Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Beschluss verkündet am 08.09.2003
Aktenzeichen: 8 B 11269/03.OVG
Rechtsgebiete: VwGO, LBauO


Vorschriften:

VwGO § 80
VwGO § 80 Abs. 6
VwGO § 80 a
VwGO § 80 a Abs. 3
VwGO § 80 a Abs. 3 Satz 2
LBauO § 8
LBauO § 69
1. Der Antrag eines Dritten auf gerichtlichen Rechtsschutz nach § 80 a Abs. 3 VwGO setzt im Allgemeinen nicht voraus, dass zuvor entsprechend § 80 Abs. 6 VwGO erfolglos ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei der Behörde gestellt worden ist (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung).

2. Zur Abweichung vom Abstandsflächengebot (§ 8 LBauO), wenn ausnahmsweise der betroffene Nachbar nicht schutzbedürftig ist (im Anschluss an OVG Rheinland-Pfalz, AS 28, 65)


OBERVERWALTUNGSGERICHT RHEINLAND-PFALZ BESCHLUSS

In dem Verwaltungsrechtsstreit

wegen Baunachbarrechts hier: aufschiebende Wirkung

hat der 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der Beratung vom 8. September 2003, an der teilgenommen haben

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 8. Juli 2003 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Antragstellerin.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.000,-- € festgesetzt.

Gründe:

I.

Mit Bauschein vom 6. Juni 2003 erteilte die Antragsgegnerin den Beigeladenen die Genehmigung, an ihr auf dem Grundstück Gemarkung H. Nr. ... vorhandenes Wohnhaus zwei Holzbalkone nebst Treppe anzubauen. Im Hinblick auf das Nachbargrundstück (Parzelle ...) der Antragstellerin wurde mit der Baugenehmigung eine Abweichung von der Vorschrift über Grenzabstände (§ 8 LBauO) zugelassen. Die Baugenehmigung wurde ausdrücklich ohne Baufreigabe erteilt, da die statische Berechnung noch fehlte.

Mit einem am 23. Juni 2003 beim Antragsgegner eingegangenen Schriftsatz legte die Antragstellerin Widerspruch gegen die Baugenehmigung ein und beantragte,deren Vollziehung vorläufig auszusetzen. Noch bevor der Antragsgegner darüber entschieden hatte, stellte sie beim Verwaltungsgericht den Antrag, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Baugenehmigung anzuordnen.

Das Verwaltungsgericht lehnte den Eilantrag als unzulässig ab, weil die Voraussetzungen des § 80 Abs. 6 VwGO, auf den § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO für Verwaltungsakte mit Doppelwirkung verweise, nicht vorlägen: Weder habe der Antragsgegner seinerseits die Aussetzung der Vollziehung abgelehnt, noch habe die Antragstellerin einen entsprechenden Antrag rechtzeitig vor Einleitung des gerichtlichen Verfahrens gestellt. Auch drohe hier keine "Vollstreckung", weil noch keine Baufreigabe erfolgt sei. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin.

II.

Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Im Ergebnis zu Recht hat das Verwaltungsgericht den Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Baugenehmigung anzuordnen, abgelehnt.

Der Antrag ist zwar zulässig. Die in § 80 Abs. 6 VwGO getroffene Sonderregel, die ein behördliches Vorverfahren vor Anrufung des Verwaltungsgerichts vorschreibt, betrifft nur Verwaltungsakte auf dem Gebiet des Abgaben- und Kostenrechts. Auch die Verweisungsnorm des § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO, wonach für die sog. Verwaltungsakte mit Doppelwirkung u.a. § 80 Abs. 6 VwGO entsprechend gilt, schließt den Rechtsgrund der in Bezug genommenen Vorschrift mit ein. Die Verweisung gilt daher nicht für sonstige Verwaltungsakte mit Doppelwirkung (außerhalb des Abgaben- und Kostenrechts) und damit insbesondere nicht für baurechtliche Nachbarstreitigkeiten. Soweit der Senat hierzu früher einen abweichenden Rechtsstreitpunkt vertreten hat (grundlegend: Beschluss vom 14. Juni 1993, NVwZ 1994, 1015), hält er daran nach erneuter Prüfung aus nachstehenden Erwägungen nicht mehr fest:

