Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 13.04.2007
Aktenzeichen: 2 M 44/07
Rechtsgebiete: VwGO, AufenthG


Vorschriften:

VwGO § 123
AufenthG § 60a Abs. 2
AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2
1. Tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG bedeutet, dass für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist. Ist der Zeitraum ungewiss ist, ist die Abschiebung auszusetzen.

2. Bei tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung ist der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund gegeben, wenn der Ausländer ohne die begehrte Aussetzung der Abschiebung der Gefahr ausgesetzt ist, strafrechtlich verfolgt zu werden. In diesem Fall und bei hoher Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der Hauptsache ist eine Vorwegnahme der Hauptsache zulässig.


OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT BESCHLUSS

Aktenz.: 2 M 44/07

Datum: 13.04.2007

Gründe:

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Abschiebung des Antragstellers auszusetzen und ihm darüber eine Bescheinigung auszustellen, zu Unrecht abgelehnt. Der Antragsteller hat den geltend gemachten Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung.

Gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Tatsächliche Unmöglichkeit bedeutet nach dem Sinn dieser Vorschrift, dass für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist; nicht ausreichend ist hingegen eine vorübergehende zeitliche Verzögerung in Folge administrativer Vorkehrungen; ist der Zeitraum ungewiss, ist die Abschiebung auszusetzen (Hailbronner, Ausländerrecht, Band 1, § 60a A 1 § 60a AufenthG, RdNr. 51; vgl. auch OVG Berlin, Beschl. v. 27.03.1998 - 3 S 2.98 - EZAR 045 Nr. 8). Das Bundesverwaltungsgericht hat bereits zu den Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 2 AuslG entschieden (Urt. v. 21.03.2000 - 1 C 23.99 -, InfAuslR 2000, 366 [367]), die Systematik des Ausländergesetzes lasse grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Vielmehr gehe das Gesetz davon aus, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben werde oder zumindest eine Duldung erhalte. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben werde, sehe das Gesetz nicht vor. Für die Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG gilt nichts anderes. Allerdings darf, soweit die Abschiebung nach den gegebenen Umständen nicht aussichtslos erscheint, ein fehlgeschlagener Abschiebungsversuch vorausgesetzt werden, bevor von einer tatsächlichen Unmöglichkeit ausgegangen werden kann (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21.05.1996 - 1 B 78.96 -, Juris).

Nach diesem Maßstab ist von einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG auszugehen. Wann der Antragsteller abgeschoben werden kann, ist völlig ungewiss. Die vier bislang vorgesehenen Abschiebetermine (30./31.08.2006, 16.11.2006, 12.01.2007 und 13.03.2007) konnte der Antragsgegner nicht einhalten, weil es die malische Botschaft trotz anders lautender Versprechungen und ungeachtet bereits erfolgter Flugbuchungen bisher abgelehnt hat, dem Antragsteller das für eine Abschiebung erforderliche Passersatzpapier auszustellen. Soweit der Antragsgegner nunmehr vorträgt, die Botschafterin der Republik Mali habe bei einem Gespräch im Auswärtigen Amt am 05.03.2007 erklärt, sie sei bis zur Präsidentenwahl am 27.04.2007 bzw. 04.05.2007 gehindert, Passersatzpapiere auszustellen, habe aber zugesagt, dies unmittelbar nach der Wahl zu tun, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Angesichts der bisher von der malischen Botschaft offenbar verfolgten Hinhaltetaktik und nicht eingehaltener Zusagen erscheint es weiterhin ungewiss, ob innerhalb eines vorausschaubaren Zeitraums das für eine Abschiebung erforderliche Passersatzpapier ausgestellt wird. Es bleibt dem Antragsgegner unbenommen, die Aussetzung der Abschiebung zu befristen (vgl. hierzu VGH BW, Beschl. v. 27.11.2006 - 1 S 2216/06 -, Juris) oder zu gegebener Zeit zu widerrufen.

