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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 03.03.2005
Aktenzeichen: 1 B 120/04
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO, SächsBO


Vorschriften:

BauGB § 34
BauNVO § 4
BauNVO § 6
SächsBO § 75 a.F.
SächsBO § 77 n.F.
Eine offene Anstalt des Justizvollzuges, sog. Freigängerhaus, ist seiner Nutzungsart nach weder Wohnnutzung, noch eine Anlage für soziale Zwecke oder Anlage für Verwaltung und deshalb weder in einem allgemeinen Wohngebiet noch in einem Mischgebiet bauplanungsrechtlich zulässig.
SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

Az.: 1 B 120/04

In der Verwaltungsrechtssache

wegen baurechtlichen Nachbarschutzes

hat der 1. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vizepräsidenten des Oberverwaltungsgerichts Dr. Sattler, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Franke und den Richter am Verwaltungsgericht Müller aufgrund der mündlichen Verhandlung

am 3. März 2005

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 28. Mai 2003 - 3 K 1938/00 - geändert. Der Bescheid des Regierungspräsidiums Chemnitz vom 6. Januar 2000 in Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 14. September 2000 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt der Beklagte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen eine dem Freistaat Sachsen erteilte Zustimmung für den Umbau vorhandener Gebäude zu einem sog. Freigängerhaus.

Die Klägerin ist Eigentümerin der Flurstücke Nrn. F1 , F2 , F3 , F4 , F5 , F6 und F7 der Gemarkung G1 , die mit Wohnhäusern bebaut sind und die teilweise an das Vorhabengrundstück A. Straße N1 , Flurstücks-Nr. F8 der Gemarkung G1 in C. grenzen. Ein Bebauungsplan für das Baugrundstück existiert nicht.

Unter dem 7.12.1999 beantragte der Freistaat Sachsen, vertreten durch das Staatliche Vermögens- und Hochbauamt (jetzt: Staatsbetriebe Immobilien- und Baumanagement Niederlassung Chemnitz) die Erteilung einer Zustimmung für den Umbau des Alt- und Neubaus auf dem Baugrundstück zu einem Freigängerhaus der Justizvollzugsanstalt Chemnitz. In dem Freigängerhaus sollen 60 männliche Gefangene untergebracht werden. Die Stadt Chemnitz stimmte der "Nutzungsänderung" zu. Wie die vorhandenen Gebäude zuletzt genutzt wurden, ist unklar.

Unter dem 6.1.2000 erteilte das Regierungspräsidium Chemnitz die Zustimmung, die der Klägerin am 7.1.2000 zugestellt wurde. Der mit Schreiben vom 1.2.2000 eingelegte Widerspruch der Klägerin wurde mit Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Chemnitz vom 14.9.2000 zurückgewiesen. Bei dem fraglichen Gebiet handle es sich um ein Mischgebiet im Sinne von § 6 BauNVO und bei dem Freigängerhaus um ein zulässiges Wohngebäude. Dem Freigängerhaus die Eigenschaft eines Wohngebäudes abzusprechen, werde der sozialen Einordnung einer solchen Einrichtung nicht gerecht. Die Wohnfunktion sei gleichermaßen vorhanden wie in einem Alten- oder Jugendheim. Der Aufenthalt sei nicht Ausfluss des klassischen Strafvollzuges im Wege eines bloßen Wegsperrens; für die Unterbringung sei die Zustimmung des Gefangenen erforderlich. Die Verlegung einer solchen Einrichtung in ein Sondergebiet würde den Resozialisierungserfolg in Frage stellen.

