt, verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn dafür ein "zwingender" Grund (vgl. oben 2.) vorliegt. Auf Grund der besonders engen Grenzen, die dem Gesetzgeber bei der Beschränkung der Wahlrechts- und Chancengleichheit gezogen sind, unterliegt die Ausgestaltung von Wahlrechtsbestimmungen, die eine Zugangshürde für die Sitzverteilung nach dem Verhältnisausgleich begründen, generell einem Rechtfertigungsbedürfnis. Dementsprechend erstreckt sich das Erfordernis eines Rechtfertigungsgrundes nicht nur auf den Einsatz einer klassischen Sperrklausel (vgl. dazu zuletzt BVerfG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <411>), sondern gilt gleichermaßen für sonstige Regelungen im Sitzzuteilungsverfahren, die die Berücksichtigung einer Partei oder Wählergruppe beim Verhältnisausgleich von dem Erreichen eines Quorums der abgegebenen Wählerstimmen abhängig machen (vgl. BVerfGE 34, 81 <100 f.>).

4. a) Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, die Verwirklichung der mit der Wahl verfolgten Ziele mit dem Gebot der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit politischer Parteien zum Ausgleich zu bringen. Der Verfassungsgerichtshof hat diesen Spielraum zu achten. Er kann insbesondere nicht die Aufgabe des Gesetzgebers im Gesetzgebungsverfahren übernehmen und alle zur Überprüfung der in Rede stehenden Wahlrechtsbestimmung relevanten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte selbst ermitteln und gegeneinander abwägen (BVerfG, Urteil vom 13.2.2008

- 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <411>; VerfGH NRW, OVGE 44, 301 <312>; OVGE 47, 304 <308, 315>).

b) Die Ausgestaltung des Wahlrechts unterliegt einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle (BVerfG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <411>). Dem entspricht es, die Maßgaben, die der VerfGH als gerichtlichen Kontrollmaßstab in Bezug auf die Beibehaltung der 5 v.H.-Sperrklausel angelegt hat (vgl. OVGE 44, 301 <312 ff.>; OVGE 47, 304 <308 ff.>; ähnlich BVerfG, a. a. O., <411 ff.>), ebenso als Prüfungsmaßstab zugrunde zu legen, wenn es um die Einführung einer (sonstigen) Zugangshürde für die Sitzzuteilung beim Verhältnisausgleich geht.

c) Danach muss der Gesetzgeber für den Fall, dass er sich zur Rechtfertigung der Zugangshürde auf eine anderenfalls drohende Funktionsunfähigkeit der Kommunalvertretung beruft, für die dann zu erstellende Prognose alle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht relevanten Gesichtspunkte heranziehen und abwägen. Er darf sich nicht mit einer abstrakten, schematischen Beurteilung begnügen. Die Prognose muss vielmehr nachvollziehbar begründet und auf tatsächliche Entwicklungen gerichtet sein, deren Eintritt der Gesetzgeber ohne die in Rede stehende Wahlrechtsbestimmung konkret erwartet (VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <308 f.>).

Der Gesetzgeber darf nicht bei der Feststellung stehen bleiben, ohne die normierte Zugangshürde für die Sitzzuteilung begünstige das Verhältniswahlrecht das Aufkommen kleinerer Parteien und Wählergruppen. Nicht ausreichend ist die daran anknüpfende und durchaus plausible Erwägung, dass es in aller Regel zu einer schwerfälligeren Meinungsbildung führt, wenn in einer Kommunalvertretung ein erweiterter Kreis von Fraktionen und Gruppen mitwirkt. Diese Schwerfälligkeit in der Meinungsbildung darf der Gesetzgeber nicht mit einer Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit gleichsetzen. Vielmehr sind weitergehende Feststellungen zu treffen, bevor die Funktionsfähigkeit der kommunalen Vertretungskörperschaften als gefährdet angesehen werden kann. Denn Demokratie setzt das Aufeinandertreffen verschiedener Positionen und das Finden von Kompromissen voraus. Nicht jeder Konflikt und nicht jede politische Auseinandersetzung in den Kommunalvertretungen kann als Störung der Funktionsfähigkeit angesehen werden (VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <310>; BVerfG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <410>).