Mag auch der Wortlaut des § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO verschiedene Auslegungen zulassen - die Formulierung "gilt entsprechend" lässt sich als Rechtsgrundverweisung wie als bloße Rechtsfolgenverweisung begreifen - führt doch die Entstehungsgeschichte der durch das 4. VwGO-Änderungsgesetz vom 17. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2809) eingefügten Norm zu einem eindeutigen Ergebnis. Danach hat der Gesetzgeber die Vorschaltung eines verwaltungsbehördlichen Aussetzungsverfahrens auf Abgabenangelegenheiten beschränken wollen (BT-Drs. 11/7030 vom 27. April 1990, S. 20, 24); eine Ausdehnung über diesen Bereich hinaus wurde ausdrücklich verworfen, weil "in anderen als abgabenrechtlichen Fällen (...) dem Bürger wegen der regelmäßig anzunehmenden besonderen Eilbedürftigkeit die unmittelbare Anrufung des Gerichts zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes möglich sein" müsse (a.a.O. S. 25).

Rechtssystematische Überlegungen bestätigen diesen Befund. So verweist § 80 a Abs. 3 Satz 2 VwGO nicht nur auf § 80 Abs. 6, sondern pauschal auf § 80 Abs. 5 bis 8. In Bezug auf § 80 Abs. 5, 7 und 8 handelt es sich aber eindeutig um Rechtsgrundverweisungen. So besteht etwa die Befugnis zur Rückgängigmachung faktischer Vollzugsfolgen (§ 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO), die Möglichkeit eines Abänderungsantrages wegen veränderter Umstände (§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO) oder das Notentscheidungsrecht des Vorsitzenden (§ 80 Abs. 8 VwGO) auch bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung nur unter den dort beschriebenen Voraussetzungen und nicht etwa losgelöst davon. Dann aber spricht unter rechtssystematischen Gesichtspunkten alles dafür, die Verweisungsnorm auch in Bezug auf § 80 Abs. 6 VwGO im vorgenannten Sinne als Rechtsgrundverweisung zu begreifen. Das bedeutet, dass sie ein Verwaltungsvorfahren nur für solche Bescheide vorschreibt, die in Abgaben- und Kostensachen eine den Gläubiger begünstigende und den Schuldner belastende "Doppelwirkung" entfalten (zu solchen Bescheiden: Schönfelder, VBlBW 1993, 287 [291 f.]; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 80 a Rn. 22).

Auch der Normzweck gebietet keine abweichende Auslegung. Richtig ist, dass der Gesetzgeber mit dem seinerzeit beschlossenen "Bündel von verfahrensrechtlichen Maßnahmen" u.a. eine Entlastung der Verwaltungsgerichte anstrebte (BT-Drs. 11/7030, S. 1). Doch hat er die hier in Rede stehende Maßnahme, die Vorschaltung eines behördlichen Aussetzungsverfahrens, eben nur den Abgaben- und Kostenbescheiden zugeordnet. Über diesen Rechtsbereich hinaus ließe sich ein weitergehender Entlastungseffekt zwar möglicherweise dann erzielen, wenn ein Vorverfahren i.S. des § 80 Abs. 6 VwGO in all den Fällen (aber auch nur in den Fällen) durchlaufen werden müsste, in denen die Verwaltung mit dem Begehren auf vorläufigen Rechtsschutz noch nicht befasst war. Konsequenterweise müsste das Gesetz dann aber ein vorgängiges behördliches Aussetzungsverfahren immer dann vorschreiben, wenn ein Verwaltungsakt - sei es im zweiseitigen oder im dreiseitigen Verhältnis - kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist (§ 80 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 VwGO), während in den Fällen der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) sogleich um gerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht werden dürfte und nicht erst noch das - dann überflüssige - behördliche Aussetzungsverfahren betrieben werden müsste. Eine solche Konzeption mag unter Entlastungsgesichtspunkten rechtspolitisch sinnvoll sein oder nicht; sie entfernt sich jedenfalls von Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte des Gesetzes in einem solchen Maße, dass sie dem geltenden Recht "lege artis nicht implantiert" werden kann (so überzeugend Schoch, VwGO, § 80 a Rn. 78). Im Ergebnis ist danach festzuhalten, dass der Antragsteller im baurechtlichen Nachbarstreit kein behördliches Aussetzungsverfahren betreiben muss, bevor er gerichtlichen Eilrechtsschutz in Anspruch nimmt (ebenso: HessVGH, Beschluss vom 1. August 1991, NVwZ 1993, 491; OVG Bremen, Beschluss vom 24. Januar 1992, NVwZ 1993, 592; VGH BW, Beschluss vom 23. September 1994, NVwZ 1995, 1003; OVG Hamburg, Beschluss vom 19. September 1994, NVwZ-RR 1995, 551; Schoch, a.a.O.; Kopp/Schenke, a.a.O., Rn. 21; Sodan/Ziekow, VwGO, § 80 a Rn. 16 ff.; Eyermann/Schmidt, VwGO, 11. Aufl., § 80 a Rn. 19).