Am 12.10.2000 hat die Klägerin Klage erhoben. Die Eigenart der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks entspreche einem allgemeinen Wohngebiet im Sinne von § 4 BauNVO. In einem solchen Gebiet sei ein Freigängerhaus unzulässig. Entsprechendes würde gelten, wenn angenommen würde, dass es sich bei dem Gebiet um ein Mischgebiet im Sinne von § 6 BauNVO handle. Bei einem Freigängerhaus handle es sich nicht um ein Wohngebäude, denn zum Begriff des Wohnens gehöre eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, die Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie die Freiwilligkeit des Aufenthaltes. Bei einem Freigängerhaus handle es sich auch nicht um eine Anlage für soziale Zwecke im Sinne des § 4 Abs. 2 Ziffer 3 BauNVO. Solche Anlagen dienten der sozialen Fürsorge und öffentlichen Wohlfahrt. Der Begriff umfasse Nutzungen, die unmittelbar auf Hilfe, Unterstützung, Betreuung und ähnliche fürsorgliche Maßnahmen gerichtet seien. Eine Strafvollzugsanstalt verfolge demgegenüber staatspolitische Zwecke der Strafverfolgung und zusätzlich der Wiedereingliederung von Straftätern. Das Vorhaben füge sich auch nicht nach § 34 Abs. 1 BauGB in die bestehende Umgebungsbebauung ein. Es sei seiner Art nach vorbildlos und begründe erhebliche Spannungen, die nur im Wege der Bauleitplanung bewältigt werden könnten.

Nach Durchführung einer Augenscheinseinnahme wies das Verwaltungsgericht Chemnitz die Klage mit Urteil vom 28.5.2003 ab. Die Zustimmung verletzte keine die Klägerin schützenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften. Die Klägerin sei nicht an dem Zustimmungsverfahren zu beteiligen gewesen, weil eine Befreiung von nachbarschützenden Vorschriften weder beabsichtigt gewesen noch erfolgt sei. Das Vorhaben füge sich hinsichtlich der Art der Bebauung in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Bei dem Freigängerhaus handle es sich zwar nicht um Wohnnutzung, aber um eine Anlage für soziale Zwecke im Sinne von § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO. Dies folge aus seiner Zweckbestimmung, nahezu gleiche Lebensverhältnisse wie allgemein herzustellen und damit dem sog. Eingliederungsgrundsatz Rechnung zu tragen. Die Zweckbestimmung des Freigängerhauses verbiete auch eine Gleichstellung von Freigängerhaus und Justizvollzugsanstalt, so dass eine Zulassung eines Freigängerhauses ausschließlich in Sondergebieten nicht sachgerecht sei. Die Eigenart der näheren Umgebung entspreche einem allgemeinen Wohngebiet im Sinne von § 4 BauNVO. Im Bereich der A. straße, T. und des Abschnitts der P. Straße, die die Grundstücke A. Straße N2 und N1 nach Westen und Süden hin einrahmten, befinde sich fast durchweg Wohnbebauung, nämlich genossenschaftlicher Siedlungsbau, mit beispielsweise einem kleinen Blumen- oder einem Obst- und Gemüseladen. Nach Norden und Osten würden die Grundstücke von einer Vielzahl von Garagen gesäumt, daran angrenzend befänden sich mit einer Autowaschanlage und einer Verkehrsabsicherungsservicefirma Gewerbebetriebe, die aufgrund ihrer Lage das Wohnen nicht störten. Das auf dem Grundstück A. Straße N2 befindliche Wohnungslosenprojekt stelle eine Anlage für soziale Zwecke dar. Das Grundstück A. Straße N1 selbst habe in der Vergangenheit als Anlage für soziale Zwecke und vorübergehend als Anlage für Verwaltungen gedient. Das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt. Dass durch das seit 1999 bestehende Freigängerhaus Probleme entstanden seien, die es der Klägerin und ihren Mietern unzumutbar erscheinen ließen, habe die Klägerin nicht geltend gemacht. Einen Anspruch darauf, dass sich die Zusammensetzung der Nachbarschaft nicht ändere, besitze die Klägerin nicht.

