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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Saarland
Beschluss verkündet am 22.01.2003
Aktenzeichen: 9 Q 182/00
Rechtsgebiete: VwGO, AsylVfG


Vorschriften:

VwGO § 154 II
AsylVfG § 83 b
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
9 Q 182/00

In dem Verwaltungsrechtsstreit

wegen Asylrechts und Abschiebungsschutzes - C 1966802-160 -

hat der 9. Senat des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes in Saarlouis durch die Vorsitzende Richterin am Oberverwaltungsgericht Neumann, den Richter am Oberverwaltungsgericht Sauer und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Schwarz-Höftmann am 22. Januar 2003 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 11. August 2000 - 12 K 6/98.A - wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Antragsverfahrens.

Gründe:

Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor bezeichnete Urteil ist nicht begründet. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 III Nr. 1 AsylVfG) liegt nicht vor.

Die von den Klägern als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnete Frage, "ob es für Flüchtlinge aus Tschetschenien auf dem übrigen Gebiet der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative gibt", rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht. Zur Begründung tragen die Kläger im Wesentlichen vor, das erstinstanzliche Gericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass es zwar in Großstädten wie Moskau und St. Petersburg nicht möglich sei, sich niederzulassen, im sonstigen Gebiet der Föderation aber Zuzugsbeschränkungen nicht praktiziert würden. Von aus Tschetschenien stammenden Flüchtlingen sei ihrem Prozessbevollmächtigten nämlich bekannt, dass man sich auch in ländlichen Regionen der Russischen Föderation ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis nicht niederlassen könne. Vielmehr müssten die entsprechenden Erlaubnisse in den für die jeweilige Region zuständigen Bezirksstädten beantragt werden. Flüchtlingen aus Tschetschenien gegenüber gebe es landesweit schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht; außerdem sei Willkür weit verbreitet. Auch wenn es für die ländlichen Regionen der Föderation - anders als in den Großstädten - keine den Zuzug unterbindende Verwaltungsvorschriften gebe, seien die Flüchtlinge dort ebenfalls unerwünscht und erhielten keine Möglichkeit, sich niederzulassen. Wie sich aus dem Länderkurzbericht von amnesty international - Asyl-Info Nr. 7 - 8/2000, S. 49 ff - ergebe, gebe es eine große Diskrepanz zwischen rechtlichen Regelungen und der Praxis; viele der staatlichen Stellen akzeptierten die Realisierung der Menschen- und Bürgerrechte nicht. Außerdem werde mitgeteilt, dass die aus anderen Teilen des russischen Staatsgebietes stammenden Binnenflüchtlinge keinen spezifischen rechtlichen Schutz genössen. Daraus könne gefolgert werden, dass wenn der Staat seinen Bürgern den erforderlichen Schutz verwehre, diese Verfolgung ausgesetzt seien. Auf jeden Fall könne der betroffene Personenkreis nicht auf eine inländische Fluchtalternative auf dem Gebiet der Russischen Föderation verwiesen werden, zumal er sich dort auch nicht niederlassen könne. Darüber hinaus liege eine inländische Fluchtalternative auch deshalb nicht vor, weil den Flüchtlingen ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums drohe. Entgegen der Meinung des Verwaltungsgerichts hätten gerade Flüchtlinge aus Tschetschenien in aller Regel keine Familienangehörige und Freunde in der Russischen Föderation, auf die sie sich stützen könnten. Der Verweis auf die - illegale - Sicherung des Lebensunterhaltes im Bereich der Schattenwirtschaft, in dem eine große Abhängigkeit von der Willkürpraxis der Behörden bestehe, sei nach den Kriterien für das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative unzulässig. Eine inländische Fluchtalternative sei im Übrigen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu verneinen, "wenn in verfolgungssicheren Landesteilen eine existenzielle Verfolgungsgefährdung besteht, die zwar im Zeitpunkt der Flucht in gleicher Weise auch am Herkunftsort bestand, deren Ursache aber verfolgungsbedingt war".

Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache, wenn sie eine für die Berufungsentscheidung erhebliche, klärungsfähige und klärungsbedürftige, insbesondere höchst- oder obergerichtlich nicht (hinreichend) geklärte Frage allgemeiner, fallübergreifender Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder ihrer Fortentwicklung der berufungsgerichtlichen Klärung bedarf.

