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Beginn der Entscheidung

Gericht: Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 22.12.2006
Aktenzeichen: 1 LA 125/06
Rechtsgebiete: AsylVfG, AufenthG, EGRL 83/2004


Vorschriften:

AsylVfG § 78 Abs. 3
AufenthG § 25 Abs. 3
AufenthG § 60 a
AufenthG § 60 Abs. 7
EGRL 83/2004 Art 15
1. Ob im Herkunftsland des Ausländers eine existenzielle Gefährdungslage i. S. d. § 60 Abs. 7 AufenthG i. V. m. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG besteht, ist nicht klärungsbedürftig, solange der Ausländer durch einen Abschiebestopp-Erlass im Sinne des § 60 a AufenthG vor einer Rückführung in seinen Heimatstaat geschützt ist.

2. Auch für eine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG ist die Feststellung einer individuellen Bedrohung erforderlich; allgemeine Bürgerkriegs- oder Kriegsgefahren genügen insoweit nicht. Der rechtliche Maßstab hat sich insoweit gegenüber der bisherigen Rechtslage nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht verschoben.

3. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Rückkehr in den Irak landesweit zu einer individuellen und erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder für Freiheit führt, besteht nicht. Weder die angespannte Sicherheitslage noch örtliche Unzulänglichkeiten in der Versorgungslage im Irak begründen einen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG.

4. Zur Feststellung einer existenziellen Extremgefahr genügt es nicht, wenn in einem ärztlichen Schreiben nur ein Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bzw. bescheinigt wird, dass bestimmte Symptome am ehesten auf eine PTBS zurückzuführen seien.

5. Ob nach Aufhebung eines Abschiebestopp-Erlasses eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, hängt nach § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG davon ab, ob dem Ausländer die Ausreise nach den dann maßgeblichen Umständen bzw. seinem Gesundheitszustand möglich und zumutbar ist.


SCHLESWIG-HOLSTEINISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT

BESCHLUSS

Az.: 1 LA 125/06

In der Verwaltungsrechtssache

Streitgegenstand: Asylrecht - Widerruf

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 1. Senat des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts in Schleswig am 22. Dezember 2006 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - Einzelrichter der 6. Kammer - vom 30. November 2006 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Antragsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

Der auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 AsylVfG gestützte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.

1) Die aufgeworfene, als grundsatzbedeutsam erachtete Frage (S. 2 des Zulassungsantrags), "ob die Gefährdungslage für irakische Rückkehrer aufgrund der angespannten Sicherheitslage im Irak eine individuelle Bedrohung ist oder als allgemeine Gefahr i. S. von Ziffer 26 der RL [scil.: der Erwägungsgründe zur Qualifikationsrichtlinie 2004/83 EG] zu beurteilen ist", führt nicht zur Berufungszulassung. a) Die Formulierung der aufgeworfenen Frage lässt schon keine verallgemeinerungsfähige Klärung erwarten, weil sie auf eine (nicht näher konkretisierte, derzeit angenommene) "angespannte" Lage im Irak und auf eine individuelle, also den Einzelfall des Klägers betreffende "Bedrohung" abstellt; soweit sie "allgemeine Gefahren" anspricht, ist unklar, in welcher Hinsicht hier eine Klärung erfolgen soll.

Der Zusammenhang der aufgeworfenen Frage zu § 60 Abs. 7 AufenthG i. V. m. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG hätte eine - zumindest eingrenzbare - Darlegung dazu erfordert, in welcher Hinsicht die Frage einer "ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts" (Art. 15 lit. C der Richtlinie) klärungsbedürftig und -fähig ist.

b) Unabhängig davon wäre die aufgeworfene Frage im zugelassenen Verfahren nicht klärungsbedürftig. Nach dem derzeitigen Sachstand könnte der Kläger im zugelassenen Verfahren keine Entscheidung des Senats nach § 60 Abs. 7 AufenthG (unter Berücksichtigung des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG) beanspruchen.

