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Gericht: Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 17.05.2002
Aktenzeichen: 9 A 46/01
Rechtsgebiete: KAG, BauGB, PrFluchtlG


Vorschriften:

KAG § 8
BauGB § 242
PrFluchtlG § 15
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
SCHLESWIG-HOLSTEINISCHES VERWALTUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Az.: 9 A 46/01

In der Verwaltungsrechtssache

Streitgegenstand: Erschließungsbeiträge

hat das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht - 9. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 15. Mai 2002 am 17. Mai 2002 durch die ... als Einzelrichterin für Recht erkannt:

Tenor:

Der Bescheid vom 16.10.2000 und der Widerspruchsbescheid vom 27.12.2000 werden insoweit aufgehoben, als sie einen Betrag in Höhe von 3.447,46 € (6.742,64 DM) übersteigen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen seine Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag für Baumaßnahmen in der Straße "..." im Stadtgebiet der Beklagten.

Der Kläger ist Eigentümer des Hausgrundstücks ..., Gemarkung ..., Flur ..., Flurstück .... Vor Durchführung der Straßenbaumaßnahmen bestand die Fahrbahn der Straße "..." aus einer gefestigten Sanddecke mit einem etwa 40 bis 50 cm tiefen Unterbau aus verschiedenen Schichten von Ziegelbruch, Schotter und Schlacken. Eine Straßenbeleuchtung sowie teilweise Straßenentwässerung waren vorhanden. Schon im Kataster von 1913/1914 (Liegenschaftsbuch 80) war die Straße "..." als Flurstück ...1 als "öffentliche Wege- und Gewässerparzelle" im Eigentum der Beklagten verzeichnet. Bis spätestens zum Jahr 1913 erfolgte der fast vollständige beidseitige Anbau an die Straße. Nach den im Jahre 1999 durchgeführten Straßenbauarbeiten weist die Straße nunmehr einen Ausbauzustand als verkehrsberuhigte Verkehrsmischfläche auf; das Oberflächenwasser wird nun über Straßeneinläufe dem vorhandenen Regenwasserkanal zugeführt, die Straßenbeleuchtung wurde angepasst.

Mit Bescheid vom 16.10.2000 veranlagte die Beklagte den Kläger für die "erstmalige Herstellung des ..." zu einem Erschließungsbeitrag in Höhe von 13.531,52 DM. Sein hiergegen gerichteter Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid vom 27.12.2000 - dem Kläger zugestellt am 03. Januar 2001 - als unbegründet zurückgewiesen. Am 02. Februar 2001 hat der Kläger den Verwaltungsrechtsweg beschritten.

Zur Begründung seiner Klage ergänzt und vertieft er seinen bereits im Widerspruchsverfahren geltend gemachten Vortrag. Er ist der Auffassung, dass es sich bei der Straße "..." vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes bereits um eine funktionsfähige, zum innerörtlichen Verkehr bestimmte Anbaustraße gehandelt habe, so dass sowohl von einer "programmgemäß hergestellten" Straße gemäß PrFluchtlG als auch von einer "vorhandenen" Straße nach preußischem Anliegerbeitragsrecht auszugehen sei. Demgemäss hätte er als Anlieger nicht zu einem Erschließungsbeitrag sondern zu einem Ausbaubeitrag herangezogen werden müssen.

Der Kläger beantragt,

den Erschließungsbeitragsbescheid vom 16.10.2000 und den Widerspruchsbescheid vom 27.12.2000 insoweit aufzuheben, als diese einen Beitrag von mehr als 3.447,46 € festsetzen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Nach ihrer Auffassung ist die Heranziehung des Klägers zur Entrichtung von Erschließungsbeiträgen rechtmäßig, weil die Straße "..." in ... zu keinem Zeitpunkt vor der Erschließung im Jahre 1999 eine fertig hergestellte Straße gewesen sei. Insbesondere habe der Straßenzustand vor der Baumaßnahme nicht den örtlichen Straßenbaugepflogenheiten entsprochen. Daher sei die Straße nicht "programmgemäß" fertiggestellt gewesen; auch könne von keiner "vorhandenen Straße" im Sinne des preußischen Anliegerbeitragsrechts ausgegangen werden, da schon am ungenügenden Ausbauzustand der Straße "..." zum maßgeblichen Zeitpunkt zu erkennen sei, dass ihr Wille - der Wille der Beklagten - nicht darauf gerichtet gewesen sei, diese als "vorhandene Straße" im Sinne des § 15 PrFluchtlG anzusehen.