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die umstrittene Baugenehmigung anzuordnen, ist aber unbegründet. Das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Vollziehung der Baugenehmigung hat Vorrang vor dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin. Denn bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, wie sie ein gerichtliches Eilverfahren kennzeichnet, erweist sich die Baugenehmigung als rechtmäßig.

Zwar hält die den Beigeladenen bauaufsichtlich genehmigte Holzkonstruktion den von § 8 LBauO geforderten Grenzabstand zum Grundstück der Antragstellerin nicht ein. Der Antragsgegner hat aber, soweit bei überschlägiger Prüfung erkennbar, ohne Rechtsfehler gemäß § 69 LBauO eine Abweichung von den Abstandsvorschriften zugelassen. Gerechtfertigt ist eine solche Abweichung nur dann, wenn im konkreten Einzelfall besondere Umstände vorliegen, die ihm vom gesetzlichen Regelfall derart unterscheiden, dass sie die Nichtberücksichtigung oder Unterschreitung des normativ festgelegten Standards erlauben. Soll, wie hier, von einer nachbarschützenden Vorschrift abgewichen werden, sind die betroffenen Rechte des Nachbarn mitentscheidend. Eine Abweichung kommt dann nur in Betracht, wenn ausnahmsweise der Nachbar nicht schutzbedürftig ist oder die Gründe, die für eine Abweichung streiten, objektiv derart gewichtig sind, dass die Interessen des Nachbarn zurücktreten müssen (Urteil des Senats vom 3. November 1999, AS 28, 65 [67]).

Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier zugunsten der Beigeladenen vor. Mit der Abstandsvorschrift des § 8 LBauO sollen eine ausreichende Beleuchtung und Belüftung und ein effektiver Brandschutz gewährleistet, die Anforderungen an gesunde Arbeits- und Wohnverhältnisse verwirklicht und die Wahrung des Wohnfriedens sichergestellt werden (s. das vorbezeichnete Urteil, a.a.O. S. 68). Von der Unterschreitung des Grenzabstandes ist hier lediglich ein 3 m breiter Streifen des Grundstücks der Antragstellerin betroffen, der offenkundig nur als Zufahrt nutzbar ist. Dieser Grundstücksteil ist von dem eine spätere Bebauung ermöglichenden Hauptteil des Grundstücks der Antragstellerin mehr als 40 m entfernt. Es kommt noch hinzu, dass sie mit den Beigeladenen zivilrechtlich vereinbart hat, dass diese den hier in Rede stehenden, von der Unterschreitung des Grenzabstandes unmittelbar betroffenen Teil des Grundstücks der Antragstellerin mit einem Carport oder einer Garage bebauen dürfen; die Antragstellerin darf die Entfernung des Carports bzw. der Garage nur verlangen, wenn sie auf dem rückwärtigen Restgelände ihres Grundstücks unter Beachtung der einschlägigen baurechtlichen Bestimmungen ihrerseits ein Bauwerk errichtet, welches dann die betreffende Zufahrt benötigt (s. dazu den zu den Bauakten gereichten notariellen Vertrag vom 28. November 2000). Unter diesen besonderen Umständen vermag der Senat schutzwürdige, dem hier umstrittenen Bauvorhaben entgegenstehende Belange der Antragstellerin nicht zu erkennen, zumal sie solche auch nicht näher dargelegt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes auf §§ 13 Abs. 1, 14, 20 Abs. 3 GKG.

Ende der Entscheidung

Zurück