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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Urteil verkündet am 11.09.2003
Aktenzeichen: 2 L 222/01
Rechtsgebiete: AuslG, StGB, GG, VwGO


Vorschriften:

AuslG § 13 I
AuslG § 17 I
AuslG § 18 I Nr. 3
AuslG § 18 II
AuslG § 19 I 1 Nr. 1
AuslG § 47 II Nr. 1
AuslG § 48 I Nr. 5
AuslG § 51 I
AuslG § 72 II 1
AuslG § 72 II 2
StGB § 56
StGB § 57
GG Art. 6 I
VwGO § 108
VwGO § 113 I
VwGO § 113 IV
1. Die nachträgliche Aussetzung des Strafrestes auf Bewährung (§ 57 StGB) ist im Rahmen des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG der Strafaussetzung zur Bewährung nicht gleichzusetzen.

2. Offen bleibt, ob der erhöhte Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 1 Nr. 5 AuslG auch für die sog. "Kontingentflüchtlinge" gilt.

3. Ob ein Ausnahmefall von der Regel-Ausweisung vorliegt, obliegt der vollen gerichtlichen Nachprüfung. Dabei sind alle Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung zu berücksichtigen.

Die Ausnahme kann sich - insoweit auch ohne absolute Bindung an das Strafurteil - aus den besonderen Umständen der Strafbegehung ergeben.

4. Maßgeblich für die Entscheidung über die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten, der sein Aufent-haltsrecht von einem ausgewiesenen Ausländer ableitet, ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Insoweit ist die Wirkung der Ausweisung trotz ihrer Anfechtbarkeit auch dann noch zu berücksichtigen, wenn die Entscheidung des Berufungsgerichts mit einem Antrag auf Zulassung der Revision angefochten werden kann.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT URTEIL

Aktenz.: 2 L 222/01

Datum: 11.09.2003

Tatbestand:

Der Kläger zu 1. wendet sich gegen eine Ausweisungsverfügung der Beklagten; die Klägerin zu 2. begehrt die Verlängerung ihrer befristeten Aufenthaltserlaubnis.

Der Kläger zu 1. reiste mit einem Pass der ehemaligen UdSSR am 14. Oktober 1991 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 1. Dezember 1991 erteilte ihm das Landratsamt W. - Ausländerbehörde - eine Bescheinigung, wonach er die Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings besitzt. Diese wurde aufgrund der vorgelegten Geburtsurkunde seiner Mutter ausgestellt, die sie als Jüdin ausweist. Am 10. Dezember 1991 erhielt der Kläger zu 1. als jüdischer Zuwanderer eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.

Die Klägerin zu 2. reiste am 18. Dezember 1991 in die Bundesrepublik ein, heiratete am 5. November 1992 einen Russen jüdischen Glaubens und erhielt am 12. Januar 1993 aufgrund dieser Ehe eine bis zum 11. Januar 1996 befristete Aufenthaltserlaubnis. Die Ehe wurde im Mai 1995 geschieden.

Am 2. April 1996 heirateten die Kläger.

Durch Urteil des Landgerichts Stendal vom 29. April 1996 - 502 KLs-W-2/96 - wurde der Kläger zu 1. wegen Beihilfe zur Steuerhehlerei zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt. Durch Beschluss des Landgerichts Magdeburg - Strafvollstreckungskammer - vom 14. Februar 1997 - 50 StVK 29/97 - wurde nach Verbüßung der Hälfte der Strafzeit die Vollstreckung des Restes der verhängten Freiheitsstrafe ab 29. März 1997 unter Auflagen zur Bewährung ausgesetzt und die Bewährungszeit auf zwei Jahre festgesetzt. Die zur Bewährung ausgesetzte Restfreiheitsstrafe wurde durch weiteren Beschluss des Landgerichts Magdeburg vom 7. Juli 1999 - 50 BRs 24/97 - nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen.

