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Beginn der Entscheidung

Gericht: Saarländisches Oberlandesgericht
Urteil verkündet am 03.05.2005
Aktenzeichen: 4 U 35/05
Rechtsgebiete: ZPO, BGB, PflVG, StVO


Vorschriften:

ZPO § 538 Abs. 2 Ziff. 4
ZPO § 540 Abs. 1 Ziff. 1
BGB § 847
PflVG § 3 Nr. 1
StVO § 3
StVO § 3 Abs. 1
Zum situationsadäquaten Fahrverhalten bei unklarer Verkehrslage auf einer Autobahn.
4 U 313/04 4 U 35/05

Tenor:

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Grund- und Teilurteil des Landgerichts Saarbrücken vom 13. Mai 2004 - 1 O 488/01 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:

a. Der Klageantrag zu 1) auf Ausgleich des bisher entstandenen materiellen Schadens aus dem Verkehrsunfall vom 6.11.1999 ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

b. Der Klageantrag zu 2) auf Zahlung eines in das Ermessen des Gerichts gestellten Schmerzensgeldes ist dem Grund nach gerechtfertigt.

c. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner dem Kläger jeden zukünftig noch entstehenden materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfallereignis vom 6.11.1999 zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

2. Hinsichtlich der Höhe des zuzuerkennenden Schmerzensgeldes wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Landgericht zurückverwiesen.

3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 58.685,64 EUR festgesetzt.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

I. Im vorliegenden Rechtsstreit nimmt der Kläger die Beklagten auf Ersatz seiner materiellen und immateriellen Schäden aus einem Verkehrsunfall in Anspruch, der sich am 6.11.1999 auf der Autobahn bei Kilometer 158 zwischen der Auffahrt und in Fahrtrichtung ereignete.

In diesem Bereich verunglückten insgesamt fünf Fahrzeuge, nachdem der bei der Streithelferin haftpflichtversicherte LKW Öl verloren hatte. Die Polizei stellte auf der Fahrt zur Unfallstelle eine durchgängige Ölspur auf der rechten Fahrbahnseite fest.

Der Kläger befuhr die Autobahn im genannten Bereich als Fahrlehrer in einem Fahrschulwagen der Marke VW-Golf, amtliches Kennzeichen. Am Steuer saß als Fahrschüler der Zeuge S.. Auf einem geraden und übersichtlichen Wegstück nahm der Kläger bereits aus einer Entfernung von 3 bis 4 km vor der späteren Unfallstelle wahr, dass vor ihnen immer wieder Fahrzeuge bremsten. Bei der weiteren Annäherung bemerkte er im Bereich des rechten Grünstreifens einen weißen BMW, der als erstes Fahrzeug auf der Ölspur geschleudert und nach rechts von der Fahrbahn abgekommen war. Der Kläger ließ den Zeugen S. zirka 100 Meter hinter dem verunfallten BMW anhalten, um eventuell erforderliche Hilfe zu leisten.

Nachdem der Kläger sein Fahrzeug verlassen hatte, geriet ein PKW der Marke Renault Twingo ebenfalls ins Schleudern und fuhr in die Mittelleitplanke. Er kam räumlich noch vor Erreichen des klägerischen Fahrzeugs quer auf der Autobahn - halb auf der Überhol- und halb auf der rechten Fahrspur - zum Stehen. Der Kläger beabsichtigte nunmehr, die Unfallstelle abzusichern und ging auf dem Seitenstreifen in Richtung des Twingo. Dabei fuhr ein Motorradfahrer langsam an ihm vorbei.

Zwischenzeitlich näherte sich in der Beklagte zu 2) mit seinem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Fahrzeug, der zunächst mit einer Ausgangsgeschwindigkeit von ca. 160 bis 170 km/h gefahren war. Der Beklagte zu 2) verlangsamte seine Fahrt, nachdem er in einer Entfernung von ca. 2 bis 3 Kilometer auf beiden Spuren der Fahrbahn Fahrzeuge erkannte. Unter streitigen Umständen geriet sein Fahrzeug, das mit einem Allradgetriebe versehen war, ins Schleudern. Um das Fahrzeug zu stabilisieren, beschleunigte der Beklagten zu 2) und wich auf den Standstreifen aus. Im Bereich der linksseitigen Leitplanke kamen in einer Distanz von 166 Metern vor dem klägerischen PKW zwei weitere Fahrzeuge zum Stehen. Angesichts des herannahenden Audi des Beklagten zu 2) warnte der Kläger die anderen Personen auf dem Seitenstreifen und stieß seinen Fahrschüler in die Böschung. Er selbst wurde entweder unmittelbar von dem Audi oder von seinem eigenen Golf, gegen den der Audi geprallt war, erfasst und schwer verletzt. An seinem Fahrzeug entstand Totalschaden.

