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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 02.10.2004
Aktenzeichen: 3 BS 392/04
Rechtsgebiete: GG, VersammlG


Vorschriften:

GG Art. 5 Abs. 1
GG Art. 8 Abs. 1
VersammlG § 15 Abs. 1
Auf die Rechtsfigur des sog. Zweckveranlassers können versammlungsrechtliche Auflagen allenfalls dann gestützt werden, wenn nachweisbare Tatsachen auf die vom (rechtsradikalen) Anmelder einer Versammlung bezweckte Provokation von Gewalttätigkeiten durch (linksradikale) Gegner schließen lassen (Anschluss und Fortführung von BVerfG, Beschl. v. 1.9.2000, NVwZ 2000, 1406). Nicht ausreichend ist ein Evidenzschluss. Vielmehr bedarf es der Feststellung z.B. militant-provozierender Begleitumstände, die über die demonstrative Wahl einer Aufzugsstrecke zur Unterstreichung eines rechtlich nicht zu beanstandenden Versammlungsaufrufs hinausgehen müssen.
SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

wegen

Versammlungsrechts; Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz

hier: Beschwerde

hat der 3. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Ullrich, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Drehwald und den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Pastor

am 2. Oktober 2004

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 1. Oktober 2004 - 3 K 1501/04 - geändert, soweit das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers abgelehnt hat. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Ordnungsamtes der Antragsgegnerin vom 29. September 2004 wird auch hinsichtlich der unter Ziffer 1 verfügten Auflage wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides enthaltene Auflage, mit der die Aufzugsstrecke der vom Antragsteller angemeldeten Kundgebung am 3.10.2004 geändert wurde, zu Unrecht abgelehnt. Das Interesse des Antragstellers, die Kundgebung ohne örtliche Änderung wie geplant durchführen zu können, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Auflage, da diese offensichtlich rechtswidrig ist.

Nach § 15 VersammlG kann die zuständige Behörde die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzugs unmittelbar gefährdet ist. Die versammlungsrechtliche Gefahrenprognose muss sich - wie die Formulierung "erkennbare Umstände" zeigt - auf tatsächliche Anhaltspunkte bzw. nachweisbare Tatsachen stützen; nicht ausreichend sind bloße Verdachtsmomente und Vermutungen (BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985, BVerfGE 69, 315).

Das Verwaltungsgericht begründet die von ihm angenommene Gefährdung der öffentlichen Sicherheit damit, dass die vom Antragsteller angemeldete Streckenführung objektiv auf Provokation und Konfrontation der linken Szene in deren Leipziger "Hochburg" Connewitz gerichtet und tatsächlich mit von einer unbestimmten Vielzahl von Anhängern dieser Szene ausgehenden Krawallen zu rechnen sei. Diese Einschätzung, die den Antragsteller - entgegen dessen Verständnis - als sog. Zweckveranlasser behandelt, beruht nach dem Sach- und Streitstand, wie er sich aus dem Vorbringen der Beteiligten und dem Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten ergibt, in doppelter Hinsicht auf unzureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten. Der Senat kann daher offen lassen, ob die Figur des Zweckveranlassers überhaupt zur Rechtfertigung einer versammlungsrechtlichen Auflage wie der streitgegenständlichen herangezogen werden kann (offen gelassen auch von BVerfG, Beschl. v. 1.9.2000, NVwZ 2000, 1406 f.).

Zum einen mangelt es an einer nachvollziehbaren Begründung für die Annahme, dass der Antragsteller mit der von ihm angemeldeten Versammlung darauf abzielt, Gewalt zu provozieren. Die Argumentation des Verwaltungsgerichts, es liege "auf der Hand", dass Demonstrationen der einen Seite in Hochburgen der anderen Seite "zwangsläufig zu erheblichen Konflikten mit einem außerordentlichen Eskalationspotential führen können"; gerade Konfrontation und Eskalation würde durch die Versammlung auf der vom Antragsteller angemeldeten Route "offenkundig veranlasst und [...] 'objektiv' bezweckt", beruht im Wesentlichen auf dem Kriterium der Evidenz. Dieses erlaubt nach Auffassung des Senats jedoch lediglich den Schluss, dass der Antragsteller die in seinem Versammlungsaufruf vom 15.9.2004 gegen die "Mauer in den Köpfen (...) vor allem in denen der Linken" enthaltene Meinungsäußerung, die für Andersdenkende provokativ, gleichwohl aber von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt ist, durch die gewählte Aufzugsstrecke demonstrativ unterstreichen will, was vom Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG, das grundsätzlich auch die Bestimmung des Versammlungsortes umfasst, gedeckt ist (std. Rspr., vgl. BVerfG, Beschl. v. 5.9.2003, NVwZ 2004, 90). Der vom Verwaltungsgericht darüber hinaus gezogene Schluss auf die vom Antragsteller bezweckte Provokation von Gewalttätigkeiten durch Anhänger der linksautonomen Szene ist demgegenüber nicht evident, sondern bedarf der Begründung, die auf nachweisbare - über die Wahl der Aufzugsstrecke hinausgehende - Tatsachen, wie etwa militant-provozierende Begleitumstände, zu stützen ist (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 1.9.2000, aaO). An deren Feststellung fehlt es; sie lassen sich weder dem Inhalt des Versammlungsaufrufs noch dem sonstigen Verhalten des Antragstellers, dem die Antragsgegnerin selbst legalistisches Auftreten in der Vergangenheit bescheinigt, entnehmen.