II.

Nach diesen Maßstäben ist der mit der Regelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG verbundene Eingriff in das Recht der Antragstellerin auf Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit nicht gerechtfertigt.

1. a) Die Regelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG bewirkt eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen. Während der Zählwert aller Wählerstimmen von der Bestimmung nicht berührt wird, werden die Stimmen in Bezug auf ihren Erfolgswert ungleich behandelt. Diejenigen Stimmen, die für eine Partei oder Wählergruppe abgegeben worden sind, die nach dem Sitzberechnungsverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers (vgl. § 33 Abs. 2 KWahlG, § 61 Abs. 4 der Kommunalwahlordnung) mehr als einen Sitz oder mindestens eine Zahl von 1,0 für einen einzigen Sitz erreichen, haben unmittelbaren Einfluss auf die Sitzverteilung nach dem Verhältnisausgleich. Dagegen bleiben diejenigen Wählerstimmen, die für eine Partei oder Wählergruppe abgegeben worden sind, die an dieser Zugangshürde scheitern, ohne Erfolgswert.

b) Zugleich wird durch § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG das Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit beeinträchtigt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine unerhebliche und zu vernachlässigende Benachteiligung. Die Antragstellerin hat am Beispiel der Ergebnisse der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2004 dargelegt, dass sie bei Anwendung der Regelung des § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG in vier der sieben Kreise und Gemeinden, in denen sie aktuell vertreten ist, keinen Sitz erlangt hätte (Städte Münster und Dülmen, Gemeinde Verl, Kreis Gütersloh). Die Berechnungen der Antragstellerin zeigen zugleich, dass sich die Mindestsitzklausel in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG hinsichtlich des zu erreichenden Stimmenquorums in den einzelnen Wahlgebieten nicht nur unterschiedlich, sondern zu Lasten der Betroffenen prozentual erheblich auswirken kann. So wären beispielsweise in der Stadt Münster ca. 1,36 v. H. der abgegebenen gültigen Stimmen erforderlich gewesen, um die in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG vorgesehene Zahl von 1,0 zu erreichen (von der Antragstellerin seinerzeit erzielt: 0,9 v. H. der Stimmen). Im Kreis Gütersloh wären zur Überwindung der Zugangshürde ca. 1,67 v. H. der abgegebenen gültigen Stimmen notwendig gewesen (von der Antragstellerin seinerzeit erzielt: 1,1 v. H. der Stimmen), in der Stadt Bottrop ca. 1,73 v. H. (erzielt: 6,6 v. H.), im Kreis Coesfeld ca. 1,85 v. H. (erzielt: 2,3 v. H.), in der Gemeinde Verl ca. 2,6 v. H. der Stimmen (erzielt: 2,596 v. H.), in der Stadt Dülmen ca. 2,19 v. H. (erzielt: 2,11 v. H.) und in der Stadt Bad Driburg ca. 3,27 v. H. (erzielt: 8,7 v. H.).

2. a) Es handelt sich bei der Wahlrechtsbestimmung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG nicht um eine systembedingte Differenzierung im Erfolgswert.

Mit dem novellierten § 33 Abs. 2 KWahlG ist anstelle des Proportionalverfahrens nach Hare/Niemeyer das Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë/Schepers als Sitzberechungsverfahren eingeführt worden. Der Systemwechsel zum Berechnungsverfahren Sainte-Laguë/Schepers ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass das Verfahren nach Hare/Niemeyer oder das Verfahren nach Sainte-Laguë/Schepers für die Berechnung und Verteilung von Mandaten den Vorzug verdient. Mit keinem der Verfahren kann eine absolute Gleichheit des Erfolgswerts der Wählerstimmen erreicht werden, weil bei beiden Verfahren Reststimmen unberücksichtigt bleiben. Unter diesen Umständen ist es der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen, für welches Berechnungssystem er sich entscheidet (vgl. allgemein zu diesen Maßgaben BVerfGE 79, 169; BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 8.9.1994 - 2 BvR 1484/94 -, NVwZ-RR 1995, 213).