Der Umfang des unfallbedingten Sachschadens, den der Kläger auf insgesamt 142.681,19 EUR beziffert, ist zwischen den Parteien streitig. Außerdem begehrt der Kläger die Zahlung eines Schmerzensgeldes in der Größenordnung von 105.000 DM.

Der Kläger hat behauptet, der Beklagten zu 2) habe fehlerhaft reagiert. So habe er sein Fahrzeug nicht erheblich abgebremst und seine Geschwindigkeit nicht in einem derartigen Maße reduziert, dass er jederzeit habe zum Stehen kommen können. Nachdem er bereits zuvor die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten gehabt habe, habe er beim Aufprall auf den Fahrschulwagen noch eine Geschwindigkeit von wesentlich mehr als 130 km/h gehabt. Das Schleudern des Beklagtenfahrzeugs sei nicht auf die Ölspur, sondern auf die überhöhte Geschwindigkeit des Beklagten zu 2) zurückzuführen. Ein Ausweichen auf die Standspur sei durch nichts veranlasst gewesen. Auch stelle es nach Auffassung des Klägers keine angemessene Reaktion dar, durch Beschleunigen ein ausgebrochenes Fahrzeug stabilisieren zu wollen, da in Anbetracht der Entfernung von zirka 160 Metern zwischen Twingo und Fahrschulwagen der Beklagte zu 2) in jedem Fall zum Stehen hätte kommen können.

Der Kläger hat beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 142.681,19 EUR nebst 5% Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB seit dem 19.4.2000 zu zahlen;

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen;

3. festzustellen, dass die Beklagten dem Kläger jeden zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfallereignis vom 6.11.1999 zu ersetzen haben, ohne dass es einer erneuten Prüfung bedarf und soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Dem sind die Beklagten entgegengetreten. Die Beklagten behaupten, der Beklagte zu 2) habe durch leichtes Abbremsen seine Geschwindigkeit zunächst auf zirka ein 100 km/h reduziert. Aus einer Distanz von 200 bis 250 Metern zum Unfallbereich habe er einen Fahrspurwechsel vornehmen wollen. Hierbei haben die Beklagten durch ihren Prozessbevollmächtigten zunächst vorgetragen, der Beklagte zu 2) sei von der Überholspur auf die rechte Spur gewechselt, um die aus seiner Sicht freie Standspur zu erreichen. Im Rahmen seiner Parteianhörung vor dem Landgericht hat der Beklagte zu 2) angegeben, er sei von der rechten Fahrspur auf die Überholspur gewechselt, um zwischen Mittelleitplanke und dem quer stehenden Fahrzeug vorbeifahren zu können. Hierbei habe er die Geschwindigkeit beim Wechsel der Spur weiter reduzieren wollen und sei bei diesem Fahrmanöver auf dem Dieselöl ins Schleudern geraten. Durch Gasgeben habe er das Fahrzeug wieder stabilisieren können und gezielt die Standspur erreicht, da dort im Gegensatz zum übrigen Fahrbahnbereich weder Fahrzeuge noch Personen zu erkennen gewesen seien. Völlig überraschend sei vor ihm auf der Standspur der Motorradfahrer aufgetaucht, der offenbar von links kommend auf die Standspur gewechselt sei. Um einen Aufprall auf das Motorrad zu vermeiden, sei der Beklagte zu 2) auf die Böschung ausgewichen und habe gerade noch so die Gewalt über sein Fahrzeug behalten können, dass er nochmals auf die Standspur gelangt sei, wo er jedoch auf den stehenden PKW des Klägers aufgefahren sei.