Nachdem der Senat mit Beschluss vom 4.2.2004, der der Klägerin am 17.2.2004 zugestellt wurde, die Berufung zugelassen hat, hat die Klägerin ihre Berufung mit am 17.3.2004 beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht eingegangenem Schriftsatz im Wesentlichen damit begründet, dass es sich bei einem Freigängerhaus nicht um eine Anlage für soziale Zwecke im Sinne von § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO handle. Der Resozialisierungsgedanke finde nicht innerhalb des Freigängerhauses statt, sondern außerhalb. Er gelte im Übrigen gem. § 2 StVollG sowohl für den offenen, als auch für den geschlossenen Vollzug. Zu den Anlagen für soziale Zwecke im Sinne der genannten Vorschrift gehörten Anlagen, die der öffentlichen Fürsorge oder der Jugendwohlfahrt dienten. Das Freigängerhaus sei keine Anlage der Sozialverwaltung, sondern der Justizverwaltung und verfolge staatspolitische Zwecke.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 28. Mai 2003 - 3 K 1938/00 - zu ändern und den Bescheid des Regierungspräsidiums Chemnitz vom 6. Januar 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Chemnitz vom 14. September 2000 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die angefochtenen Bescheide.

Dem Senat liegen die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Chemnitz, seine Gerichtsakten zum Zulassungs- und Berufungsverfahren sowie die vorgelegten Verwaltungsvorgänge (4 Heftungen) vor, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren. Auf ihren Inhalt wird zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet.

Der Senat kann entscheiden, obwohl die Staatsbetriebe Immobilien- und Baumanagement Niederlassung Chemnitz (im Folgenden: SIB) nicht zum Verfahren beigeladen sind. Staatsbetriebe sind nach § 26 Abs. 1 SäHO rechtlich unselbstständig und deshalb nicht beiladungsfähig.

I. Die Berufung ist zulässig. Insbesondere fehlt der Klägerin nicht das auch für die Durchführung eines Berufungsverfahrens erforderliche Rechtsschutzbedürfnis. Allerdings ist das Vorhaben der SIB nach § 77 Abs. 1 Satz 3 SächsBO in der seit dem 1.10.2004 geltenden Fassung nicht mehr zustimmungspflichtig, weil die Stadt Chemnitz dem Vorhaben nicht widersprochen hat und Abweichungen, Ausnahmen oder Befreiungen nicht zugelassen worden sind. Nach der Rechtsprechung des Senats (Beschl. v. 15.7.1999, SächsVBl. 1999, 275; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 8.10.1998, NVwZ 1999, 415) führt der Umstand, dass eine im Nachbarrechtsstreit angefochtene Baugenehmigung aufgrund einer Rechtsänderung nicht mehr erforderlich ist, nicht zur Erledigung der Nachbarklage, weil der Nachbar ein Rechtsschutzbedürfnis dafür besitzt, den Eintritt der formellen Legalität des Bauvorhabens zu verhindern. Etwas anderes gelte nur dann, wenn mit der Einführung der Genehmigungsfreiheit dem Bauherren auch rückwirkend die erlangte Rechtsposition hätte entzogen werden sollen, was durch § 89 SächsBO a.F. nicht geschehen sei. An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch hinsichtlich der mit § 89 Abs. 1 SächsBO n.F. identischen Regelung in § 90 Abs. 1 SächsBO n.F. fest. Ein Nachbar, der eine inzwischen an sich nicht mehr erforderliche Baugenehmigung mit Erfolg anficht, ist seinem Ziel auf Abwendung der Verletzung eigener Rechte immerhin etwas näher gekommen, auch wenn er etwa in einem Verfahren auf Einschreiten der Behörde gegen das nicht genehmigte Vorhaben nicht mehr geltend machen kann, es sei formell illegal, und die Frage, ob das Vorhaben ihn materiell in seinen Rechten verletzt, erneut zu prüfen ist. Seine Rechtsposition wäre noch ungünstiger, wenn das Bauvorhaben formell legal wäre. Die o.g. Rechtsprechung ist desweiteren auch auf eine bauaufsichtliche Zustimmung zu übertragen. Bei dieser handelt es sich jedenfalls im Verhältnis zum dem Vorhaben nicht zustimmenden Nachbarn um einen Verwaltungsakt (vgl. dazu Dahlke-Piel, in: Degenhart, SächsBO, Losebl., Stand Juni 2002, § 75 RdNr. 37; Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Böhme, Bauordnungsrecht Sachsen, Losebl. Stand Oktober 2004, § 75 RdNr. 35 f.), und damit wie eine Baugenehmigung jedenfalls insoweit um einen Bescheid, der dem nicht zustimmenden Nachbarn gegenüber in formelle Bestandskraft erwachsen und deshalb dem Vorhaben formelle Legalität verschaffen kann.

