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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 27.12.2006
Aktenzeichen: 2 L 66/05
Rechtsgebiete: BauO LSA, GG, VwGO


Vorschriften:

BauO LSA a.F. § 84 Abs. 3 S. 1
DDR-BevBauwVO § 11
GG Art. 14 Abs. 1
VwGO § 124 Abs. 2
1. Grundsätzlich ist die Behörde befugt, auch dann noch gegen bauordnungswidrige Zustände einzuschreiten, insbesondere die Beseitigung einer baulichen Anlage anzuordnen, wenn sie diese längere Zeit geduldet hat; das schlichte Unterlassen bauaufsichtlichen Einschreitens hindert den Erlass einer solchen Verfügung ohne Hinzutreten besonderer einzelfallbedingter Umstände grundsätzlich nicht.

2. Aus § 11 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 der Verordnung über Bevölkerungsbauwerke vom 08.11.1984 (DDR-GBl S. 433) lässt sich ein baurechtlicher Bestandsschutz, der seine Grundlage in der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG findet, nicht herleiten. Diese Vorschrift verschaffte lediglich eine verfahrensrechtliche Rechtsposition, indem sie die Betroffenen vor einem Einschreiten gegen die rechtswidrigen Baumaßnahmen im Wege der Beseitigungsanordnung bewahrte, ohne allerdings das Gebäude zu "legalisieren". Daraus folgt allerdings auch, dass diese Rechtsposition nicht stärker sein kann als der aus Art. 14 Abs. 1 GG abgeleitete Bestandsschutz.

3. Ein Bauwerk verliert seine (bestandsschutzrechtliche) Identität, wenn der Eingriff in den vorhandenen Bestand so intensiv ist, dass er die Standfestigkeit des gesamten Gebäudes berührt und eine statische Nachberechnung des gesamten Gebäudes erforderlich macht, oder wenn die für die Instandsetzung notwendigen Arbeiten den Aufwand für einen Neubau erreichen oder gar übersteigen, oder wenn die Bausubstanz ausgetauscht oder das Bauvolumen wesentlich erweitert wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.03.2001 - 4 B 18.01 -, NVwZ 2002, 92).

4. Ein durch Art. 14 Abs. 1 GG vermittelter Bestandsschutz geht verloren, wenn ein Flachdach beseitigt und stattdessen ein Satteldach mit ausgebautem Dachgeschoss aufgebaut wird.

5. Unter welchen Voraussetzungen eine sog. Hinterlandbebauung planungsrechtlich zulässig ist, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 28.11.1989 - 4 B 43.99 u. a. -, NVwZ-RR 1990, 294). Danach kann ein Vorhaben der Hinterlandbebauung im unbeplanten Innenbereich (ausnahmsweise) zulässig sein, wenn es den in seiner Umgebung bisher gewahrten Rahmen zwar überschreitet, aber nicht geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche und erst noch ausgleichsbedürftige Spannungen zu begründen oder zu erhöhen.

6. Eine "Abweichung" von einer Entscheidung eines anderen Oberverwaltungsgerichts kann keine Zulassung wegen Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4), sondern nur wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) rechtfertigen.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 L 66/05

Datum: 27.12.2006

Gründe:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.