Die Kammer hat die Entscheidung des Rechtsstreits der Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen. Das Gericht hat nach Maßgabe des Beweisbeschlusses vom 15. Mai 2002 Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen .... Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift, Blatt 230 bis 231 der Gerichtsakten, Bezug genommen. Wegen der Darstellung des Sach- und Streitstandes im einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und auch begründet.

Der Bescheid vom 16.10.2000 und der Widerspruchsbescheid vom 27.12.2000 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, soweit gegen ihn ein über den Betrag in Höhe von 3.447,46 € - nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten der ausbaubeitragsrechtliche Wert - hinausgehender Beitrag festgesetzt worden ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Beklagte ist nicht berechtigt, für die im Jahre 1999 in der Straße "..." durchgeführten Baumaßnahmen Erschließungsbeiträge zu erheben. Aufgrund dieser Baumaßnahmen ist die Straße nicht erstmalig endgültig hergestellt worden; es handelt sich vielmehr um einen Ausbau. Rechtsgrundlage der angefochtenen Bescheide ist deshalb nicht die Satzung der Stadt ...über die Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach § 132 des Baugesetzbuchs vom 01.01.1991, sondern vielmehr § 8 KAG in Verbindung mit der Satzung der Beklagten über die Erhebung von Beiträgen für den Ausbau von Straßen, Wegen und Plätzen in der Stadt ... (Ausbaubeitragssatzung) vom 18. Dezember 1990 (ABS). Der fälschlicherweise auf das Erschließungsbeitragsrecht gestützte Heranziehungsbescheid und der Widerspruchsbescheid sind nach Straßenausbaubeitragsrecht aufrecht zu erhalten (vgl. OVG Schleswig. Urteil vom 08. November 1995, 2 L 175/95).

Bei der Straße "..." handelt es sich um eine "vorhandene Erschließungsanlage" im Sinne von § 242 Abs. 1 BauGB, da die Straße bereits vor dem Jahre 1961 endgültig hergestellt war. Dies hat zur Folge, dass für an dieser Straße nach Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes oder des Baugesetzbuches durchgeführte Baumaßnahmen keine Erschließungsbeiträge erhoben werden können.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 25.02.1964 - I C 88.63, E 18,80/89 f., Urteil vom 16.09.1977 - IV C 99.74 - Buchholz 406.11, § 133 Nr. 62) ist der Begriff der "vorhandenen Erschließungsanlage" lediglich eine andere Bezeichnung für die "bereits hergestellte Erschließungsanlage" im Sinne des (nicht in das Baugesetzbuch übernommenen) § 133 Abs. 4 BBauG. Zu den "bereits hergestellten Erschließungsanlagen" des § 133 Abs. 4 BBauG gehörten in den Ländern, in denen bis zum Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes das preußische Anliegerbeitragsrecht galt, zum einen die vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes insgesamt" programmgemäß fertiggestellten Straßen" und zum anderen die "vorhandenen Straßen" im Sinne des ehemaligen preußischen Anliegerbeitragsrechts (vgl. Habermann in: Dewenter/Habermann/Riehl u. a., Kommunalabgabengesetz des Landes Schleswig-Holstein, Kommentar § 8, Rdnr. 115, Stand Oktober 2000; Driehaus: Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 6. Aufl. 2001, § 2 Rdnr. 27).