Mit Verfügung vom 10. Dezember 1996 wies die Beklagte den Kläger zu 1. nach Verbüßung der Strafhaft aus, drohte ihm für den Fall der nicht fristgemäßen Ausreise die Abschiebung nach Russland an und ordnete die sofortige Vollziehung dieser Verfügung an.

Mit Bescheid vom 08. Dezember 1997 lehnte die Beklagte die von der Klägerin zu 2. beantragte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit dem Hinweis auf das Ende des erlaubten Aufenthalts ihres Ehemannes ab und setzte ihr eine Ausreisefrist bis spätestens 07. März 1998.

Auf die hiergegen eingelegten Rechtsbehelfe änderte das Regierungspräsidium Magdeburg unter dem 25. und 26. Mai 1999 die Bescheide der Beklagten insoweit, als es den Klägern aufgab, das Bundesgebiet unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von 14 Tagen zu verlassen, nachdem durch amtsärztliches Gutachten die Reisefähigkeit ihrer am 12. April 1997 geborenen Tochter bestätigt worden sei; im Übrigen wies es die Widersprüche zurück.

Zur Begründung führte es im Falle des Klägers zu 1. ergänzend aus, die Voraussetzungen einer Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG lägen in seiner Person vor; denn er sei am 29.04.1996 durch das Landgericht Stendal rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt worden. Bis auf die vorübergehende Reiseunfähigkeit seiner Tochter existierten keine außergewöhnlichen Umstände, die eine Ausnahmeregelung erforderten, insbesondere seien diese weder in einer vermeintlichen staatlichen Verfolgung von Juden in der ehemaligen Sowjetunion noch in einer Verletzung der Wehrpflicht durch den Kläger zu sehen. Ihm komme auch kein besonderer Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Nr. 5 AuslG zu; denn nach dem Beschluss der Ministerkonferenz vom 09. Januar 1991 sei das Kontingentflüchtlingsgesetz auf jüdische Emigranten ausdrücklich nicht direkt, sondern nur entsprechend anwendbar. Selbst für den Fall der Herabstufung der Regel- zu einer Ermessensausweisung würde die dann erforderliche Ermessensausübung angesichts der im Bereich des organisierten Zigarettenhandels begangenen Straftat, die den hohen Steuerschaden von 983.428,00 DM zur Folge gehabt hätte, zu ungunsten des Klägers zu 1. ausgehen.

Am 23. Juni 1999 haben die Kläger beim Verwaltungsgericht Magdeburg Klage erhoben und unter Bezugnahme auf ihren bisherigen Vortrag ergänzend ausgeführt:

Die strafrechtlich abgeurteilte Beihilfehandlung sei keine ausreichende Grundlage für eine generalpräventive Ausweisung. Der positive "Bewährungsverlauf" zeige, dass keine Wiederholungsgefahr gegeben sei. Der Umstand der Eheschließung führe zu einer günstigen Sozialprognose. Nach wie vor hätte der Kläger zu 1. aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Judentum bei einer Rückkehr nach Russland Verfolgung zu befürchten.

Die Kläger haben beantragt,

hinsichtlich des Klägers zu 1., den Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Magdeburg vom 25. Mai 1999 aufzuheben und hinsichtlich der Klägerin zu 2., die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 8. Dezember 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Magdeburg vom 26. Mai 1999 aufzuheben und ihr eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat ihre Entscheidung unter Vertiefung ihrer Bescheidsgründe verteidigt.

Mit Urteil vom 31. Mai 2001 - 3 A 614/99 - hat das Verwaltungsgericht Magdeburg die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:

Die an den Kläger zu 1. gerichtete Ausweisungsverfügung nebst Abschiebungsandrohung sei rechtmäßig; denn er sei wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt worden. Es bedürfe keiner Klärung, ob der Kläger zu 1. als Russe jüdischen Glaubens im Hinblick auf § 48 AuslG den vollen Flüchtlingsstatus erlangt habe, denn die angefochtenen Bescheide seien auch unter dem Gesichtspunkt einer sog. Ermessensausweisung rechtlich nicht zu beanstanden. Die Abwägung der spezial- und generalpräventiven Erwägungen für die Ausweisung mit dem Verhalten des Klägers nach Haftantritt seien zutreffend.