Das Landgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme im angefochtenen Grund- und Teilurteil der Klage hinsichtlich der geltend gemachten materiellen Schäden dem Grunde nach stattgegeben und festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger als Gesamtschuldner den zukünftig noch entstehenden materiellen Schaden aus dem Unfallereignis zu ersetzen. Hinsichtlich der immateriellen Schadensersatzansprüche hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Es hat hierzu ausgeführt: Dem Kläger stünden keine Ansprüche auf Erstattung seiner immateriellen Schäden zu, da er den ihm obliegenden Beweis dafür, dass der Beklagte zu 2) fahrlässig gehandelt habe, indem er die erforderliche Sorgfalt eines Durchschnittskraftfahrers oder eines wenigstens durchschnittlich geübten Fahrers missachtet habe, nicht habe erbringen können. Hinsichtlich der weiteren tatsächlichen Feststellungen wird auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung gem. § 540 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO Bezug genommen.

Mit der hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger seine abgewiesenen immateriellen Ansprüche weiter.

Der Kläger vertieft seine Auffassung, dass der Beklagte zu 2) die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet habe. Ein umsichtiger Verkehrsteilnehmer in der Situation des Beklagten zu 2) hätte sich bei Erkennen der Gefahrensituation dazu entschieden, seine Geschwindigkeit gegebenenfalls bis zum Schritttempo unter Einsatz der Warnblinkanlage so zu verringern, dass er sein Fahrzeug jederzeit zum Anhalten hätte abbremsen können. Stattdessen habe der Beklagte zu 2) sich dazu entschlossen, die Fahrt fortzusetzen und die Unfallstelle zwischen Mittelleitplanke und dem bereits verunglückten Fahrzeug zu passieren. Hierbei sei der Beklagte zu 2) mit einer Mindestgeschwindigkeit von 80 km/h in die Unfallstelle hineingefahren. Hätte der Beklagte zu 2) den Verkehr beobachtet und in der Gefahrensituation die erforderliche Sorgfalt beobachtet, so hätte er den Fahrschulwagen des Klägers und den BMW sehen müssen.

Der Kläger und seine Streithelferin beantragen,

1. unter Abänderung des am 13.5.2004 verkündeten Urteils des Landgerichts Saarbrücken - Az. 1 O 188/01 - die Beklagten als Gesamtschuldner kostenpflichtig und vorläufig vollstreckbar zu verurteilen, an den Kläger ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld zu zahlen, das einen Betrag von 53.685,64 EUR nicht unterschreiten sollte;

2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner dem Kläger jeden zukünftigen immateriellen Schaden aus dem Unfallereignis vom 6.11.1999 zu ersetzen haben, ohne dass es einer erneuten Prüfung bedarf, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

3. den Rechtsstreit zur Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldanspruchs an das Landgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung. Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

II. A. Die zulässige Berufung ist begründet; sie führt zur Abänderung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung an das Landgericht. Dem Kläger steht dem Grunde nach gem. § 847 BGB (in der vor dem 1.8.2002 geltenden Fassung; im Folgenden: a.F.) i. V. m. § 3 Nr. 1 PflVG ein Anspruch auf Ersatz der ihm entstandenen und künftig noch entstehenden immateriellen Schäden gegenüber beiden Beklagten zu.

1. Mit Erfolg rügt die Berufung, dass der Beklagte zu 2) den Unfall i. S. des § 847 BGB a.F. fahrlässig verursachte, da der Beklagte zu 2) die sich aus der Einhaltung der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften ergebenden Verhaltenspflichten missachtete, indem er sich der späteren Unfallstelle mit unangepasster Geschwindigkeit annäherte. Die gegenteiligen Feststellungen des Landgerichts beruhen auf einem Rechtsfehler (§ 513 Abs. 1 ZPO), da das Landgericht seiner Beweiswürdigung ein zu strenges Beweismaß an den Nachweis eines fahrlässigen Verhaltens zugrundegelegt hat.