Nach dem Verfahren Sainte-Laguë/Schepers werden die nach Zahlenbruchteilen zu vergebenden Sitze bei Resten unter 0,5 auf die darunter liegende ganze Zahl abgerundet und bei Resten ab 0,5 auf die darüber liegende ganze Zahl aufgerundet (vgl. § 33 Abs. 2 Satz 5 KWahlG). Zahlenreste unter 0,5 werden also durchweg nicht berücksichtigt, während beim bisherigen Verfahren Hare/Niemeyer alle für die Sitzzuteilung noch in Betracht kommenden höchsten Zahlenreste ohne Rundung zum Zuge kommen konnten, das heißt auch solche unter 0,5 (vgl. LT-Drs. 14/3977, S. 43 f.). Demgegenüber ist es beim Divisorverfahren mit Standardrundung systemkonform, auch im Falle eines einzigen Sitzes Zahlenreste ab 0,5 und kleiner als 1,0 für die Sitzzuteilung zu berücksichtigen. Von diesem System weicht § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG ab.

b) Die durch § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG bewirkte Modifizierung des Berechnungsverfahrens für die Sitzzuteilung eines einzigen Sitzes kann nicht für sich in Anspruch nehmen, eine im Rechenverfahren angelegte, aber über das Normalmaß hinausgehende Ungleichgewichtigkeit zu beseitigen. Dass Zahlenbruchteile unterhalb von 1,0 gleichwohl zur Zuteilung eines Sitzes führen können, bewegt sich im normalen Rahmen der nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung systemimmanent vorgegebenen Ungleichgewichtigkeiten. Die Gesetzesbegründung zur Novellierung des Sitzberechnungsverfahrens in § 33 Abs. 2 KWahlG verweist ausdrücklich darauf, das Divisorverfahren mit Standardrundung bringe durch seine Mittelung der Zahlenbruchteile allen Parteien und Wählergruppen grundsätzlich gleichermaßen Vor- und Nachteile, je nach dem aufgrund ihrer Stimmenzahl errechneten Zahlenrest beim jeweiligen Sitzanteil (LT-Drs. 14/3977, S. 44). Zusammenfassend heißt es dort, dass das neue Berechnungsverfahren zu einer noch besser austarierten Verteilung der Sitze führe (LT-Drs. 14/3977, S. 37).

Es lässt sich auch nicht feststellen, dass die Modifizierung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG geboten ist, um eine speziell mit dem Rechensystem nach Sainte-Laguë/ Schepers verbundene systemwidrige Verzerrung beim Erfolgswert im Fall der Zuteilung eines einzigen Sitzes zu beseitigen. Der Vergleich mit dem bisherigen Verfahren nach Hare/Niemeyer zeigt im Gegenteil - wie nicht zuletzt die Ergebnisse der Antragstellerin bei der letzten Kommunalwahl belegen -, dass es auch dort systemkonform durch Berücksichtigung eines Zahlenrestes zur Zuteilung eines einzigen Sitzes kommen kann.

Vor diesem Hintergrund erweist sich § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG als eine Modifizierung der Rundungssystematik, die in Bezug auf die Erreichung eines einzigen Sitzes eine zusätzliche Ungleichgewichtigkeit im Erfolgswert der Wählerstimmen bewirkt, die zu ihrer Rechtfertigung eines "zwingenden Grundes" bedarf.