Die aufgeworfene Frage bedarf nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens. Soweit sie generell auf eine Klärung des Vorhandenseins einer inländischen Fluchtalternative in den übrigen Teilen der Russischen Föderation für "Flüchtlinge aus Tschetschenien", also für alle Arten von Flüchtlingen aus Tschetschenien abzielt, ist sie nicht klärungsbedürftig. Da sie offensichtlich je nach ethnischer Zugehörigkeit der Flüchtlinge schon unterschiedlich zu beantworten wäre, ist sie in dieser Angelegenheit nicht entscheidungserheblich. Aber auch wenn diese Frage auf Flüchtlinge russischer Volkszugehörigkeit, zu denen die Kläger zählen, begrenzt aufgefasst wird, rechtfertigt sie kein Rechtsmittelverfahren, da sie sich schon aufgrund der allgemeinen Auskunftslage beantworten lässt. Daraus ergibt sich, dass russischen Volkszugehörige aus Tschetschenien in anderen Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative offen steht.

Auszugehen ist zunächst davon, dass Tschetschenen zwar nach der russischen Verfassung die Möglichkeit einer Wohnsitznahme oder eines zeitweiligen Aufenthalts in der Russischen Föderation außerhalb von Tschetschenien offensteht. Die Weiterreise von tschetschenischen Flüchtlingen aus der Nachbarrepublik Inguschetien in andere Teile Russlands ist auch grundsätzlich möglich. Soweit dazu aber die Hilfe russischer Regierungsstellen in Anspruch genommen werden muss, begegnet die Weiterreise nach Berichten von Betroffenen und Menschenrechtsorganisationen immer wieder bürokratischen Hemmnissen und Behördenwillkür. An vielen Orten (u.a. in großen Städten wie z.B. Moskau und St. Petersburg) wird der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch Verwaltungsvorschriften sehr stark erschwert bzw. de facto verhindert. Tschetschenen sind besonders in Moskau und anderen Großstädten diskriminierenden Kontrollmaßnahmen und ungesetzlichen Übergriffen der Behörden ausgesetzt und auch die Bevölkerung begegnet ihnen größtenteils mit Misstrauen. Die in Russland verfassungsrechtlich garantierte Freizügigkeit wird für Moskau faktisch eingeschränkt. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit für alle Nicht-Moskauer. Den Betreffenden wird von den Moskauer Behörden die Wohnsitznahme erschwert, Sozialhilfe wird nur vorübergehend gewährt. Sie werden im Allgemeinen in andere russische Regionen zur Registrierung als Binnenflüchtlinge verwiesen. Die Rücksiedlung nach Tschetschenien wird nahegelegt, jedoch nicht erzwungen.

Vgl. Auswärtiges Amt, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 7.5.2002 - 508-516.80/3 RUS - Örtliche Behörden haben sich in der gesamten Russischen Föderation die Möglichkeit vorbehalten, die Modalitäten der Umsetzung des Rechts auf Freizügigkeit und der Wahl des Aufenthalts- oder Wohnorts festzulegen, was manchmal in restriktiver Weise geschieht. Dies ist insbesondere in Regionen der Fall, die versuchen, den lokalen Arbeitsmarkt zu schützen, Kontrolle über interne Migrationsbewegungen auszuüben oder die Ansiedlung wirtschaftlich oder politisch "unerwünschter" Migranten zu verhindern. Auf tschetschenische Binnenvertriebene wirkt sich dies so aus, dass sie in ihrer Möglichkeit, sich außerhalb von Tschetschenien und Inguschetien, wo sich - Stand: September 2001 - 150 000 durch den Konflikt vertriebene Tschetschenen befanden, rechtmäßig niederzulassen, noch immer eingeschränkt sind. Inguschetien selbst, das zwar großzügig Binnenvertriebene aus Tschetschenien aufgenommen hat und nach wie vor ihren Verbleib in der Republik gestattet, hält der UNHCR als Relokationsalternative - ausdrücklich - für ethnisch tschetschenische Asylsuchende für nicht zumutbar. Er verweist darauf, dass die Situation der dort lebenden - ethnisch - tschetschenischen Binnenvertriebenen sowohl die humanitäre Hilfe als auch den Schutz betreffend noch immer sehr prekär sei. Binnenvertriebene seien dort einer wechselhaften Politik der Föderation ausgeliefert, die mehr oder weniger streng umgesetzt werde und die Betroffenen zur Rückkehr nach Tschetschenien veranlassen solle. Die Nähe zum Konfliktgebiet und die fortdauernden militärischen Aktivitäten in Tschetschenien trügen zur Verschlechterung der Situation bei.

UNHCR-Stellungnahme über Asylsuchende aus der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Lage in Tschetschenien vom Januar 2002

Die Situation ethnisch russischer Tschetschenen stellt sich gegenüber derjenigen ethnischer Tschetschenen jedoch entscheidend günstiger dar.