Es kann dahinstehen, ob die Straße "..." auch eine "programmgemäß fertiggestellte Straße" im Sinne des preußischen Anliegerbeitragsrechts war; jedenfalls war sie eine "vorhandene" Straße im Sinne der Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts zu § 15 PrFluchtlG. Eine Straße war im Sinne des preußischen Anliegerbeitragsrechts vorhanden, wenn sie zu dem Zeitpunkt, in dem die Gemeinde ihr erstes wirksames Ortsstatut erlassen hatte, oder - sofern ein solches nicht bestand - spätestens bei Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes in ihrem damals vorhandenen Zustand mit dem Willen der Gemeinde wegen ihres insoweit für ausreichend erachteten Zustands dem innerörtlichen Anbau und Verkehr zu dienen bestimmt war und gedient hat (vgl. OVG Schleswig, Urteil vom 29. Februar 1966, 2 L 94/94, Die Gemeinde 1996, 276 bis 277; Habermann, a.a.O. § 8 Rdnr. 119; Driehaus, aaO, § 2 Rdnr. 33; Arndt, KStZ 1984, S. 107 ff). Da die Beklagte kein Ortsstatut nach § 15 PrFluchtlG besaß, tritt an die Stelle des sonst mit dem Inkrafttreten des ersten Ortsstatuts bezeichneten Zeitpunkts der letzte Tag, an dem die Gemeinde bzw. Stadt ein solches Statut nach dem alten Recht -vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes - noch hätte in Kraft setzen können, d. h. der 29. Juni 1961 (vgl. Driehaus, aaO, § 2 Rdnr. 32). Eine Straße kann nur dann eine "vorhandene" im Rechtssinne sein, wenn zum maßgeblichen Zeitpunkt der objektive Tatbestand (innerörtliche Gemeindestraße, zur geschlossenen Ortslage gehörender Anbau, innerörtlicher Verkehr, ausreichender Ausbauzustand) und der subjektive Tatbestand (nach dem Willen der Gemeinde wegen des hinreichenden Ausbauzustandes für den innerörtlichen Anbau und Verkehr geeignet) erfüllt waren (vgl. Habermann, a.a.O. § 8, Rdnr. 119, OVG Schleswig, Urteil vom 29.02.1996, - 2 L 94/94 -, Die Gemeinde 1996, 276 bis 277, von Strauß/Torney/Sass in: Straßen- und Baufluchtengesetz vom 02. Juli 1875, 7. Aufl. 1934, Bemerkung 4 b zu § 15 PrFluchtlG, Seite 197).

Die Straße "..." erfüllte zum maßgeblichen Zeitpunkt sowohl die objektiven als auch subjektiven Voraussetzungen einer "vorhandenen Straße"; sie war nicht nur ein Provisorium. Zu den Mindestanforderungen des objektiven Tatbestands gehörte das Vorhandensein einer hinreichend befestigten Fahrbahn, einer - wenn auch primitiven - Straßenentwässerung und einer Straßenbeleuchtung, die einen ungefährdeten Haus- zu Haus-Verkehr zuließen (vgl. Habermann, aaO, Rdnr. 119). Diese Mindestanforderungen erfüllte die streitbefangene Straße zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesbaugesetzes. Sie verfügte bereits über eine hinreichend befestigte Fahrbahn, da die Straße einen kunstgemäßen Unterbau in Form von Packlagen aufwies. Aus den zu den Gerichtsakten gereichten Lichtbildern ist zu erkennen, dass die Straße aus einer ca. 40 bis 50 cm dicken Schichtenfolge aus Ziegelbruch, Schotter und Schlacken bestand. In diesen Zustand war die Straße bereits Anfang der 50-er Jahre versetzt worden. Allein die Tatsache, dass die Fahrbahn weder gepflastert noch mit einer Teerdecke versehen worden war, spricht nicht gegen das Vorhandensein einer Straße (vgl. auch von Strauß/Torney/Sass, aaO, S. 199).