3. An einer solchen hinreichenden Begründung fehlt es.

a) Der Antragsgegner hat weder im Gesetzgebungsverfahren noch im Rahmen des Organstreitverfahrens deutlich gemacht, dass die Sperrregelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen erforderlich ist.

aa) Es ist nicht mit hinreichender Deutlichkeit ersichtlich, dass der Gesetzgeber die Einführung der Regelung auf diesen Gesichtspunkt gestützt hat. Es fehlt schon an Hinweisen darauf, was der Antragsgegner unter einer Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit verstehen würde, die einen Eingriff in die Erfolgswertgleichheit von Stimmen rechtfertigte. In der Begründung zum zugehörigen Gesetzentwurf wird jedenfalls nicht auf eine drohende Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit der kommunalen Vertretungsorgane abgestellt (vgl. LT-Drs. 14/3977, S. 37 und S. 45). Ebenso sind im Laufe der Plenarberatungen erhebliche Zweifel geäußert worden, ob sich die Annahme einer Funktionsstörung nach Maßgabe der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs hinreichend begründen ließe (vgl. Plenarprotokoll 14/69, S. 7936, 7938; 14/70, S. 8016, 8021).

bb) Soweit der Aspekt der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Kommunalvertretungen während der parlamentarischen Beratungen als möglicher Rechtfertigungsgrund angesprochen worden ist, werden die Erörterungen den vom Verfassungsgerichtshof aufgestellten Anforderungen an die Annahme einer Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit schon im Ansatz nicht gerecht. Die Einschätzung, das Fehlen einer Sperrklausel bedrohe die Handlungsfähigkeit der Kommunen (vgl. Plenarprotokoll 14/70, S. 8017), entbehrt einer tragfähigen tatsächlichen Grundlage. Valide empirische Untersuchungsergebnisse, die die Annahme rechtfertigen, wegen des ersatzlosen Wegfalls der 5 v.H.-Sperrklausel komme es nicht nur in einzelnen Kommunalvertretungen infolge einer Vielzahl von Einzelmandatsträgern zu Funktionsstörungen, hat der Antragsgegner weder im Gesetzgebungsverfahren noch im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof vorgelegt. Solche tatsächlichen Erhebungen wären indes, wollte sich der Antragsgegner auf diesen Gesichtspunkt stützen, gerade vor dem Hintergrund der Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 1360 (LT-Drs. 14/3758) veranlasst gewesen. Denn danach lagen noch im Februar 2007 keine Erkenntnisse dafür vor, dass wegen des Wegfalls der 5 v.H.-Sperrklausel die Beratungs- und Entscheidungsabläufe in den kommunalen Vertretungsorganen im Land maßgeblich beeinträchtigt waren.

cc) Die Voraussetzung einer hinreichenden Begründung wird auch nicht dadurch erfüllt, dass der Landrat des Rhein-Sieg-Kreises anlässlich der öffentlichen Anhörung im Gesetzgebungsverfahren eine die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigende Zersplitterung des Kreistages geschildert hat, die im weiteren Verlauf der parlamentarischen Beratungen verschiedentlich aufgegriffen worden ist (vgl. Ausschussprotokoll 14/437, S. 21 ff.; Plenarprotokoll 14/69, S. 7930, 7932). Dies gilt bereits deshalb, weil der Gesetzgeber für den Fall, dass er Funktionsstörungen nur für einzelne Kommunalvertretungen erwartet, die in Rede stehende wahlrechtliche Zugangsschranke für das Sitzzuteilungsverfahren gegen die Bedeutung der Wahlrechts- und Chancengleichheit für alle Kommunalvertretungen abwägen muss (VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <310>). Daran fehlt es hier.

Darüber hinaus ist die Stellungnahme des Landrats darauf gerichtet, die Zunahme von Einzelmandatsträgern zu besorgen, die von ihm als extremistisch eingeschätzten Parteien und Wählergruppen angehören. Die Regelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG kann jedoch nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie dem Zweck diene, Vertreter extremistischer Gruppierungen von der Beteiligung an kommunalen Wahlorganen fernzuhalten. Die Bekämpfung politischer Parteien oder Wählergruppen ist in diesem Sachzusammenhang ein sachfremdes Motiv. Denn § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG wirkt nicht nur gegen extremistische Parteien, sondern trifft alle Parteien und ebenso kommunale Wählervereinigungen gleichermaßen. Zudem steht es dem Wahlgesetzgeber nicht zu, über die Einführung einer Zugangshürde für das Sitzzuteilungsverfahren bestimmte (unerwünschte) Parteien oder Wählergruppen gezielt von der Mitwirkung an der politischen Willensbildung auszuschließen (vgl. BVerfG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <410>).