II. Die Berufung ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.

Die Klage ist zulässig, insbesondere handelt es sich nach den obigen Ausführungen bei der Zustimmung des Beklagten vom 6.1.2000 im Verhältnis zur Klägerin um einen Verwaltungsakt, den sie im Wege der Anfechtungsklage anfechten kann (§ 42 Abs. 1 VwGO).

Die Klage ist auch begründet, weil die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Die Klägerin ist in ihrem Gebietswahrungsanspruch aus § 34 Abs. 2 BauGB (vgl. dazu nur Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, Losebl. Stand September 2004, § 34 RdNr. 143 m.w.N.) verletzt, weil jedenfalls ihr Grundstück mit der Flurstücks-Nr. F5 mit dem Vorhabengrundstück entweder in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet im Sinne von § 4 BauNVO oder in einem faktischen Mischgebiet im Sinne von § 6 BauNVO liegt und das Vorhaben in beiden Fällen nach § 34 Abs. 2 BauGB bauplanungsrechtlich unzulässig ist. Da die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens in einem bauaufsichtlichen Zustimmungsverfahren sowohl nach der alten Rechtslage (§ 75 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 SächsBO a.F.), als auch nach der neuen Rechtslage (§ 77 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SächsBO n.F. ) zum bauaufsichtlichen Prüfungsumfang gehört, kann offen bleiben, welche Rechtslage für die materielle Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide maßgeblich ist.

1.1. § 34 Abs. 2 BauGB ist anwendbar, weil die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der BauNVO, nämlich demjenigen eines allgemeinen Wohngebietes im Sinne von § 4 BauNVO oder eines Mischgebietes im Sinne von § 6 BauNVO entspricht.

Der räumliche Bereich der "näheren Umgebung" im Sinne von § 34 Abs. 2 BauGB ist danach zu bestimmen, inwieweit sich die Ausführung des Vorhabens auf die Umgebung auswirken kann und inwieweit die Umgebung ihrerseits das Baugrundstück prägt. Dabei ist grundsätzlich die auf dem Baugrundstück vorhandene Bebauung zu berücksichtigen, diejenige in unmittelbarer Nachbarschaft sowie diejenige in der weiteren Umgebung insoweit, als auch diese noch prägend auf das Baugrundstück einwirkt. Dabei geht in der Regel die größere Nähe mit einer stärker prägenden Wirkung Hand in Hand (alles st. Rspr. BVerwG, vgl. nur Urt. v. 18.10.1974, NJW 1975, 460, 461; Urt. v. 26.5.1978, BVerwGE 55, 369). Einer Straße und ihrem Verkehrslärm kann verbindende oder trennende Wirkung zukommen (BVerwG, Beschl. v. 11.2.2000, Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 197).