Die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis der Klägerin zu 2. sei ebenfalls nicht zu beanstanden; denn § 18 Abs. 1 Nr. 3 , Abs. 2 AuslG verlange, dass der Ausländer, von dem ein Nachzugsrecht abgeleitet werde, selbst im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, was jedoch hier nicht der Fall sei.

Auf Antrag der Kläger hat der Senat mit Beschluss vom 26. Mai 2003 die Berufung zugelassen.

Die Kläger begründen ihre Berufung im Wesentlichen wie folgt:

Der Kläger zu 1. genieße als ausländischer Flüchtling besonderen Ausweisungsschutz nach § 48 Abs. 1 Nr. 5 AuslG. Die Voraussetzungen für seine Ausweisung lägen weder unter general- noch unter spezialpräventiven Gründen vor. Das Landgericht Stendal habe in seinem Urteil nicht festgestellt, dass die Straftat des Klägers zu 1. im Sinne des § 48 AuslG besonders schwer wiege. Die von der Beklagten behauptete Wiederholungsgefahr sei lediglich behauptet und stehe auch im Widerspruch zur Entscheidung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichtes Magdeburg, die aufgrund einer günstigen Sozialprognose die hälftige Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt habe.

Die von der Beklagten hilfsweise vorgenommene Ermessensentscheidung sei ebenfalls fehlerhaft. So habe die Beklagte den nahezu achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ebenso unberücksichtigt gelassen wie die Tatsache seiner Ehe sowie die fehlenden Möglichkeiten der sozialen und wirtschaftlichen Integration seiner Familie bei einer Rückkehr nach Russland. Mangels eines amtsärztlichen Gutachtens stünde die Reisefähigkeit der Tochter bis zum heutigen Tage nicht fest.

Schließlich habe die Beklagte verkannt, dass er als Jude in der ehemaligen Sowjetunion staatlicher Verfolgung ausgesetzt sei.

Der Kläger zu 1. beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Magdeburg vom 25. Mai 1999 aufzuheben;

die Klägerin zu 2. beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 8. Dezember 1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Magdeburg vom 26. Mai 1999 aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, ihr, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufungen zurückzuweisen.

Die Beklagte bezieht sich auf ihr bisheriges Vorbringen und verweist ergänzend darauf, dass jüdischen Emigranten kein besonderer Abschiebungsschutz zustehe. Die Reisefähigkeit der Tochter sei bereits durch amtsärztliches Gutachten vom 4. Mai 1999 für voraussichtlich Ende Mai 1999 prognostiziert worden. Mit Schreiben vom 12. Mai 1999 habe die Deutsche Botschaft in Moskau mitgeteilt, dass eine fachärztliche medikamentöse Weiterbehandlung des Kindes in der russischen Föderation möglich sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind in ihrem wesentlichen Teilen Gegenstand der Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung des Klägers zu 1. ist zulässig und begründet.

Die angefochtene Verfügung gegenüber dem Kläger zu 1. ist rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1.1. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung ist die Sach- und Rechtslage bei Ergehen des Widerspruchsbescheids (st. Rechtspr.; vgl. u. a. BVerwG, Beschl. v. 17.11.1994 - BVerwG 1 B 224.94 -, InfAuslR 1995, 150, und v. 17.01.1996 - BVerwG 1 B 3.96 -, InfAuslR 1996, 137; Urt. v. 11.06.1996 - BVerwG 1 C 24.94 -, BVerwGE 101, 247, v. 19.11.1996 - BVerwG 1 C 6.95 -, BVerwGE 102, 249; v. 28.01.1997 - BVerwG 1 C 17.94 -, InfAuslR 1997, 296, und v. 07.12.1999 - BVerwG 1 C 13.99 -, BVerwGE 110, 140; Beschl. v. 14.07.2000 - BVerwG 1 B 40.00 -, Buchholz 402.240 [AuslG] § 8 Nr. 18, v. 23.05.2001 - BVerwG 1 B 125.00 -, NVwZ 2001, 1288, und v. 18.09.2001 - BVerwG 1 C 17.00 -, NVwZ 2002, 339).