Dem Kläger wird - derzeit - ein dem § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gleichwertiger Schutz vor einer Abschiebung durch den Erlass des Innenministeriums Schleswig-Holstein vom 30. Juni 2005 (IV 605-212-29.233.20-7) vermittelt. Damit werden die Beschlüsse der Innenministerkonferenzen (zuletzt) vom 19. November 2004 (zu TOP 3, Ziff. 2) und vom 24. Juni 2005 umgesetzt; Rückführungen in den Irak erfolgen derzeit nicht. Damit bedarf es dazu keiner gerichtlichen Entscheidung, weil der Kläger aufgrund der genannten Erlasse bereits in einer Weise vor einer Rückführung in den Irak geschützt ist, die dem Schutz infolge einer gerichtlichen Entscheidung zu § 60 Abs. 7 AufenthG i. V. m. Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG entspricht (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 23.08.2006, 1 B 60.06 u. a. [Juris]; BVerwG, Beschluss v. 28.08.2003, 1 B 192.03, Buchholz 402.240, § 54 AuslG Nr. 7; Urt. v. 12.07.2001, 1 C 2.01 , BVerwGE 114, 379 ff.; Beschl. des Senats v. 02.08.2006, 1 LB 122/05 [S. 13, 15 d. Abdr.]; VGH Mannheim, Urt. v. 04.05.2006, A 2 S 1046/05, DVBl. 2006, 1059 [Ls.]; VGH München, Urt. v. 03.03.2005, 23 B 04.30631, EzAR-NF 051 Nr. 5).

2) Für die weitere, für grundsatzbedeutsam erachtete Frage, ob "es für das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung i. S. v. Art. 15 c RL ausreicht, wenn die Risiken unmittelbar drohen und nicht eine nur entfernt liegende Möglichkeit darstellen oder ob die Verletzung der genannten Rechtsgüter gleichsam unausweichlich sein muss", gilt das zu 1) Ausgeführte entsprechend. Auch diese Frage wäre nur im Zusammenhang mit einer Entscheidung zu § 60 Abs. 7 AufenthG relevant, der es aber im Hinblick auf die fortbestehende Erlasslage nicht bedarf. Anzumerken ist, dass das (auch) nach Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG erforderliche Kriterium einer "individuellen" Bedrohung die Berücksichtigung allgemeiner Bürgerkriegs- oder Kriegsgefahren im Rahmen der Schutzgewährung nicht eröffnet; der rechtliche Maßstab hat sich insoweit gegenüber der bisherigen Rechtslage nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht verschoben (vgl. BVerwG, Urt. v. 08.12.1998, 9 C 4.98, BVerwGE 108, 77; OVG Münster, Urt. v. 05.04.2006, 20 A 5161/04.A [Juris]).

3) Die geltend gemachte Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) liegt nicht vor. Für den Umstand, dass das Verwaltungsgericht zu einer inländischen Fluchtalternative im Irak keine Ausführungen gemacht hat, lässt sich den Urteilsgründen kein tragender "verallgemeinerungsfähiger Grundsatz" entnehmen. Aus den Urteilsgründen ist nicht einmal zu entnehmen, ob dieser "Prüfungspunkt" überhaupt gesehen worden ist. Damit fehlt eine Grundlage für eine Divergenz.

4) Aufgrund der Zulassungsbeschränkung in § 78 Abs. 3 AsylVfG, die bzgl. der dargelegten Gründe (s. o.) ein Berufungsverfahren nicht eröffnet, besteht keine Möglichkeit, die in Satz 1 des erstinstanzlichen Tenors ausgesprochene Verpflichtung zur Abänderung des Bescheides vom 09.11.2005 im Hinblick auf ein "Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG" rechtlich zu überprüfen.

a) Anzumerken bleibt, dass die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ein wissenschaftlichen Mindeststandards entsprechendes Sachverständigengutachten erfordert (BVerwG, Beschl. v. 24.05.2006, 1 B 118.05). In den erstinstanzlich verwerteten "Gutachten" des Dr. Showghi ist nur von einem "Verdacht" auf PTBS (20.11.2006, S. 1) bzw. davon die Rede, dass bestimmte Symptome "am ehesten" auf eine PTBS zurückzuführen seien (05.12.2005, S. 1). Das genügt bei weitem nicht für die Feststellung einer PTBS, wie sie in den Ausführungen auf S. 13-14 des erstinstanzlichen Urteils angenommen wird; ausgehend von der von Dr. Showghi benutzten Formulierung, es sei mit "appellativen selbstgefährdenden Fehlhandlungen" (20.11.2006, S. 2) zu rechnen, ist eine dem § 60 Abs. 7 AufenthG zuzuordnende existenzielle Extremgefahr nicht zu erkennen.

b) Zur Beurteilung der "angespannten Sicherheitslage" im Irak hat der Senat in seinem Beschluss vom 02.08.2006 (1 LB 122/05) ausgeführt:

"2.2.2 Ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG besteht ebenfalls nicht (vgl. dazu bereits Beschl. des Senats v. 12.07.2006, 1 LB 104/05).