Prägende Wirkung entfaltet grundsätzlich alles Vorhandene. Einzubeziehen sind die tatsächlich vorhandenen baulichen Anlagen, unabhängig davon, wann die Bebauung der Umgebung und unter welchen auch baurechtlichen Voraussetzungen sie entstanden ist und unabhängig davon, ob sie städtebaulich wünschenswert ist oder nicht. Eine ungenehmigte bauliche Anlage spielt im Rahmen des § 34 BauGB allerdings nur dann eine Rolle, wenn sie in einer Weise geduldet wird, die keinen Zweifel daran lässt, dass sich die zuständige Behörde mit ihrem Vorhandensein abgefunden hat. Dies gilt auch für eine befristet genehmigte Anlage, um deren unbefristete Genehmigung gestritten wird (BVerwG, Beschl. v. 23.11.1998, BauR 1999, 233, 234 = NVwZ-RR 1999, 364,365). Eine frühere Nutzung eines Gebäudes hat keinen Einfluss auf den Gebietscharakter der Umgebung, wenn sie keinen sichtbaren Niederschlag mehr findet, weil sie eingestellt oder beseitigt worden, und mit einer Wiederaufnahme nicht zu rechnen ist (BVerwG, Urt. v. 27.8.1998, NVwZ 1999, 523,525). Außer Betracht bleiben bauliche Anlagen, die von ihrem quantitativen Erscheinungsbild oder nach ihrer Qualität nicht die Kraft zur prägenden Wirkung haben oder völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung als "Fremdkörper" herausfallen (BVerwG, Urt. v. 15.2.1990, BVerwGE 84, 322, 325 f.). Der nach diesen Maßgaben bestimmte Gebietscharakter wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach der BauNVO in einem solchen Gebiet nur ausnahmsweise zulässige bauliche Anlagen vorhanden sind. Dies ist allerdings anders, wenn sie sich nicht auf wirkliche Ausnahmefälle beschränken, sondern gerade als "Ausnahmen" eine eigene prägende Wirkung auf die Umgebung ausüben (BVerwG, Beschl. v. 11.2.2000, Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 197).

Nach diesen Maßstäben können das genannte Flurstück der Klägerin und das Vorhabengrundstück nur entweder in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet oder einem faktischen Mischgebiet liegen. Dies steht aufgrund der Niederschrift des Verwaltungsgerichts Chemnitz über dessen Feststellungen bei seiner Augenscheinseinnahme am 28.5.2003, die von den Beteiligten auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat übereinstimmend bestätigt wurden, den Erklärungen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat und der in der Verwaltungsakte und der Gerichtsakte zum Berufungsverfahren enthaltenen Flurkarte fest. Von einer eigenen Augenscheinseinnahme konnte der Senat deshalb absehen, zumal die Beteiligten eine solche ebenfalls nicht für erforderlich halten. Bei dem für die Bestimmung der Eigenart der Umgebung maßgeblichen Bereich handelt es sich um die Bebauung, die im Westen durch die A. straße, nördlich durch die S. straße entlang dem Bezirkskrankenhaus (wohl F. straße), im Osten durch die A. Straße und im Süden durch die Kurve der P. Straße umschlossen wird. In diesem Bereich ist im Wesentlichen Wohnbebauung vorhanden, die ergänzt wird durch Garagenanlagen, eine Wohnungsloseneinrichtung, dem Gelände einer Verkehrsabsicherungsservicefirma mit weiteren Büros sowie eine Autowaschanlage und kleine Läden. Dies sind Nutzungen, die einem typischen allgemeinen Wohngebiet oder Mischgebiet entsprechen, in dem Wohngebäude, die Wohnungsloseneinrichtung als Anlage für soziale Zwecke oder ebenfalls Wohnnutzung und der Versorgung des Gebiets dienende Läden sowie Garagen als Nebenanlagen allgemein (§ 4 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3, § 6 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5, Nr. 3, § 14 Abs. 1 Satz 1 BauNVO) und die Autowaschanlage und das Verkehrssicherungsunternehmen als nicht störende Gewerbebetriebe (§ 4 Abs. 3 Nr. 2, § 6 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO) sowie die Büros zumindest als Anlagen für Verwaltung (§ 4 Abs. 3 Nr. 3, § 6 Abs. 2 Nr. 5 BauNVO) ausnahmsweise zulässig sind. Die Nutzung des Baugrundgrundstückes in der Zeit vor Verwirklichung des streitgegenständlichen Vorhabens ist allerdings unklar. Jedenfalls ist aber nach der ausdrücklichen Erklärung des Vertreters des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht anzunehmen, dass es bereits zuvor vom Regierungspräsidium Chemnitz geduldet als Freigängereinrichtung der Justizvollzugsanstalt gedient hat. Soweit behauptet wird, auf dem Grundstück habe sich ein "Wohnheim der JVA" befunden (Aktennotiz des Staatlichen Vermögens- und Hochbauamtes vom 30.11.1999, Antwort der Stadt Chemnitz auf die Anfrage eines Stadtrates vom 12.10.1999, Schreiben des Staatlichen Vermögens- und Hochbauamtes vom 11.2.1999), muss es sich hierbei nicht zwangsläufig um ein Freigängerhaus, sondern könnte es sich ebenso gut um ein Wohnheim für Bedienstete des Justizvollzuges gehandelt haben. Außerdem ist nach diesen Erklärungen unklar, bis wann die Nutzung angedauert hat. Soweit sich den Unterlagen eine Nutzung durch die Landwirtschaftsabteilung des Regierungspräsidiums Chemnitz entnehmen lässt, ist diese offensichtlich bereits 1994 aufgegeben worden und war deshalb für die Eigenart der Umgebung zum Zeitpunkt der Erteilung der Zustimmung nicht mehr prägend. Anhaltspunkte dafür, dass das Vorhabengrundstück oder ein anderes Grundstück in diesem Bereich Nutzungen diente, die in einem allgemeinen Wohn- oder einem Mischgebiet nicht allgemein zulässig wären, liegen nicht vor. Je nach dem, wie prägend insbesondere die Autowaschanlage wirkt, handelt es sich bei dem das Grundstück der Klägerin und das Vorhabengrundstück umfassenden Gebiet mithin um ein faktisches allgemeines Wohn- oder um ein faktisches Mischgebiet.