a) Die grundlegenden Sorgfaltsanforderungen hinsichtlich der im Straßenverkehr einzuhaltenden Geschwindigkeit sind in § 3 Abs. 1 StVO niedergelegt. Demnach darf der Fahrzeugführer nur so schnell fahren, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht; er hat die Geschwindigkeit den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie seinen persönlichen Fähigkeiten anzupassen. Im Regelfall verhält sich der Fahrer verkehrsgerecht, wenn er sein Fahrzeug innerhalb der übersehbaren Fahrstrecke anhalten kann. Allerdings darf der Fahrzeugführer nicht in jeder Verkehrssituation den durch das Sichtfahrgebot eröffneten Geschwindigkeitsrahmen ausschöpfen. Vielmehr ist insbesondere dann eine Verringerung der Sichtfahrgeschwindigkeit geboten, wenn eine unklare Verkehrslage besteht und der Fahrer die vor ihm liegende Entwicklung des Verkehrs nicht sicher beurteilen kann. So ist vor allem bei Anzeichen eines Unfallgeschehens eine deutliche situationsadäquate Verlangsamung angezeigt, damit der Fahrer notfalls sofort anhalten kann (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 3 StVO Rdnr. 29; Mühlhaus/Janiszewski, StVO, 15. Aufl., § 3 Rdn. 33; zur verkehrsgerechten Geschwindigkeit bei unklarer Verkehrslage vgl. BGH, Urt. v. 10.10.2000 - VI ZR 268/99, VersR 2000, 1556; Urt. v. 5.5.1992 - VI ZR 262/91, VersR 1992, 890; Urt. v. 23.6.1987 - VI ZR 188/86, VersR 1987, 1241; KG, Urt. v. 20.1.1994 - 12 U 4863/93, zit. nach juris, Rdnr. 38 und 45). Wieweit der Fahrer seine Geschwindigkeit bei unklarer Verkehrslage reduzieren muss, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Anforderungen hängen insbesondere davon ab, welches Gefahrenpotential die jeweilige Verkehrssituation in sich birgt. Die Geschwindigkeit ist umso stärker einzuschränken, je größer die drohende Gefahr erscheint. In Anbetracht der Erfahrungstatsache, dass Unfälle auf Autobahnen nicht selten schwerste Schäden verursachen, ist der Fahrer bei unklarer Verkehrslage auf Autobahnen zur Einhaltung der äußersten Sorgfalt verpflichtet.

b) Diese Anforderungen hat der Beklagte zu 2) nicht beachtet:

aa) Allerdings weist das Landgericht mit Recht darauf hin, dass dem Beklagten zu 2) die gefahrene Ausgangsgeschwindigkeit von 160 bis ein 170 km/h nicht vorgeworfen werden kann. Sofern die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit in der konkreten Verkehrssituation eine unangemessene Fahrweise dargestellt haben sollte, ist die Kausalität eines sich hieraus eventuell ergebenden Sorgfaltsverstoßes für den späteren Unfall nicht nachgewiesen. Denn der Beklagte zu 2) hat unwiderlegt vorgetragen, er habe seine Geschwindigkeit durch Wegnehmen des Gases auf 100 km/h reduziert. Damit ist das Landgericht mit Recht davon ausgegangen, dass bei der Annäherung an den Unfallbereich eine höhere Geschwindigkeit als 100 km/h nicht nachgewiesen werden kann.

bb) Weiterhin ist das Landgericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass eine exakte Bestimmung der vom Beklagten zu 2) bei Eintritt in die kritische Verkehrslage gefahrenen Geschwindigkeit nicht möglich ist: Es fehlen die notwendigen objektiven Anknüpfungstatsachen, die den vorkollisionären Fahrverlauf exakt determinieren (GA I Bl. 186: "Das vorkollisionäre weg-, zeit-, und geschwindigkeitsmäßige Anfahrverhalten lässt sich über die fehlende Spurenlage nicht beweiswürdig nachvollziehen.").

cc) Dennoch ist der Vorwurf, dass sich der Beklagte zu 2) unter Verstoß gegen § 3 StVO der Unfallstelle mit unangepasster Geschwindigkeit genähert hat, zur Überzeugung des Senats auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen bewiesen.