b) Der mit der Regelung in § 33 Abs. 3 Satz 1 KWahlG verbundene Eingriff in die Rechte der Antragstellerin auf Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit lässt sich auch nicht mit der Erwägung rechtfertigen, die Zugangshürde diene einer effektiven Integration des Staatsvolkes, indem sie einen gewissen Mindestrückhalt in der Wählerschaft gewährleiste.

aa) Dies gilt zunächst, soweit der Antragsgegner damit auf eine Sicherung der Gemeinwohlorientierung der in den kommunalen Wahlorganen vertretenen Parteien und Wählergruppen abzielt. Aus der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung folgt, dass die Auslese der Kandidaten für die kommunalen Vertretungskörperschaften nach partikularen Zielen möglich sein muss. Gerade auch den Kandidaten ortsgebundener, lediglich kommunale Interessen verfolgender Wählergruppen ist eine chancengleiche Teilnahme an den Kommunalwahlen zu gewährleisten. Die Entscheidung darüber, welche Partei oder Wählergruppe die Interessen der Bürger am besten vertritt, obliegt nicht dem Wahlgesetzgeber, sondern dem Wähler (VerfGH NRW, OVGE 47, 304 <316>; BVerfG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <410> m. w. N.).

bb) Auch sonst lässt sich aus dem Integrationsgedanken ein hinreichender Rechtfertigungsgrund nicht ableiten. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht der Aspekt der "Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung" nicht isoliert als eigenständiger Rechtfertigungsgrund für Differenzierungen im Erfolgswert der Stimmen bei der Verhältniswahl. Er wird vielmehr regelmäßig im Zusammenhang mit der Zielsetzung der Sicherung der Handlungsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung angeführt. Wird eine Aufspaltung des Vertretungsorgans in (zu) viele kleine Gruppen vermieden, sichert dies dessen Fähigkeit zur Mehrheitsbildung und schützt damit sowohl dessen Funktionsfähigkeit als zugleich auch - durch die Bündelung von Interessen - den Charakter der Wahl als einen Integrationsvorgang (vgl. BVerfGE 51, 222 <236>; BVerfGE 71, 81 <97>; BVerfGE 95, 408 <421>; BVerfG, Urteil vom 13.2.2008 - 2 BvK 1/07 -, NVwZ 2008, 407 <410/411>). Auf Grund dieser Konnexität kann für den Fall, dass wie hier das Funktionsargument als Rechtfertigungsgrund nicht eingreift, auch dem Integrationsaspekt eine legitimierende Wirkung nicht zukommen.

Aus dem Urteil des BVerfG zur Grundmandatsklausel (BVerfGE 95, 408) folgt nichts Gegenteiliges. Zur Überprüfung stand dort die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer alternativen Zugangshürde zur 5 v.H.-Sperrklausel auf Bundeswahlebene. Das BVerfG hat in der Entscheidung ausgeführt, dass die Zielsetzung einer effektiven Integration des Staatsvolkes und das Wahlziel der Funktionsfähigkeit der Volksvertretung teils auch gegenläufig sein können. Daraus hat es abgeleitet, die durch die Grundmandatsklausel bewirkte Differenzierung im Erfolgswert könne ihre Rechtfertigung darin finden, dass der Gesetzgeber der funktionssichernden Sperrklauselregelung eine andere Zugangshürde zur Seite stelle, die im Zusammenwirken mit jener ausbalancierend dem Integrationsaspekt Rechnung trage (vgl. BVerfGE 95, 408 <419 ff.>). Aus der Entscheidung lässt sich für die hier in Rede stehende Wahlrechtsbestimmung nichts herleiten, weil die Fallkonstellationen nicht vergleichbar sind. Anders als bei der vom BVerfG überprüften Grundmandatsklausel geht es vorliegend nicht um das (ausbalancierende) Zusammenwirken mehrerer alternativer Hürden für den Zugang zum Sitzverteilungsverfahren.



Ende der Entscheidung

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