Die Straße besaß auch bereits eine Straßenentwässerung im vorgenannten Sinne. Der diesbezüglich vernommene Zeuge ... gab an, dass die Straße "..." seinerzeit etwa auf der Hälfte der Länge mit einem Oberflächenentwässerungsgraben versehen war, so dass das Wasser über einen offenen Graben ablaufen konnte. Da die Straße im weiteren Verlauf, d. h. in dem Bereich, in dem kein Graben vorhanden war, ansteigt, konnte sich das dort anfallende Wasser ebenfalls im tiefer gelegenen Graben sammeln und abgeleitet werden. Im übrigen ermöglichte der mehrschichtige Unterbau der Straße, dass das restliche Wasser, welches nach Aussage des Zeugen nicht über den Graben abgeleitet wurde sondern Pfützen bildete, versickern konnte.

Das Vorhandensein der Straße ist nicht etwa deshalb zu verneinen, weil diese zum maßgeblichen Zeitpunkt noch über keine befestigten Gehwege verfügte (vgl. zu fehlenden Teileinrichtungen: Arndt, a.a.O. Seite 108; von Strauß/Torney/Sass, aaO, S. 197). Ein ungefährdeter Haus- zu Haus-Verkehr war auch bei dem seinerzeitigen Ausbauzustand möglich, zumal nach Angabe des Zeugen jedenfalls auf der Hälfte der Strecke auf einer Straßenseite sogar ein Gehweg aus Sand vorhanden war; es existierte auch eine Beleuchtung.

Schließlich diente die Straße zum innerörtlichen Anbau und Verkehr und war auch diesbezüglich zu dienen bestimmt. Der beidseitige Anbau der Straße erfolgte bereits in den Jahren 1878 bis 1913. Von einer Widmung war schon 1913/1914 auszugehen, da die Straße als Flurstück 73/1 als "öffentliche Wege- und Gewässerparzelle" im Eigentum des Beklagten seinerzeit im Kataster verzeichnet war.

Da ausdrückliche Willenskundgebungen der Beklagten zur Frage, ob sie - die Beklagte - zum maßgeblichen Zeitpunkt die Straße wegen des hinreichenden Ausbauzustands für den inneren Anbau bestimmt und zur Bewältigung des innerörtlichen Verkehrs geeignet ansah, nicht vorliegen, muss aus den sonstigen Umständen auf den damaligen Willen der Gemeinde bzw. Stadt geschlossen werden (vgl. Arndt, aaO, S. 108, Driehaus, aaO, § 2 Rdnr. 35). Aufgrund der vorliegenden Indiztatsachen ist auch der subjektive Tatbestand zu bejahen. Eine solche Indiztatsache stellt regelmäßig der damalige Umfang der Bebauung dar, wobei eine nahezu vollständige, fast lückenlose Bebauung einer Straße im maßgebenden Zeitpunkt ein Anzeichen dafür sein kann, dass sie von der Gemeinde als vorhandene angesehen worden ist (vgl. Arndt, aaO, S. 109, mwN). So liegt der Fall hier. Auch der Ausbauzustand, insbesondere der kunstgemäße Ausbau durch Packlagen (vgl. Habermann, aaO, Rdnr. 119; Driehaus, aaO, § 2 Rdnr. 35), lässt auf den entsprechenden Willen der Gemeinde schließen.

Nichts anderes ergibt sich unter Berücksichtigung der Angabe des Zeugen ..., dass zum maßgeblichen Zeitpunkt andere Straßen in vergleichbaren Wohnlagen, z. B. in der Straße "...", mit einer Teerdecke und einem abgegrenzten Gehweg versehen gewesen seien. Denn der Zeuge bekundete auch, dass jedenfalls eine weitere Straße im Stadtgebiet der Beklagten - der ...weg - in vergleichbarem Ausbauzustand war wie die streitbefangene Straße.

Wollte man den Rückschluss von objektiven Indiztatsachen auf den Willen der Beklagten im vorliegenden Fall nicht bejahen, ginge dies zu Lasten der Beklagten, so dass auch dann von einer "vorhandenen Straße" im Rechtssinne auszugehen wäre (vgl. Habermann, aaO, Rdnr. 120; Driehaus, aaO, Rdnr. 35).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Sie ist gemäß § 167 Abs. 2 VwGO iVm §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO vorläufig vollstreckbar.

Ende der Entscheidung

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