aaa) Nach den unangegriffenen Feststellungen des Landgerichts verläuft die Autobahn vor der späteren Unfallstelle zirka drei bis vier Kilometer gerade und übersichtlich. Bereits aus der genannten Entfernung von drei bis vier Kilometern nahm der Kläger den von der Fahrbahn abgekommenen BMW wahr. Der Beklagte zu 2) hat vor dem Landgericht ausgesagt, er habe den BMW aus einer Entfernung von ca. zwei bis drei Kilometern gesehen. Es steht fest, dass hinter dem BMW zum fraglichen Zeitpunkt in einem Abstand zwischen 20 bis 150 Meter der Fahrschulwagen des Klägers mit eingeschalteter Warnblinkanlage abgestellt war. Darüber hinaus hätte der Beklagte zu 2) zumindest auch den auf der Fahrbahn querstehenden Twingo bereits in der Annäherungsphase aus einer Entfernung von zwei bis drei Kilometern sehen können: Es ist unstreitig, dass der Twingo in Fahrtrichtung des Beklagten zu 2) noch vor dem BMW zum Stehen kam. Nach den übereinstimmenden Aussagen des Klägers und des Zeugen S. ist der Twingo verunglückt, nachdem der Kläger sein Fahrzeug bereits abgestellt hatte. Da weder der Beklagte zu 2) noch der Beifahrer (der Zeuge L.) ausgesagt haben, den Unfallvorgang des Twingo beobachtet zu haben, bleibt nur der Schluss, dass der Twingo zum Zeitpunkt des Herannahens an die spätere Unfallstelle bereits quer zur Fahrbahn gestanden haben musste.

bbb) Wenn der Beklagte zu 2) jedoch den im Straßengraben befindlichen BMW wahrnahm, so ist kein Grund ersichtlich, der eine Wahrnehmung der beiden anderen Fahrzeuge verhindert hätte. Dies rechtfertigt den Schluss, dass ein durchschnittlich aufmerksamer Verkehrsteilnehmer in der Situation des Beklagten zu 2) bereits aus einer Entfernung von zwei bis drei Kilometer ein von der Straße abgekommenes Fahrzeug, ein auf dem Standstreifen dahinter stehendes Fahrzeug mit eingeschalteter Warnblinkanlage sowie ein weiteres auf der Fahrbahn stehendes Fahrzeug bemerkt haben musste. Nimmt man den Beklagten zu 2) beim Wort, so hätte ein sorgfältiger Fahrer noch ein weiteres stehendes Fahrzeug auf der linken Fahrspur wahrgenommen. Denn der Beklagte zu 2) hat ausgesagt, er habe beim Näherkommen zur späteren Unfallstelle, nicht nur einen, sondern zwei auf der Fahrbahn querstehende Wagen bemerkt.

ccc) Mithin stellte sich die Verkehrssituation für den herannahenden Beklagten zu 2) als unklare Verkehrslage dar, die die Möglichkeit einer schweren Unfallsituation, in deren Rahmen Personen verletzt wurden oder sich auf der Fahrbahn aufhielten, nicht ausschloss. Hinzukommt, dass ein situationsangemessen aufmerksamer Fahrer in der Annäherung an das Unfallgeschehen Zweifel hegen musste, ob ein Passieren der Unfallstelle überhaupt möglich sein würde. Nach aller Lebenserfahrung musste ein sorgfältiger Fahrer aufgrund der zunächst unbekannten Unfallursache überdies die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die verunfallten Fahrzeuge fahrbahnbedingt zu Schaden gekommen waren. In einer solchen Verkehrslage hätte ein sorgfältiger Fahrer nicht zuletzt zur Warnung des rückwärtigen Verkehrs bereits aus großer Entfernung hinreichende Veranlassung gehabt, seine Geschwindigkeit deutlich, notfalls bis auf Schritttempo zu reduzieren: Diese verkehrsrichtige Verhaltensweise hätte den Fahrer nicht in die Verlegenheit gebracht, in zu großer Nähe zur Unfallstelle sein Fahrzeug aus einer Geschwindigkeit von 100 km/h abzubremsen bzw. mit einer Ausgangsgeschwindigkeit von 100 km/h einen Fahrstreifenwechsel durchzuführen.

Der Vorwurf der unangepassten Fahrweise wird durch folgende Überlegungen verdeutlicht: Unterstellt man, dass ein sorgfältiger Verkehrsteilnehmer die Gefahrenlage aus einer Entfernung von 2.000 Metern hätte erkennen können, so hätte ein solcher Verkehrsteilnehmer bei einer gedachten Geschwindigkeit von 170 km/h ca. 42 Sekunden Zeit gehabt, um die Unfallstelle zu erreichen. Mit jedem weiteren Meter wäre die Gefahrenlage deutlicher zu Tage getreten, weshalb der Beklagte zu 2) in beträchtlichem Abstand zur späteren Unfallstelle nachhaltig Veranlassung hatte, die Geschwindigkeit zu verringern. Diesen Sorgfaltsanforderungen ist der Beklagte zu 2) nicht gerecht geworden.