Binnenvertriebene, denen zwischen September 1999 und Juni 2001 der Vertriebenenstatus gewährt wurde, erhielten diesen in 79 Regionen der Russischen Föderation; die Begünstigten waren fast ausschließlich ethnische Russen. Großteils handelt es sich dabei um solche Regionen, in denen es traditionell keine tschetschenische Gemeinde gibt. Ethnisch russische Binnenvertriebene werden nach Berichten einiger örtlicher Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Rechte der Vertriebenen einsetzen, an ihren Zielorten von der einheimischen Bevölkerung und den örtlichen Behörden oft nicht sehr freundlich aufgenommen. Viele von ihnen berichteten über Schwierigkeiten bei der Registrierung des Aufenthaltsortes bzw. bei deren Verlängerung. Es gebe allerdings keine Anzeichen für polizeiliche Schikanen größeren Ausmaßes, wie sie - ethnisch - tschetschenische Binnenvertriebene in vielen Regionen erlebten. In jenen Regionen, die die Registrierung des Aufenthalts vom Vorhandensein naher Verwandter in ihrem Territorium abhängig machten, könnten ethnisch russische Binnenvertriebene möglicherweise auf Angehörige verweisen, die während des Konflikts der Jahre 1994-96 vertrieben worden seien.

UNHCR-Stellungnahme über Asylsuchende aus der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der Lage in Tschetschenien vom Januar 2002

Die Gesellschaft für bedrohte Völker, die für ethnische Tschetschenen eine sichere Fluchtalternative in der Russischen Föderation verneint, jedoch für ethnische Nicht-Tschetschenen keine Gefährdung darlegt, weist auf eine "Reihe von Fällen" hin, in denen in ethnisch gemischten Familien dem ethnisch russischen Teil der Zwangsumsiedlerstatus zuerkannt wurde, der ethnisch tschetschenischen Seite jedoch nicht.

GfbV, Stellungnahme an VGH Baden-Württemberg vom 2.10.2002

Diese mitgeteilte Vorgehensweise deutet ebenfalls darauf hin, dass russische Volkszugehörige aus Tschetschenien in anderen Teilen der Russischen Föderation nicht den Belastungen und Gefahren wie ethnische Tschetschenen ausgesetzt sind.

Schließlich äußert auch die Organisation amnesty international, die zwar nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen kann, dass Personen tschetschenischer Volkszugehörigkeit auch in anderen Teilen der Russischen Föderation Opfer polizeilicher Willkür, Folter und Misshandlung sowie Erpressung werden und die diese erhöhte Gefahr auch für Personen kaukasischer Abstammung sieht, die sich nicht kämpferisch oder politisch in der Tschetschenienfrage engagiert haben, keine derartigen Bedenken hinsichtlich ethnischer Russen.

amnesty international, Stellungnahme an VG Braunschweig vom 20.2.2002

Dies wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Kläger aus der Formulierung des Länderkurzberichts von amnesty international vom Mai 2000, wonach besonders die aus anderen Teilen des russischen Staatsgebietes stammenden Binnenflüchtlinge keinen spezifischen rechtlichen Schutz genössen, eine Verfolgung aller Binnenflüchtlinge herleiten wollen. Nach dem Wortlaut des betreffenden Berichtsteils auf S. 53 genießen diese lediglich keinen "spezifischen" rechtlichen Schutz, sind aber, wie sich aus dem vorausgehenden Absatz ergibt, keineswegs schutzlos.

Nach allem ist somit davon auszugehen, dass russische Volkszugehörige aus Tschetschenien in der Russischen Föderation grundsätzlich außerhalb der Großstädte Moskau und St. Petersburg jedenfalls ihre Registrierung, die etwa den Zugang zu legaler Beschäftigung, medizinischer Versorgung und Bildung, aber auch zu finanzieller Unterstützung - etwa Kindergeld - schafft, UNHCR-Stellungnahme, a.a.O.; GfbV, a.a.O. erreichen und sich damit legal niederlassen können. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass russische Volkszugehörige aus Tschetschenien dort auf dieser Grundlage - wenn auch unter den ohnehin in der gesamten Föderation schwierigen Bedingungen - keine hinreichende Existenzsicherung erreichen könnten, sind weder vorgetragen noch ansonsten ersichtlich.

Der Zulassungsantrag war daher mit der Kostenfolge aus §§ 154 II VwGO, 83 b AsylVfG zurückzuweisen.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.

Ende der Entscheidung

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