Nach § 47 Abs. 2 Nr. 1 des Ausländergesetzes - AuslG - (= Art. 1 des Gesetzes vom 09.07.1990 [BGBl I 1354]) in der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 16.12.1997 (BGBl I 2970) wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift sind beim Kläger zu 1. erfüllt; denn er wurde durch Urteil des Landgerichts Stendal vom 29. April 1996 - 502 KLs-W-2/96 - rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt.

Die nachträgliche Aussetzung des Strafrestes (§ 57 StGB) hindert die Anwendung des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG nicht; denn sie stellt keine Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung im Sinne dieser Vorschrift dar (BVerwG, Beschl. v. 25.03.1994 - BVerwG 1 B 30.94 -, Buchholz 402.240 [AuslG 1990] § 47 Nr. 4).

Rechtsfolge des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG ist die Ausweisung aber nur in der Regel. Bei dieser Regel-Ausweisung ist für den typischen Fall davon auszugehen, dass die Ausweisung geboten und verhältnismäßig ist, um Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung entgegenzuwirken (BVerwG, Urt. v. 16.11.1999 - BVerwG 1 C 11.99 -, NVwZ-RR 2000, 320).

Die Worte "in der Regel" beziehen sich auf Fälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleichliegender Konstellationen unterscheiden. Die den Gegensatz bildenden Ausnahmefälle sind durch einen atypischen Geschehensablauf gekennzeichnet, der so bedeutsam ist, dass er jedenfalls das sonst ausschlaggebende Gewicht des gesetzlichen Regelversagungsgrundes beseitigt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.09.1994 - BVerwG 1 B 90.94 -, InfAuslR 1995, 5 [6]; BVerwG, Urt. v. 29. 07.1993 - BVerwG 1 C 25.93 -, NVwZ 1994, 381 [383 f.]; HessVGH, Beschl. v. 10.08.1992 - 12 UE 2254/89 -, EZAR 032 Nr. 6; VGH BW, Beschl. v. 12.02.1991 - 18 B 84/91 -, InfAuslR 1991, 187 [188]; HambOVG, Beschl. v. 09.11.1992 - Bs V 190/92 -, NVwZ-RR 1993, 217 [218], m. w. N.). Es müssen daher besondere Umstände gegeben sein, die den Ausländer entlasten oder aufgrund derer seine Ausweisung als unangemessene Härte erscheint (vgl. auch Amtl. Begr. zu § 47 des Entwurfes für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 27. Januar 1990, BT-Drs. 11/6321, S. 73; OVG NW, Beschl. v. 02.09.1992 - 18 B 3404/92 -, InfAuslR 1993, 61).

1.2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegt im Falle des Klägers zu 1. eine Ausnahme von der in § 47 Abs. 2 AuslG als Regel vorgesehenen Ausweisung vor, weshalb es offen bleiben kann, ob er als sog. Kontingentflüchtling den erhöhten Ausweisungsschutz des § 48 Abs. 1 Nr. 5 AuslG genießt.

Der Beklagten ist zuzugeben, dass diese Ausnahme nicht durch den postoperativen Zustand der Tochter, der sich laut amtsärztlichem Gutachten vom 4. Mai 1999 bis zur (voraussichtlichen) Reisefähigkeit stabilisiert hat, noch durch eine fehlende fachärztliche und medikamentöse Weiterbehandlung in der Russischen Föderation (vgl. insoweit die Auskunft des Regionalarztes der deutschen Botschaft in Moskau vom 12. Mai 1999) gerechtfertigt ist.