1.2. Sowohl in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet als auch in einem faktischen Mischgebiet ist ein Freigängerhaus nicht allgemein zulässig (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO).

1.2.1. Um Wohnnutzung im Sinne von § 4 Abs. 2 Nr. 1, § 6 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO handelt es sich nicht (ebenso Fickert/Fieseler, BauNVO, 7. Aufl., § 3 RdNr. 16.3; Stock, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 1999, § 3 RdNr. 27; Bielenberg, aaO, § 3 BauNVO, RdNr. 11; aA wohl Hess.VGH, Beschl. v. 2.5.1980, BRS 36 Nr. 183). Zum Begriff des Wohnens gehört eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, die Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie die Freiwilligkeit des Aufenthaltes (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 25.3.2004 - 4 B 15/04 -, zit. nach juris). Diese Merkmale sind bei einem Freigängerhaus als einer Anstalt des Justizvollzuges zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe (§ 10 Abs. 1, § 139, § 141 Abs. 2 StVollG) sämtlich nicht gegeben. Der Umstand, dass ein Gefangener nur mit seiner Zustimmung in einem Freigängerhaus, genauer: einer Anstalt des offenen Vollzugs, untergebracht werden kann (§ 10 Abs. 1 StVollG) ändert daran nichts. Denn ohne diese Zustimmung kann der Gefangene seinen Aufenthaltsort nicht etwa frei wählen, sondern er wird im geschlossenen Vollzug untergebracht (§ 10 Abs. 2 StVollG).