Darüber hinaus erscheint dem Senat auf der Grundlage der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnisse zweifelhaft, ob die von der Antragsgegnerin und dem Verwaltungsgericht befürchteten Gewalttätigkeiten seitens der linksautonomen Szene mit der für die versammlungsrechtliche Gefahrenprognose erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Laut Bericht des Landesamtes für Verfassungsschutz vom 1.10.2004 können keine konkrete Angaben über ein zu erwartendes Protest- bzw. Störerpotential aus der linksextremistischen Szene gemacht werden, weil sich diese aus Gegenaktivitäten gegen vom Antragsteller geführte Versammlungen in der Vergangenheit "weitestgehend zurückgezogen hatte" und überdies davon auszugehen sei, dass sich deren Kräfte bundesweit auf die zentralen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt und einer Hartz IV-Demonstration am 2./3. Oktober 2004 in Berlin verteilen werden. Der Internetaufruf "The Battle of Leipzig 04: ... Drei Worte wabern durchs Viertel: 1. Mai 1998 ... Und wer weiß, wieviele Leute jetzt wieder "Antifa" für sich entdecken" lässt erkennen, dass selbst die linksautonome Szene die Resonanz ihrer Mobilisierungsversuche nicht abzuschätzen vermag. Vereinzelte, im Vorfeld der vom Antragsteller angemeldeten Versammlung zu verzeichnende Aktionen, wie zwei Graffitis und die Inbrandsetzung mehrerer Container in der Arno-Nitzsche-Straße sowie der Karl-Liebknecht-Straße in der Nacht vom 30.9./1.10 rechtfertigen jedenfalls nicht den Schluss auf entsprechende Aktionen am Tag und vor den Augen der Polizei.

Im Übrigen ist es, selbst wenn Gewalttaten drohen sollten, Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, primär gegen die Störer vorzugehen. Nur unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstandes, für den hier nichts ersichtlich ist und den auch die Antragsgegnerin nicht annimmt (vgl. Bl. 44 der Verwaltungsakte), wäre es gerechtfertigt, den Antragsteller mit der vorbeugenden Verlegung der Versammlungsroute zu beauflagen (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 1.9.2000, aaO).

Soweit das Verwaltungsgericht ohne nähere Ermittlungen angenommen hat, die angemeldete Aufzugsstrecke sei wegen einer bis 9.10.2004 andauernden Verkehrsbeschränkung im Bereich der Bernhard-Göring-Straße "zumindest hinsichtlich des Rückweges" faktisch nicht realisierbar, steht dem möglicherweise entgegen, dass ausweislich der Anordnung der Verkehrsbeschränkung der Rad- und Fußgängerverkehr immer gewährleistet sein muss (Bl. 35 der Verwaltungsakte). Angesichts der Kürze der für die Entscheidung zur Verfügung stehenden Zeit ist der Senat gehindert, die Lage weiter aufzuklären. Die Beteiligten werden ggf. eine Lösung vor Ort zu finden haben. Die Antragsgegnerin kann dem Antragsteller insoweit nicht die mangelnde Bereitschaft zu einem Kooperationsgespräch entgegenhalten, da sie die Verkehrsbeschränkung ohne substantiierte Darlegung erst bei Gelegenheit der gerichtlichen Auseinandersetzung angeführt und nicht zur Grundlage der Auflage gemacht hat. Es ist daher auch nicht erkennbar, dass diese Gegenstand eines Kooperationsgesprächs hätte sein sollen.

Die am Samstag, den 2.10.2004, gegen 13.20 Uhr eingegangene Beschwerdeerwiderung gibt dem Senat keine Veranlassung zu einer anderen Beurteilung. Aus Zeitgründen muss von einer weiteren Begründung abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).



Ende der Entscheidung

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