2.2.2.1 Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger - im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - bei einer Rückkehr in den Irak landesweit einer individuellen und erheblichen konkrete Gefahr für Leib, Leben oder für Freiheit ausgesetzt wäre, besteht nicht. Eine bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in diese Rechtsgüter zu werden, genügt für die Annahme einer solchen Gefahr nicht (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, a.a.O.). Der Kläger wäre als Rückkehrer wie andere Irakerinnen und Iraker einer - allgemeinen - Gefahr durch Anschläge terroristischer Banden oder durch Kriminelle ausgesetzt. Weder die angespannte Sicherheitslage noch örtliche Unzulänglichkeiten in der Versorgungslage im Irak begründen einen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Soweit daraus Gefährdungen erwachsen, können diese grundsätzlich nur bei einer Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60 a Abs. 1 AufenthG berücksichtigt werden (vgl. die sog. Sperrklausel des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ).

2.2.2.2 Der Rückgriff auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wäre - in verfassungskonformer Anwendung der Vorschrift - nur dann nicht gesperrt, wenn eine derart extreme Gefahrenlage bestünde, dass der Ausländer bei einer Rückkehr gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, a.a.O.), m. a. W., wenn eine mit dem Verfassungsrecht (Art. 1 und 2 GG) unvereinbare Abschiebung drohte.

Eine (derart) extreme Gefahrenlage, die den Kläger individuell und konkret bedroht und deshalb im vorliegenden Fall eine Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG begründen könnte, liegt nicht vor. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Sicherheitslage in Teilen des Iraks nach wie vor sehr instabil ist und auch die Nahrungs-, Trinkwasser- und Stromversorgung in einigen Regionen zeitweise unzureichend ist (vgl. Lagebericht des Ausw. Amtes v. 24.11.2005, zu V. 3). Andererseits sind bewaffnete Anschläge, Auseinandersetzungen oder Konflikte bzw. ausgedehnte Kampfhandlungen seit geraumer Zeit schwerpunktmäßig in bestimmten Regionen (insb. Im Zentralirak) zu verzeichnen. Terroristischen Anschläge sind v. a. die Menschen in der irakischen Zentralregion ausgesetzt, wobei vor allem Polizisten, Soldaten, Intellektuelle, Ärzte und Politiker (auch des früheren Baath-Regimes) gefährdet sind. Im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung des Irak von ca. 24 Mio. Menschen ist eine beachtlich wahrscheinliche individuelle Extremgefährdung des Klägers aus dieser - zu beklagenden - Situation, deren Verbesserung politisches Ziel sowohl der irakischen Regierung als auch der internationalen Militärallianz ist (vgl. SZ v. 04.05.2006), nicht abzuleiten. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Versorgungslage, die die irakische Regierung durch die Verteilung von Nahrungsmitteln abzumildern sucht (AA-Lagebericht, a.a.O.). Abschiebungsschutz analog § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann der 38-jährige Kläger nach alledem nicht beanspruchen; in seinem Fall kann nicht davon ausgegangen werden, dass er als Rückkehrer in den Irak gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sein würde (...)."

An dieser Beurteilung ist festzuhalten; sie wird von anderen Oberverwaltungsgerichten geteilt (vgl. OVG Saarlouis, Urt. v. 29.09.2006, 3 R 6/06 [S. 84 - 98 der Gründe], m. w. N.).

c) Das erstinstanzliche Urteil ist durch einen (entsprechend) geänderten Bescheid umzusetzen. Ob dem Kläger (nach Ende des "Abschiebestopps" aufgrund des o. g. Erlasses des Innenministers vom 30.06.2005) eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, hängt nach § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG davon ab, ob ihm die Ausreise nach den dann maßgeblichen Umständen möglich und zumutbar ist. Dazu wird zu prüfen sein, ob die geltend gemachten gesundheitlichen Gründe bestehen bzw. fortbestehen.

5) Weitere Berufungszulassungsgründe hat die Beklagte nicht dargelegt.

Der Zulassungsantrag ist daher mit der Kostenfolge aus § 83 b AsylVfG, § 154 Abs. 1VwGO abzulehnen.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).



Ende der Entscheidung

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