1.2.2. Bei einem Freigängerhaus handelt es sich auch nicht um ein Anlage für soziale Zwecke i.S.v. § 4 Abs. 2 Nr. 3 oder im Sinne von § 6 Abs. 2 Nr. 5 BauNVO (ebenso Fickert/Fieseler, aaO; Ziegler, in: Brügelmann, BauGB, Losebl. Stand Oktober 2004, § 2 BauNVO RdNr. 66; aA Bielenberg, aaO). Anlagen für soziale Zwecke im Sinne dieser Vorschrift sind solche, die - wenn ihr Zweck auch nicht auf die Versorgung des Gebietes gerichtet sein muss - mit den Wohnbedürfnissen im weiteren Sinne in Zusammenhang stehen (Fickert/Fieseler, aaO, § 4 RdNr. 6.3). Dies tut ein Freigängerhaus als offene Anstalt des Justizvollzuges nicht. Eine solche dient - wie geschlossene Justizvollzugsanstalten - der Vollziehung der Freiheitsstrafe (§ 139 StVollG) und unterscheidet sich von den Anstalten des geschlossenen Vollzuges nur darin, dass nur verminderte Vorkehrungen gegen Entweichungen vorgesehen sind (§ 141 Abs. 2 StVollG). Dies mag - auch - soziale Gründe haben, dadurch wird der vornehmliche Zweck der Anstalt, die Strafvollstreckung, aber nicht in den Hintergrund gedrängt. Die Vollziehung der Freiheitsstrafe dient übergeordneten, nicht speziell mit den Wohnbedürfnissen der Bevölkerung in Zusammenhang stehenden, allgemeingesellschaftlichen und staatspolitischen Zwecken. Ob die Ansiedlung eines Freigängerhauses dem Ziel der Wiedereingliederung des Gefangenen, dem im Übrigen auch der geschlossene Vollzug verpflichtet ist (§ 2 Satz 1, § 3 Abs. 3 StVollG), eher dienen kann, wenn sie in der Nähe zu Wohngebäuden erfolgt, kann dahinstehen. Denn dies mag bei der Frage, ob ein Freigängerhaus den übrigen Bewohnern des Gebietes gegenüber die gebotene Rücksichtnahme einhält, eine Rolle spielen, die Begriffe der Nutzungsarten der BauNVO sind demgegenüber anhand der den Baugebieten zugewiesenen allgemeinen Zweckbestimmungen auszulegen und nicht nach justiz- oder sozialpolitschen Erwägungen.

1.3. Bei einem Freigängerhaus handelt es sich auch nicht um eine Anlage für Verwaltung (§ 4 Abs. 3 Nr. 3, § 6 Abs. 2 Nr. 5 BauNVO; anders wohl Ziegler, aaO). Anlagen für Verwaltungen sind solche Einrichtungen, in denen oder von denen aus verwaltet wird (Bielenberg, aaO, § 4 BauNVO, RdNr. 23). Sie dienen nicht dem ständigen, sondern nur dem vorübergehenden, auf eine berufliche Tätigkeit oder die Inanspruchnahme von Leistungen gerichteten Aufenthalt von Menschen. Dies ist bei einem Freigängerhaus, in dem zwar einige Bedienstete arbeiten, im Wesentlichen aber Menschen leben, nicht der Fall.

Die Kostentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO zu entscheiden.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die die Voraussetzungen des § 132 VwGO nicht vorliegen.

Beschluss vom 9. März 2005

Der Streitwert wird unter Änderung des Streitwertbeschluss des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 28. Mai 2003 für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,- € festgesetzt.

Gründe

Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG in der gem. § 72 Nr. 1 GKG n.F. anwendbaren alten Fassung. Dabei orientiert sich der Senat an den Empfehlungen des sog Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der hier anzuwenden Fassung vom Januar 1996 (abgedr. z.B. in Kopp/Schenke, VwGO, 13 Aufl., Anh § 164), wonach bei Klagen eines Nachbarn gegen eine Baugenehmigung mindestens ein Streitwert in Höhe von 10.000,- DM, mithin 5.000,- € anzunehmen ist. Anhaltspunkte für eine höhere Wertminderung der Grundstücke der Klägerin liegen nicht vor. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der Streitwert nicht deshalb um das Fünffache zu erhöhen, weil die Klägerin als Eigentümerin von fünf Grundstücken ihre Nachbarrechte geltend macht. Eine Addition von Streitwerten findet nach dem früher maßgeblichen § 5 ZPO und der nunmehr geltenden Regelung in § 39 GKG n.F. nur statt, wenn mehrere Ansprüche verfolgt bzw. mehrere Streitgegenstände in einem Verfahren betroffen sind. Vorliegend geht es aber nur um einen Anspruch der Klägerin auf Aufhebung derselben bauaufsichtlichen Zustimmung. Aus dem Schriftsatz der Klägerin vom 9.3.2005 ergibt sich nichts anderes. