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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 13.07.2006
Aktenzeichen: 2 L 570/04
Rechtsgebiete: BlmSchG, 4.BlmSchV, VwGO


Vorschriften:

BlmSchG § 10
BlmSchG § 19
BlmSchG § 67 IX
4.BlmSchV § 2
VwGO § 124 II Nr. 1
VwGO § 124 II Nr. 3
VwGO § 124 II Nr. 4
1. Eine angeblich nur unrichtige Anwendung eines in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten und vom Tatsachengericht nicht in Frage gestellten Rechtsgrundsatzes auf den Einzelfall stellt keine Abweichung im Sinne des Zulassungsrechts dar.

2. Rechtsfragen, die sich auf ausgelaufenes Recht beziehen, haben trotz anhängiger Fälle regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung, da nur eine für die Zukunft geltende Klärung herbeigeführt werden soll.

3. Ebenso wie "nachgewachsene" entscheidungserhebliche Tatsachen Zweifel an der Richtigkeit einer erstinstanzlichen Entscheidung begründen oder zerstreuen können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.06.2002 - 7 AV 1.02 -, DÖV 2003, 123; Beschl. d. Senats v. 19.09.2005 - 2 L 324/04 -), können auch während des Verfahrens auf Zulassung der Berufung eingetretene Rechtsänderungen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils in Frage stellen oder bestätigen (vgl. VGH BW, 06.03.2003 - 8 S 393/03 -, 2003, 607). Das gilt jedenfalls dann, wenn die im Zeitpunkt der Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz gegebene Sach- und Rechtslage maßgebend ist.

4. Der Fall, dass vor dem 01.07.2005 eine Klage auf Erteilung einer Genehmigung für eine Windfarm mit bis zu 50 m hohen Windkraftanlagen erhoben wurde, für die seit dem 01.07.2005 selbständige Baugenehmigungen erforderlich und ausreichend sind, hat in der Übergangsregelung des § 67 Abs. 9 BImSchG keine ausdrückliche Regelung erfahren; hierfür gelten mangels anderweitiger Bestimmung die allgemeinen Vorschriften.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 L 570/04

Datum: 13.07.2006

Gründe:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

1. Die Berufung ist nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO wegen der geltend gemachten Abweichung von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.06.2004 (4 C 9.03 -, BVerwGE 121, 182) zuzulassen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 21.06.2000 - 2 M 98/00 -, JMBl ST 2000, 64, m. w. Nachw.) muss bei diesem Zulassungsgrund dargelegt werden, dass das Verwaltungsgericht einen abstrakten, aber inhaltlich bestimmten, seine Entscheidung tragenden Rechtssatz entweder ausdrücklich gebildet hat oder sich doch aus der Entscheidung eindeutig ergibt, dass das Verwaltungsgericht von einem abstrakten, fallübergreifenden Rechtssatz ausgegangen ist und seinen Erwägungen zugrunde gelegt hat. Der aus der Entscheidung des Verwaltungsgerichts gewonnene, hinreichend bezeichnete Rechtssatz ist sodann einem anderen eindeutig gegenüberzustellen, der aus der konkreten Entscheidung im Instanzenzug zu gewinnen ist. Zwar kann eine Abweichung "stillschweigend" geschehen (Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, NJW-Schriftenreihe, Heft 14, RdNr. 114); es muss sich jedoch auch dann um eine abweichende "Entscheidung" handeln; eine angeblich nur unrichtige Anwendung eines in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten und vom Tatsachengericht nicht in Frage gestellten Rechtsgrundsatzes auf den Einzelfall stellt keine Abweichung im Sinne des Zulassungsrechts dar (BVerwG, Beschl. v. 18.12.1990 - BVerwG 5 ER 625.90 -, Buchholz 310 [VwGO] § 132 Nr. 294). Bei der Divergenzzulassung steht der Gesichtspunkt der Wahrung der Rechtseinheit und Rechtsanwendungsgleichheit im Vordergrund (vgl. BVerwG, Beschl. v. 27.02.1997 - 5 B 155/96 -, Buchholz 310 § 132 Abs 2 Ziff 1 VwGO Nr. 15).

Der Beklagte hat indes nicht dargelegt, welchen abstrakten, fallübergreifenden Rechtssatz das Verwaltungsgericht in Bezug auf die immissionsschutzrechtliche Genehmigungspflicht von Windkraftanlagen gebildet haben soll. Er macht lediglich geltend, das Verwaltungsgericht habe die im benannten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten Kriterien nicht (genügend) berücksichtigt.