Ebensowenig vermag die behauptete staatliche Verfolgung von Juden in der ehemaligen Sowjetunion den Regelfall des § 47 Abs. 2 AuslG mit Blick auf § 51 Abs. 1 AuslG zu durchbrechen; denn eine politische Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur jüdischen Religion findet in der Russischen Föderation nicht statt (vgl. VG Trier, Beschl. v. 12.11.1993; VG Berlin, Urt. v. 28.10.1996; VG Ansbach Urt. v. 18.12.1996; VG Regensburg, Urt. v. 30.06.2000; VG Augsburg, Urt. v. 11.07.2000; VG Hamburg, Urt. v. 11.01.2001 -, zitiert nach juris).

Bei der voller gerichtlichen Nachprüfung unterliegenden Beurteilung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 01.09.1994 - BVerwG 1 B 90.94 -, a. a. O.; HessVGH, Beschl. v. 11.03.1992 - 12 TH 2805/91 -, EZAR 032 Nr. 3 und v. 07.07.1992 - 12 TH 990/92 -, NVwZ 1993, 204 [206]; OVG Bremen, Beschl. v. 20.11.1992 - OVG 1 B 101/92 -, InfAuslR 1993, 85), ob ein Ausnahmefall von der Regel-Ausweisung vorliegt, sind jedoch auch alle Umstände der strafgerichtlichen Verurteilung und die sonstigen Verhältnisse des Betroffenen zu berücksichtigen (vgl. zur Strafaussetzung nach §§ 56, 57 StGB; BVerwG, Beschl. v. 25.03.1994 - BVerwG 1 B 30.94 -).

Eine Ausnahme von der regelmäßig zu verfügenden Ausweisung ist hier mit Rücksicht auf die besonderen Umstände der Straftat geboten (vgl. Vormeier, in: GK-AuslR § 47 RdNr. 91, mit Rechtsprechungshinweisen).

Das maßgebliche strafgerichtliche Urteil vom 29. April 1996, mit dem der Kläger zu 1. wegen Beihilfe zur Steuerhehlerei zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt worden ist, gründet sich auf folgenden Sachverhalt:

"Am Nachmittag des 28.10.1995 war der Angeklagte (= der Kläger zu 1.) gegen 16.00 Uhr von einem Mann, dessen Identität der Angeklagte nicht preisgeben wollte, angerufen worden. Es wurde ihm mitgeteilt, dass am Abend ein LKW voll unversteuerter Zigaretten komme und er für den Fall, dass der Gabelstapler nicht funktionieren werde, beim Abladen helfen solle. Der Angeklagte traf gegen 18.00 Uhr auf dem Gehöft ein. Bei der Überprüfung des Gabelstaplers zeigte sich, dass dieser funktionstüchtig war. Daraufhin ging der Angeklagte ins Haus, um dort für den Fall, dass der Gabelstapler defekt werden würde, zum Abladen zur Verfügung zu stehen."

Dort wurde der Angeklagte später zusammen mit zwei weiteren Komplizen von der Polizei festgenommen.

Im Rahmen der Strafbemessung

berücksichtigte das Strafgericht zu Gunsten des Angeklagten, "dass sich die von ihm begangene Beihilfe zur Steuerhehlerei lediglich als psychische Förderung der Haupttat darstellte und somit im unteren Bereich der Beihilfe anzusiedeln war. Auch sein Geständnis in der Hauptverhandlung wirkte sich strafmildernd aus, wobei es für das Gericht nachvollziehbar war, dass er aus Angst um seine Familie nicht sein ganzes Wissen offenbarte. Ebenso war seine schon verbüßte halbjährige Untersuchungshaft sowie der Umstand, dass er strafrechtlich bislang nicht in Erscheinung getreten war, zu berücksichtigen.

Bei der Strafzumessung wirkte sich jedoch nachteilig für den Angeklagten aus, dass diesem die Gefährlichkeit des von ihm geförderten organisierten Zigarettenhandels sehr bewusst ist. Es erweist sich als notwendig, sowohl zur Einwirkung auf den Angeklagten als auch auf die im organisierten Zigarettenhandel Tätigen abschreckende Strafen zu verhängen," (...).

Nach den Ausführungen des Strafgerichts handelte es sich bei der vom Kläger begangenen Tat somit um eine im unteren Bereich anzusiedelnde Beihilfe zur Steuerhehlerei, die sich jedoch lediglich als psychische Förderung der Haupttat darstelle. Das hierfür verhängte Strafmaß ist ersichtlich überwiegend generalpräventiv motiviert.

Zwar entspricht es höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass die Behörden und Gerichte grundsätzlich davon ausgehen dürfen, dass die aus Anlass einer strafgerichtlichen Verurteilung verfügte Ausweisung als Teil kontinuierlicher Verwaltungspraxis zur Verwirklichung des generalpräventiven Gesetzeszwecks der Ausweisungsermächtigung geeignet ist (vgl. z. B. BVerwG, Urt. v. 26.02.1980 - BVerwG 1 C 90.76 -, BVerwGE 60, 75 [77]; Beschl. v. 21.12.1990 - BVerwG 1 B 30.90 -, Buchholz 402.24 [AuslG] § 10 Nr. 127). Demgemäss kommen z. B. auch Urkundsdelikte (BVerwG, Beschl. v. 15.04.1986 - BVerwG 1 B 56.86 -) und Vermögensdelikte wie etwa Hehlerei (vgl. BVerwG, Beschl. v. 28.04.1982 - BVerwG 1 B 38.82 -, vgl. dazu auch BVerfG, Beschl. v. 22.07.1982 - 1 BvR 740/82 -) oder Steuerhinterziehung (vgl. BVerwG, Beschl. v. 27.01.1989 - BVerwG 1 B 9.89 -) als Grundlage für eine generalpräventive Ausweisung in Betracht.

Gleichwohl hat die ausweisende Behörde eine individuelle Prüfung der Gesamtumstände vorzunehmen und auch jene Gesichtspunkte in den Blick zu nehmen, die den Ausländer entlasten oder aufgrund derer die Ausweisung als unangemessene Härte erscheint.

Für den Kläger zu 1. sprechen hier, dass es sich um eine Erstverurteilung handelt und sein Tatbeitrag - selbst nach Einschätzung des Strafgerichts - eher minimal war. Auf dieser Grundlage sowie unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Klägers, insbesondere seines Verhaltens im Vollzug hat die Strafvollstreckungskammer nach hälftiger Verbüßung der Strafe, den Rest zur Bewährung - wenn auch unter Beiordnung eines Bewährungshelfers - ausgesetzt. Dass der Kläger seitdem (bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids) strafrechtlich relevante Verfehlungen welcher Art auch immer begangen hat, trägt die Beklagte nicht vor.

Da die Ausweisung keine unangemessene Folge der Straftat sein darf, ist in Ansehung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch die (seinerzeit) achtjährige Aufenthaltsdauer des Klägers zu 1. im Bundesgebiet und seine damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Integration, die regelmäßig eine die Rückkehr erschwerende Lockerung der Bindungen zu seiner Heimat zur Folge hat, erhebliches Gewicht zu beizumessen (BVerwG, Urt. v. 13.11.1979 - BVerwG 1 C 100.76 -, BVerwGE 59, 112 [114 f.]). Ausweislich der zur Gerichtsakte gereichten Bescheinigung ist er zumindest seit April 1996 bei der Firma D. als Kraftfahrer beschäftigt und insoweit in der Lage seiner Familie aufgrund beruflicher Tätigkeit ein wirtschaftliches Auskommen zu sichern, welches nach Bekunden seiner Ehefrau, der Klägerin zu 2., demnächst durch deren eigene Berufstätigkeit ergänzt wird. Die soziale Integration der Kläger wird seitens der Beklagten nicht bezweifelt.