Ohne Erfolg wenden die Kläger ein, die angefochtene Beseitigungsverfügung sei fehlerhaft, weil die Bauaufsichtsbehörden den nicht genehmigten Bau über einen Zeitraum von 10 Jahren in Kenntnis sämtlicher relevanter Tatsachen geduldet hätten und sie daher schutzwürdig in den Bestand des Gebäudes hätten vertrauen dürfen. Grundsätzlich ist die Bauaufsichtsbehörde befugt, auch dann noch gegen bauordnungswidrige Zustände einzuschreiten, insbesondere die Beseitigung einer baulichen Anlage anzuordnen (§ 84 Abs. 3 Satz 1 BauO LSA a. F.), wenn sie diese längere Zeit geduldet hat; das schlichte Unterlassen bauaufsichtlichen Einschreitens hindert den Erlass einer solchen Verfügung ohne Hinzutreten besonderer einzelfallbedingter Umstände grundsätzlich nicht (vgl. Beschl. d. Senats v. 25.08.2004 - 2 M 262/04 - m. w. Nachw.). Im Übrigen waren im konkreten Fall die Bauaufsichtsbehörden in dem von den Klägern genannten Zeitraum nicht untätig. So ordnete der damals zuständige Landkreis A-Stadt mit Verfügung vom 08.10.1993 die Einstellung der Bauarbeiten an, nachdem er im Februar 2003 von den ungenehmigten Baumaßnahmen Kenntnis erlangt hatte. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies das Regierungspräsidium Halle mit Bescheid vom 11.07.1994 zurück. Eine sich daran anschließende Klage nahm der Kläger zu 1 zurück. Auf den am 05.08.1999 gestellten Bauantrag des Klägers zu 1 prüfte die Beklagte die Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17.04.2000 ab. Das sich daran anschließende Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Mit Schreiben vom 23.11.2001 hörte die Beklagte den Kläger zu dem beabsichtigten Erlass einer Ordnungsverfügung an. Bei dieser Sachlage konnten die Kläger im Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Verfügung am 11.03.2002 nicht schutzwürdig darauf vertrauen, dass eine Beseitigungsanordnung nicht mehr ergehen werde.

Die Beseitigungsanordnung ist auch nicht deshalb unverhältnismäßig, weil das Gebäude in seiner ursprünglichen Gestalt bereits im Jahre 1982 errichtet worden war und daher vor den streitigen Umbaumaßnahmen wegen § 11 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 der Verordnung über Bevölkerungsbauwerke vom 08.11.1984 (DDR-GBl S. 433), geändert durch die zweite Verordnung vom 13.07.1989 (DDR-GBl. S. 191) - BevBauwV - eine Beseitigungsverfügung nicht mehr hätte ergehen können (vgl. hierzu Beschl. d. Senats v. 17.04.2004 - 2 L 13/02 -). Entgegen der Annahme der Kläger lässt sich daraus ein baurechtlicher Bestandsschutz, der seine Grundlage in der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG findet, nicht herleiten (vgl. ThürOVG, Urt. v. 18.12.2002 - 1 KO 639/01 -, BRS 65 Nr. 206). Die Vorschrift des § 11 Abs. 3 BevBauwV verschaffte lediglich eine verfahrensrechtliche Rechtsposition, indem sie die Betroffenen vor einem Einschreiten gegen die rechtswidrigen Baumaßnahmen im Wege der Beseitigungsanordnung bewahrte, ohne allerdings das Gebäude zu "legalisieren" (vgl. Beschl. d. Senats v. 17.04.2004, a. a. O.). Daraus folgt allerdings auch, dass diese Rechtsposition nicht stärker sein kann als der aus Art. 14 Abs. 1 GG abgeleitete Bestandsschutz. Dieser rechtfertigt zwar auch die für die Erhaltung des Bestands notwendigen Reparaturmaßnahmen; keine derartigen Reparaturmaßnahmen sind aber solche Baumaßnahmen, die so umfangreich sind, dass die Identität der baulichen Anlage nicht mehr erhalten bleibt (vgl. Beschl. d. Senats v. 24.06.2004 - 2 L 457/04 -, Juris). Ein Bauwerk verliert seine (bestandsschutzrechtliche) Identität, wenn der Eingriff in den vorhandenen Bestand so intensiv ist, dass er die Standfestigkeit des gesamten Gebäudes berührt und eine statische Nachberechnung des gesamten Gebäudes erforderlich macht, oder wenn die für die Instandsetzung notwendigen Arbeiten den Aufwand für einen Neubau erreichen oder gar übersteigen, oder wenn die Bausubstanz ausgetauscht oder das Bauvolumen wesentlich erweitert wird (BVerwG, Beschl. v. 21.03.2001 - 4 B 18.01 -, NVwZ 2002, 92). Gemessen daran können keine ernstlichen Zweifel daran bestehen, dass mit den vom Kläger zu 1 vorgenommenen Umbaumaßnahmen, der Beseitigung des Flachdachs und dem Aufbau eines Satteldachs mit ausgebautem Dachgeschoss, selbst ein durch Art. 14 Abs. 1 GG vermittelter Bestandsschutz verloren gegangen wäre. Ein solches in seiner Identität verändertes Gebäude ist baurechtlich wie ein neu errichtetes Gebäude zu behandeln, das insgesamt sowohl hinsichtlich seiner Bausubstanz als auch hinsichtlich seiner bisherigen Nutzung keinen Bestandsschutz mehr genießt, sondern stattdessen an den heutigen baurechtlichen Vorschriften zu messen ist (vgl. Beschl. d. Senats v. 24.06.2004, a. a. O.). Ob sich das Gebäude aufgrund der veränderten Dachform "optisch" besser einfügt, wie die Kläger meinen, ist insoweit unerheblich.

2. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zuzulassen. Besondere Schwierigkeiten liegen vor, bei erheblich über dem Durchschnitt liegender Komplexität der Rechtssache, im Tatsächlichen besonders bei wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Zusammenhängen, wenn der Sachverhalt schwierig zu überschauen oder zu ermitteln ist, im Rechtlichen bei neuartigen oder ausgefallenen Rechtsfragen (Meyer-Ladewig in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 124 RdNrn. 27, 28).

Besondere Schwierigkeiten in diesem Sinne bestehen indes nicht. Solche ergeben sich insbesondere nicht auf Grund der Lage des mit der streitigen Lagerhalle bebauten Teils des Grundstücks. Das Verwaltungsgericht hat die Frage, ob sich dieser Grundstücksteil vor In-Kraft-Treten des Bebauungsplans Nr. 21 "Flemminger Weg" im Jahr 1995 im Außenbereich (§ 35 BauGB) oder im unbeplanten Innenbereich (§ 34 Abs. 1 BauGB) befand, offen gelassen. Selbst wenn die Annahme der Kläger zutreffen sollte, dass diese Frage entscheidungserheblich ist, ist nicht dargelegt, weshalb die Abgrenzung von Innen- und Außenbereich im konkreten Fall besondere Schwierigkeiten aufweisen soll. Ebenso wenig ist hinreichend dargelegt, weshalb die Beantwortung der Frage, ob (im Fall der Zuordnung dieses Grundstücksteils zum unbeplanten Innenbereich) eine unzulässige Hinterlandbebauung vorliegt, besondere Schwierigkeiten bereiten soll. Unter welchen Voraussetzungen eine Hinterlandbebauung planungsrechtlich zulässig ist, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Beschl. v. 28.11.1989 - 4 B 43.99 u. a. -, NVwZ-RR 1990, 294) kann ein Vorhaben der Hinterlandbebauung im unbeplanten Innenbereich (ausnahmsweise) zulässig sein, wenn es den in seiner Umgebung bisher gewahrten Rahmen zwar überschreitet, aber nicht geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche und erst noch ausgleichsbedürftige Spannungen zu begründen oder zu erhöhen. Aufgrund welcher Umstände die Anwendung dieses Grundsatzes auf den konkreten Fall überdurchschnittlich schwierig sein könnte, lässt sich den Ausführungen der Kläger nicht entnehmen. Der Umstand, dass - wie sie vortragen - im Gebiet des Bebauungsplans vor dessen In-Kraft-Treten "bauliche Strukturen" bestanden und mit der Überplanung des Gebiets ein "neues Wohngebiet mit einer differenzierten Nutzung und unterschiedlicher Baudichte" erstellt werden sollte, lässt noch keine Rückschlüsse darauf zu, ob eine Hinterlandbebauung auf dem Baugrundstück bodenrechtliche Spannungen begründet oder erhöht und weshalb die Beantwortung dieser Frage auf besondere Schwierigkeiten stößt. Im Übrigen erscheint es nahe liegend, dass eine Lagerhalle im rückwärtigen Teil eines Grundstücks im Hinblick auf die Nutzung benachbarter Grundstücke, deren rückwärtige Grundstücksteile zu einem zumindest nicht unerheblichen Teil als Ruhebereiche genutzt werden, Konflikte und damit auch bodenrechtliche Spannungen auslösen kann.

3. Die Berufung ist auch nicht wegen "grundsätzlicher Bedeutung" (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.

Dieser Zulassungsgrund verlangt nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 04.04.2003 - 2 L 99/03 -, m. w. Nachw.), dass eine konkrete, aber generalisierbare, aus Anlass dieses Verfahrens zu beantwortende, in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausreichende Rechtsfrage aufgeworfen wird, die um der Einheitlichkeit der Rechtsprechung willen der Klärung bedarf und noch nicht (hinreichend) geklärt worden ist.

Die von den Klägern aufgeworfenen Fragen, "inwieweit durch die Aufbringung des Satteldachs der Bestandsschutz gänzlich entfallen ist" und "inwieweit neuer Bestandsschutz durch die Untätigkeit der zuständigen Behörden während eines Zeitraums von 10 Jahren unter der Berücksichtigung der 3 gestellten nachträglichen Bauanträge entstanden ist" lassen sich - unabhängig davon, ob damit überhaupt verallgemeinerungsfähige Fragen aufgeworfen werden - ohne weiteres anhand der oben bereits zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung beantworten.

4. Soweit die Kläger geltend machen, das Verwaltungsgericht sei von der Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts vom 18.12.2002 (a. a. O.) abgewichen, rechtfertigt dies nicht die Zulassung der Berufung wegen Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO).

Da es insoweit nicht auf die Abweichung von einer Entscheidung irgendeines Oberverwaltungsgerichts ankommt, sondern nur auf die Abweichung von einer Entscheidung des dem Verwaltungsgericht im Rechtzug übergeordneten Oberverwaltungsgerichts (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., § 124 RdNr. 12), könnte eine von der Entscheidung des Thüringer Oberverwaltungsgerichts abweichende Rechtsprechung keine Zulassung wegen Divergenz, sondern nur wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) rechtfertigen. Für eine "grundsätzliche Bedeutung" ist indes keine Rechtsfrage aufgeworfen, die den oben genannten Anforderungen entspricht.

Im Übrigen steht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auch nicht in Widerspruch zu dem zitierten Urteil des Thüringer Oberverwaltungsgerichts. In dieser Entscheidung hob das Gericht den dort angegriffenen Bescheid (nur) insoweit auf, als darin dem Grundstückseigentümer die Beseitigung eines in den Jahren 1983 bis 1984 - also unter der Geltung der BevBauwV - errichteten Anbaus aufgegeben und die Nutzung dieses Anbaus und des Ursprungsgebäudes untersagt worden war. Den Entscheidungsgründen mag entnommen werden können, dass die Schutzwirkung des § 11 Abs. 3 BevBauwV für das Ursprungsgebäude nicht dadurch verloren ging, dass der Eigentümer "nach 1990" ohne Baugenehmigung dieses Gebäude um einen weiteren Anbau (Windfang) erweiterte und ein seit 1980 bestehendes Nebengebäude zu einer Doppelgarage ausbaute. Bei Baumaßnahmen dieser Art kann die Identität des Hauptgebäudes gewahrt sein. Bei dem Austausch eines Flachdachs durch ein Satteldach mit ausgebautem Dachgeschoss ist dies - wie bereits dargelegt - nicht der Fall.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes i. d. F. des Art. 1 des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes v. 05.05.2004 (BGBl I 718) - GKG -. Da Streitgegenstand zwei unterschiedliche, an zwei Adressaten gerichtete Verwaltungsakte sind (Beseitigungsanordnung und Duldungsverfügung), ist der zweifache Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG zugrunde zu legen.

Ende der Entscheidung

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