2. Die Rechtssache hat auch nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Dieser Zulassungsgrund verlangt, dass eine konkrete, aber generalisierbare, aus Anlass dieses Verfahrens zu beantwortende, in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausreichende Rechtsfrage aufgeworfen wird, die um der Einheitlichkeit der Rechtsprechung willen der Klärung bedarf und noch nicht (hinreichend) geklärt worden ist. Die Rechtsfrage muss für eine Vielzahl, jedenfalls Mehrzahl von Verfahren bedeutsam sein; jedoch reicht allein der Umstand nicht aus, dass der Ausgang des Rechtsstreits auch für andere Personen von Interesse sein könnte oder sich vergleichbare Fragen in einer unbestimmten Vielzahl ähnlicher Verfahren stellen (OVG LSA, Beschl. v. 04.04.2003 - 2 L 99/03).

Der Beklagte hält für klärungsbedürftig, "ob die Antragstellung von meist zwei beantragten Windkraftanlagen isoliert zu prüfen und bauordnungsrechtlich zu entscheiden ist oder ob unter Einbeziehung der bereits vorhandenen Windkraftanlagen auf dem betreffenden Gelände das Genehmigungsverfahren der Immissionsschutzbehörde obliegt".

Eine grundsätzliche Bedeutung ist schon deshalb zu verneinen, weil diese Frage mittlerweile ausgelaufenes Recht betrifft. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung über genehmigungspflichtige Anlagen - 4. BImSchVO - ist das Genehmigungsverfahren nach § 10 BImSchG durchzuführen für Anlagen nach Spalte 1 der Anlage zur Verordnung bzw. für Anlagen der Spalte 2, u. a. wenn aufgrund einer Vorprüfung eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden muss. Unter Ziffer 1.6 der Anlage in der bis zum 30.06.2005 geltenden Fassung vom 27.07.2001 (BGBl I 1950 [1981]) war in Spalte 1 für Errichtung und Betrieb von Windfarmen mit sechs oder mehr Windkraftanlagen das förmliche Genehmigungsverfahren nach § 10 BImSchG angeordnet. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 der 4. BImSchVO ist das vereinfachte Genehmigungsverfahren nach § 19 BImSchG durchzuführen für die in Spalte 2 des Anhangs genannten Anlagen. Unter Ziffer 1.6 der Anlage in der bis zum 30.06.2005 geltenden Fassung war in Spalte 2 für Errichtung und Betrieb von Windfarmen mit 3 bis weniger als sechs Windkraftanlagen das vereinfachte Genehmigungsverfahren angeordnet. Nach dem zitierten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.06.2004 (a. a. O.) war entscheidend für das Vorhandensein einer "Windfarm" im Sinne der vorgenannten Regelungen der räumliche Zusammenhang der einzelnen Anlagen. Eine Mehrzahl von Betreibern schloss die Anwendung der Nr. 1.6 des Anhangs zur 4. BImSchV nicht aus. Von einer Windfarm war auszugehen, wenn drei oder mehr Windkraftanlagen einander räumlich so zugeordnet waren, dass sich ihre Einwirkungsbereiche überschnitten oder wenigstens berührten; für die Durchführung eines bauordnungsrechtlichen Verfahrens war in diesem Fall kein Raum. In Nr. 1.6 der Anlage zur 4. BImSchV in der ab dem 01.07.2005 geltenden Fassung vom 20.06.2005 (BGBl I 1687) sind nur noch Windkraftanlagen mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 m in Spalte 2 aufgeführt mit der Folge, dass für alle Anlagen mit einer Höhe bis zu 50 m - unabhängig von ihrer Zahl - nur noch eine Baugenehmigung erforderlich ist.

Rechtsfragen, die sich auf ausgelaufenes Recht beziehen, haben trotz anhängiger Fälle regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung, da nur eine für die Zukunft geltende Klärung herbeigeführt werden soll (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.12.1995 - BVerwG 6 B 35.95 -, NVwZ-RR 1996, 712, m. w. Nachw.). Dies gilt zwar dann nicht, wenn die Klärung noch für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zeit von Bedeutung ist; für das Vorliegen dieser Voraussetzung ist der Antragsteller aber grundsätzlich darlegungspflichtig (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.02.2002 - BVerwG 6 B 63.01 -, Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 36). Unabhängig davon, ob dieses Darlegungserfordernis auch dann besteht, wenn die Rechtsänderung - wie hier - nach Ablauf der Darlegungsfrist des § 124 Abs. 4 Satz 4 VwGO eintritt, ist im konkreten Fall nichts dafür ersichtlich, dass der außer Kraft getretenen Nr. 1.6 der Anlage zur 4. BImSchV in der bis zum 30.06.2005 geltenden Fassung noch eine solche Bedeutung zukommt.

Trotz ausgelaufenen Rechts kann eine Sache zwar auch dann klärungsbedürftig bleiben, wenn sich bei der gesetzlichen Bestimmung, die der außer Kraft getretenen Vorschrift nachgefolgt ist, die streitigen Fragen in gleicher Weise stellen (BVerwG, Beschl. v. 26.02.2002, Beschl. v. 20.12.1995, a. a. O.). So liegt es hier indessen nicht.