2. Die Berufung der Klägerin zu 2. ist zulässig, jedoch unbegründet.

Der angegriffene Bescheid in der Fassung des Widerspruchsbescheides ist derzeit noch rechtmäßig und verletzt die Klägerin zu 2. nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO).

2.1. Die Klägerin zu 2. hat zunächst keinen Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis aus eigenständigem Aufenthaltsrecht.

§ 19 Abs. 1 Nr. 1 AuslG in der ab dem 01.06.2000 geltenden Fassung, nach dem eine Aufenthaltserlaubnis im Falle der Aufhebung einer ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges, von dem in § 17 Abs. 1 AuslG bezeichneten Aufenthaltszweck unabhängiges Aufenthaltsrecht verlängert wird, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat, ist auf die am 5. November 1992 geschlossene Erstehe der Klägerin zu 2. nicht anwendbar; denn diese ist bereits im Mai 1995 rechtskräftig geschieden worden. Die vor Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft nach der Vorgängerfassung des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG geltende Bestandszeit von vier Jahren hat die Klägerin zu 2. ersichtlich nicht erreicht.

2.2. Die Klägerin zu 2. vermag ihren Anspruch auch nicht aus § 18 Abs. 1 Nr. 3 AuslG aus Gründen des Ehegattennachzugs herzuleiten; denn ihre zweite, im April 1996 geschlossene Ehe bestand zum Zeitpunkt der Einreise im Jahre 1991 noch nicht.

2.3. Eine Erteilung der Aufenthaltserlaubnis an die Klägerin zu 2. unter den Voraussetzungen des § 18 Abs. 2 AuslG scheitert derzeit an der Wirkung des fehlenden Aufenthaltsrechts des Klägers zu 1., dessen Aufenthaltserlaubnis durch die ausgesprochene Ausweisung vernichtet ist (§ 44 Abs. 1 Nr. 1 AuslG); denn nach der Regelung des § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG lassen Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung unberührt (vgl. etwa VGH BW, Beschl. v. 28.11.1991 - 1 S 2601/91 -, InfAuslR 1992, 41; OVG NW, Beschl. v. 25.04.1995, NVwZ-RR 1996, 173 ; HessVGH, Urt. v. 08.05.1995, EZAR 032 Nr. 11 und Beschl. v. 17.08.1995, NVwZ-RR 1996, 112; OVG Bremen, Beschl. v. 17.01.1992, NVwZ-RR 1993, 216; ThürOVG, Beschl. v. 15.12.1998, ThürVBl 1999, 88).

Widerspruch und Klage ändern somit nichts am Eintritt der Wirksamkeit der Ausweisung; unabhängig davon, dass dem Kläger zu 1. hieraus keine nachteiligen Folgen erwachsen dürfen (vgl. dazu Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 80 RdNrn. 75 ff,. m. w. N.); denn die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage führen allgemein zu einer Vollziehbarkeitshemmung im weitesten Sinn, deren Schutz mittelbar auch die Klägerin zu 2. genießt.

Mit Rechtskraft dieses Urteils endet aber die auf die Verfahrensdauer beschränkte Wirksamkeit der Ausweisung des Klägers zu 1. (§ 72 Abs. 2 Satz 2 AuslG), so dass der Kläger zu 1. so zu behandeln ist, als wäre seine Aufenthaltserlaubnis nicht erloschen, dies zugleich mit der unmittelbaren Folge, dass der Klägerin zu 2. die begehrte Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage von § 13 Abs. 1 i. V. m. §§ 17, 18 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 AuslG zu erteilen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11; 711 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 1 VwGO vorliegt.

Ende der Entscheidung

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