Ohne rechtliche Bedeutung ist es im Übrigen, ob es der Antragsteller mit zu vertreten hat, dass eine Abschiebung bislang nicht möglich war (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.03.2000, a. a. O.).

Der Anspruch auf Ausstellung einer Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung ergibt sich aus § 60a Abs. 4 AufenthG.

Der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung weiter erforderliche Anordnungsgrund (Dringlichkeit) liegt ebenfalls vor. Es ist dem Antragsteller nicht zuzumuten, den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Er ist ohne die begehrte Aussetzung der Abschiebung der Gefahr ausgesetzt, strafrechtlich verfolgt zu werden (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 27.03.1998, a. a. O.).

Nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer entgegen § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 48 Abs. 2 sich im Bundesgebiet aufhält. Gemäß § 3 Abs. 1 AufenthG dürfen sich Ausländer nur dann im Bundesgebiet aufhalten, wenn sie einen anerkannten oder gültigen Pass oder Passersatz besitzen, sofern sie von der Passpflicht nicht durch Rechtsverordnung befreit sind. Die Passpflicht kann der Antragsteller derzeit - unstreitig - nicht erfüllen. Nach § 48 Abs. 2 AufenthG genügt ein Ausländer, der einen Pass weder besitzt noch in zumutbarer Weise erlangen kann, der Ausweispflicht mit der Bescheinigung über einen Aufenthaltstitel oder die Aussetzung der Abschiebung, wenn sie mit den Angaben zur Person und einem Lichtbild versehen und als Ausweisersatz bezeichnet ist. Eine Grenzübertrittsbescheinigung, die hier für den Antragsteller ausgestellt wurde und deren "Gültigkeitsdauer" der Antragsgegner mehrfach jeweils um einige Wochen verlängert hat, ist kein weiterer Ausweisersatz neben den in § 48 Abs. 2 AufenthG und § 55 AufenthV genannten Dokumenten (vgl. BayVGH, Beschl. v. 31.01.2002 - 24 ZE 02.8 -, Juris). Die Grenzübertrittsbescheinigung ist nicht gesetzlich geregelt, sondern lediglich in den Vorläufigen Anwendungshinweisen zum AufenthG vorgesehen. Nach Nr. 50.4.1.2 dieser Hinweise handelt es sich bei der Grenzübertrittsbescheinigung um einen Nachweis in der Form eines amtlichen Vordrucks über die freiwillige Ausreise des Ausländers innerhalb der Ausreisefrist im Sinne von § 50 Abs. 2 AufenthG.

Nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 wird ebenso bestraft, wer ohne die erforderliche Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 1 Satz 1 sich im Bundesgebiet aufhält, vollziehbar ausreisepflichtig ist und dessen Abschiebung nicht ausgesetzt ist. Eine Strafbarkeit nach dieser Vorschrift scheidet zwar aus, solange eine dem Ausländer gesetzte Ausreisefrist nicht abgelaufen ist. Die Pflicht zum Verlassen des Bundesgebiets wird durch die Ausreisefrist in der Weise modifiziert, dass sich der Ausländer trotz vollziehbarer Ausreisepflicht noch bis zum Ablauf der Frist in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten darf (vgl. Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 42 RdNr. 8; Hailbronner, Ausländerrecht, § 50 RdNr. 13; Westphal in: Huber, Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, § 42 RdNr. 76). Der weitere Aufenthalt ohne erforderliche Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung ist daher bis zum Ablauf der Ausreisefrist auch nicht strafbar nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (vgl. Westphal, a. a. O.; VerfGH Berlin, Beschl. v. 31.03.2003 - 34/00 -, InfAuslR 2003, 225). Es ist im konkreten Fall aber fraglich, ob die dem Antragsteller gesetzte Ausreisefrist abgelaufen ist. Mit Bescheid vom 28.06.2006 wurde der Antragsteller aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Bescheides zu verlassen. Zwar enthält die für den Antragsteller ausgestellte Grenzübertrittsbescheinigung als Ausreisfrist den 10.08.2006, und der Antragsgegner hat deren "Gültigkeitsdauer" mehrfach jeweils um einige Wochen verlängert. Es erscheint aber rechtlich zweifelhaft, ob eine Grenzübertrittsbescheinigung oder die Verlängerung ihrer "Gültigkeitsdauer" die (auf der Grundlage von § 50 Abs. 2 AufenthG) durch Verwaltungsakt festgesetzte Ausreisefrist modifizieren kann. Eine Grenzübertrittsbescheinigung ist keine ausländerrechtliche Entscheidung, auf Grund derer die aufenthaltsrechtliche Stellung eines Ausländers geregelt wird, sondern ein Dokument, durch das die tatsächliche Ausreise von ausreisepflichtigen Ausländern aus dem Bundesgebiet kontrolliert wird (vgl. SächsOVG, Beschl. v. 11.12.2001 - 3 BS 222/01 - EZAR 224 Nr. 29). Zwar soll nach einer Entscheidung des LG Kempten (Urt. v. 14.12.1998 - Ns 223 Js 8593/97 -, AuAS 199, 125) eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (nunmehr § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) ausscheiden, solange sich ein Ausländer während der Gültigkeitsdauer einer Grenzübertrittsbescheinigung im Bundesgebiet aufhält. Höchstrichterlich entschieden ist diese Frage aber noch nicht. Es erscheint nicht zumutbar, den Antragsteller, der nunmehr offensichtlich einen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung hat, mit dieser rechtlichen Unsicherheit bis zu einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren zu belasten.

Eine andere Beurteilung ist auch nicht deshalb geboten, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschl. v. 06.03.2003 - 2 BvR 397/02 -, NVwZ 2003, 1250) die Strafgerichte, wenn dem Ausländer keine förmliche Duldung erteilt wurde, von Verfassungs wegen gehalten sind, bei der Frage der Strafbarkeit der Nichtausreise aus dem Bundesgebiet selbstständig zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren; kommen sie zu der Überzeugung, die Voraussetzungen hätten vorgelegen, scheidet eine Strafbarkeit des Ausländers nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) aus. Aber auch insoweit erscheint es nicht hinnehmbar, den Ausländer darauf zu verweisen, nötigenfalls in einem Strafverfahren die Frage, ob ein Duldungsanspruch besteht, klären zu lassen. Zudem hat der Bundesgerichtshof in Kenntnis dieser Rechtsprechung entschieden (Urt. v. 06.10.2004 - 1 StR 76/04 -, InfAuslR 2005, 80), eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG sei aber dann gegeben, wenn die Ausländerbehörde dem Ausländer keine Duldung erteilen könne, weil dieser unbekannten Aufenthalts sei.

Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht schließlich auch nicht das grundsätzliche Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache entgegen. Die Vorwegnahme der Hauptsache ist dann (ausnahmsweise) zulässig ist, wenn die Verweisung auf ein Hauptsacheverfahren zu schlechterdings unzumutbaren Nachteilen für den Antragsteller führen würde und zudem eine hohe Wahrscheinlichkeit des Obsiegens im Hauptsacheverfahren gegeben ist (vgl. hierzu Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., § 123 RdNr. 14, m. w. Nachw.). Dem Antragsteller ist es - wie dargelegt - schlechterdings nicht zuzumuten, das Risiko einer Strafverfolgung in Kauf zu nehmen (vgl. VGH BW, Beschl. v. 29.01.2001 - 13 S 864/00 -, InfAuslR 2001, 330). Es entspricht gerade Sinn und Zweck der förmlichen Aussetzung der Abschiebung, den Ausländer vor strafrechtlichen Folgen zu bewahren (vgl. VGH BW, Beschl. v. Beschl. v. 03.11.1995 - 13 S 2185/95 -, DVBl 1996, 209). Dass eine hohe Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der Hauptsache gegeben ist, ergibt sich aus den oben gemachten Ausführungen zum Anordnungsanspruch.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertentscheidung beruht auf §§ 47; 52 Abs. 2; 53 Abs. 3 Nr. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

Zurück