Im Übrigen wäre die vom Beklagten aufgeworfene Rechtsfrage nicht verallgemeinerungsfähig gewesen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte im genannten Urteil vom 30.06.2004 (a. a. O.) die maßgeblichen Kriterien aufgestellt, bei denen nach den damals geltenden Rechtsvorschriften von einer immissionsschutzrechtlich genehmigungspflichtigen "Windfarm" auszugehen war, nämlich dann, wenn drei oder mehr Windkraftanlagen einander räumlich so zugeordnet waren, dass sich ihre Einwirkungsbereiche überschnitten oder wenigstens berührten. In welchen Fällen diese Voraussetzungen vorlagen, hing von den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten und Anlagentypen ab und war daher keiner grundsätzlichen Klärung zugänglich.

3. Schließlich bestehen auch nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Im Rahmen dieses Zulassungsgrundes beruft sich der Beklagte wiederum darauf, das Verwaltungsgericht habe die Maßstäbe, die das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 30.06.2004 (a. a. O.) aufgestellt hat, nicht beachtet. Aber auch insoweit ist die mittlerweile erfolgte Rechtsänderung zu berücksichtigen mit der Folge, dass jedenfalls nunmehr keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen.

Ebenso wie "nachgewachsene" entscheidungserhebliche Tatsachen Zweifel an der Richtigkeit einer erstinstanzlichen Entscheidung begründen oder zerstreuen können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.06.2002 - 7 AV 1.02 -, DÖV 2003, 123; Beschl. d. Senats v. 19.09.2005 - 2 L 324/04 -), können auch während des Verfahrens auf Zulassung der Berufung eingetretene Rechtsänderungen die Richtigkeit des angefochtenen Urteils in Frage stellen oder bestätigen (vgl. VGH BW, 06.03.2003 - 8 S 393/03 -, 2003, 607). Das gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier bei einer Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Baugenehmigung - die im Zeitpunkt der Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz gegebene Sach- und Rechtslage maßgebend ist. Denn es kommt im Rahmen des Zulassungsgrunds nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht darauf an, ob schon bei Ergehen der erstinstanzlichen Entscheidung Zweifel an deren Richtigkeit angebracht gewesen wären, sondern darauf, ob sie im Zeitpunkt der Entscheidung über den Zulassungsantrag objektiv bestehen (VGH BW, Beschl. v. 06.03.2003, a. a. O.).

Da die beiden hier streitigen Anlagen eine Gesamthöhe von nur 40 m aufweisen, besteht für sie seit dem 01.07.2005 keine Genehmigungspflicht nach dem BImSchG, unabhängig davon, wie viele weitere Windenergieanlagen sich in ihren Einwirkungsbereichen befinden. Eine solche Genehmigungspflicht folgt auch nicht aus der Übergangsregelung in § 67 Abs. 9 Satz 3 BImSchG. Danach werden Verfahren auf Erteilung einer Baugenehmigung für Windkraftanlagen, die vor dem 01.07.2005 rechtshängig geworden sind, nach den Vorschriften der 4. BImSchV und der Anlage 1 des UVP-Gesetzes in der bisherigen Fassung abgeschlossen. Diese Vorschrift gilt nur für Anlagen mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 m. Sie ist im Zusammenhang zu lesen mit Satz 1 des § 67 Abs. 9 BImSchG, auf den in Satz 3, Halbsatz 2 verwiesen wird. Danach gelten Baugenehmigungen für Windkraftanlagen mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 m, die bis zum 01.07.2005 erteilt worden sind, als Genehmigungen nach dem BImSchG. Der Fall, dass vor dem 01.07.2005 eine Klage auf Erteilung einer Genehmigung für eine Windfarm mit bis zu 50 m hohen Windkraftanlagen erhoben wurde, für die seit dem 01.07.2005 selbständige Baugenehmigungen erforderlich und ausreichend sind, hat in der Übergangsregelung keine ausdrückliche Regelung erfahren; hierfür gelten mangels anderweitiger Bestimmung die allgemeinen Vorschriften (vgl. Feldhaus, Immsissionsschutzrecht, Band 1, Teil II, § 67 BImSchG RdNr. 81).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 1 GKG. Danach bestimmt sich die Wertfeststellung nach der sich aus dem Antrag der Klägerin für sie ergebenden Bedeutung der Sache. In Verfahren wegen der Erteilung baurechtlicher Genehmigungen für Windenergieanlagen nimmt der Senat als Streitwert regelmäßig 10 vom Hundert der Herstellungskosten an (vgl. OVG LSA, Beschl. v. 30.07.2002 - 2 O 246/02 -, JMBl.LSA 2002, 205). Diese schätzt der Senat - wie das Verwaltungsgericht - auf 500.000,00 DM (255.645,94 €).

Ende der Entscheidung

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