ddd) Entgegen der Auffassung der Beklagten steht dieser Schlussfolgerung das Ergebnis des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens nicht entgegen. Zwar vertritt der Generalstaatsanwalt in seinem Bescheid vom 10.10.2000 (Beiakte Bl. 110 ff.) die Auffassung, dem Beklagten zu 2) sei in strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf zu machen; er habe sein Fahrzeug beim Ansichtigwerden der Unfallstelle aus einer zuvor gefahrenen Geschwindigkeit von 170 km/h auf ca. 100 bis 120 km/h abgebremst und sei dadurch ins Schlingern geraten. Ein weiteres Bremsen sei dem Beschuldigten indes aufgrund der Ölspur nicht möglich gewesen. Bei der Annäherung an die Unfallstelle habe die Geschwindigkeit ca. 100 km/h betragen und sei weiter abnehmend gewesen.

Diese Feststellungen decken sich nicht mit dem Ergebnis der hiesigen Beweisaufnahme: Der Beklagte hat nämlich nicht ausgesagt, er sei bereits bei der ersten Reduzierung seiner Geschwindigkeit ins Schlingern geraten. Vielmehr ergibt sich aus der persönlichen Anhörung des Beklagten zu 2) im Termin vom 20.2.2003 (GA I Bl. 125) mit Klarheit, dass der Beklagte zu 2) zunächst den Entschluss traf, sich der zumindest bei Anstrengung der gebotenen Sorgfalt als Gefahrenquelle erkennbaren Unfallstelle mit einer Ausgangsgeschwindigkeit von 100 km/h zu nähern. Erst bei dem Versuch, vor der Unfallstelle auf die Überholspur zu wechseln, um zwischen einem der Fahrzeuge und der Mittelleitplanke an der Unfallstelle vorbei zufahren, sei er bei dem hierbei eingeleiteten Bremsvorgang ins Schleudern geraten.

eee) Insbesondere kann sich der Beklagte zu 2) nicht damit entlasten, er sei bereits 1.000 Meter vor dem Twingo ins Schleudern geraten (so seine Aussage GA I Bl. 126): Ein solches Fahrverhalten ist nach der Überzeugung des Senats, die sich mit der in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gekommenen Auffassung der Parteien deckt, nach den Maßstäben der praktischen Vernunft ausgeschlossen. Denn dann hätte der Schleudervorgang bei unverminderter Geschwindigkeit ca. 35 Sekunden gedauert, um die Strecke bis zur späteren Unfallstelle zu überwinden. Nach aller Lebenserfahrung hätte ein solch langer Schleudervorgang bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 100 km/h nicht zu dem Schadensereignis führen können, da selbst ein weniger versierter Fahrer als der Beklagte zu 2) hinreichende Gelegenheit besessen hätte, das ins Schleudern geratene Fahrzeug wieder abzufangen.

fff) Auch der Hinweis des Beklagten zu 2), dass die Gefahrenlage gewissermaßen plötzlich und unvorhersehbar entstanden sei, rechtfertigt keine abweichende rechtliche Beurteilung: Der Beklagte zu 2) bleibt jede Erklärung dafür schuldig, weshalb er die tatsächlich vorhandenen Fahrzeuge erst beim Näherkommen, nicht jedoch zeitgleich mit dem BMW wahrnahm. Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung konnte das Motorrad des Zeugen L. ebenso wenig wie die beiden anderen Fahrzeuge auf der Fahrbahn plötzlich ins Blickfeld des Beklagten zu 2) getreten sein. Sofern das Motorrad - Richtigkeit des Beklagtenvortrags unterstellt - von links kommend aus der Fahrbewegung heraus unmittelbar vor dem Beklagten zu 2) auf die Standspur gewechselt sein sollte, musste das Motorrad zuvor in der Fahrtrichtung des Beklagten zu 2) die mehrere Kilometer gerade verlaufende Autobahn vor dem Beklagten zu 2) in gleicher Richtung hergefahren sein. Ein plötzliches Auftauchen ist bei dieser Sachlage aus Sicht eines aufmerksamen Fahrer nicht plausibel. Insbesondere kann der Beklagte zu 2) nichts daraus herleiten, dass der Motorradfahrer plötzlich und unerwartet in das Gesichtsfeld des Klägers und des Zeugen S. getreten sein mochte. Denn diese Personen befanden sich zum Zeitpunkt der Annäherung des Motorradfahrers bereits auf dem Standstreifen. Ihre Aufmerksamkeit war nicht in gleichem Maße auf den fließenden Verkehr gerichtet, wie dies von einem sich der Unfallstelle nähernden Fahrzeugführer erwartet werden musste. Wenn die Verkehrssituation bei der gebotenen Sorgfalt für einen Durchschnittsfahrer bereits aus einer Entfernung von zwei bis drei Kilometern nicht erst nach dem streitgegenständlichen Unfall (so die Berufungserwiderung GA II Bl. 248), sondern bereits in der Annäherungsphase zum späteren Unfallort als klare Gefahrensituation erkennbar war, so rechtfertigt das Wahrnehmungsdefizit des Beklagten zu 2) den Schluss, dass der Beklagte zu 2) bei der Beobachtung des vor ihm liegenden Verkehrsraums die gebotene Sorgfalt vermissen ließ. Zudem musste er angesichts der Unfallsituation mit solchen Hindernissen rechnen.

ggg) Entgegen der Auffassung der Berufungserwiderung wird der Fahrlässigkeitsvorwurf nicht dadurch relativiert, dass außer dem Fahrzeug des Beklagten zu 2) auch weitere Fahrzeuge der durch die Ölspur geschaffenen Gefahrenlage zum Opfer fielen. Ein Rückschluss aus der Faktizität der Schadensfälle auf die Bewertung des Fahrverhaltens eines einzelnen Fahrers verbietet sich bereits deshalb, weil eine verlässliche empirische Datengrundlage fehlt: Es ist nicht aufzuklären, wieviele Fahrzeuge den Unfallbereich ohne Probleme passierten. Darüber hinaus ist das Fahrverhalten der weiteren zu Schaden gekommenen Fahrzeuge nicht verlässlich aufgeklärt: Dies gilt insbesondere für das erste verunfallte Fahrzeug: Es ist nicht ersichtlich, dass bereits der Fahrer des von der Fahrbahn abgekommenen BMWs konkrete Anhaltspunkte für eine Gefahrensituation besaß. Dass die Gefahrenlage bei Anstrengung der gebotenen Sorgfalt durchaus zu meistern war, wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass es dem Zeugen S. als Fahrschüler ohne weiteres gelang, sein Fahrzeug auf der Standspur sicher abzustellen.

hhh) Schließlich ist anzumerken, dass der Fahrlässigkeitsvorwurf erst recht gerechtfertigt wäre, wenn der Beklagte zu 2) die Absicht besessen haben sollte, die von ihm als Unfallstelle bereits in großer Entfernung erkannte Gefahrensituation mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h anzufahren, um zügig an den verunglückten Fahrzeugen vorbeizufahren.

2. Der nachgewiesene Fahrlässigkeitsverstoß wurde für den Schadensfall kausal: Es besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Unfall bei der gebotenen weiträumigen Annäherung mit einer Geschwindigkeit von allenfalls 50 km/h vermieden worden wäre. In jedem Fall hätte sich für den Beklagten zu 2) bei einer deutlich verringerten Geschwindigkeit in der Annäherung an den Unfallbereich nicht die Notwendigkeit ergeben, das ins Schleudern gekommene Fahrzeug in zu großer Nähe zu dem klägerischen Fahrzeug durch Beschleunigung und Ausweichen auf den Standstreifen abzufangen.

B. Nach alledem hatte die Berufung nach Maßgabe der Tenorierung Erfolg. Auch dem Feststellungsbegehren war in Anbetracht der Schwere der erlittenen Verletzungen (GA I Bl. 20) stattzugeben (BGH, Urt. v. 16.1.2001 - VI ZR 381/99, NJW 2001, 1431 f.; Zöller/Greger, aaO., § 256 Rdnr. 8a). Zur Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldanspruchs war der Rechtsstreit gem. § 538 Abs. 2 Ziff. 4 ZPO auf Antrag des Klägers an das Landgericht zurückzuverweisen, da der Streit über die Höhe des Schmerzensgeldes in Anbetracht des bisherigen Prozessverlaufs noch nicht zur Entscheidung reif ist.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung besitzt und die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtssprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO).

Ende der Entscheidung

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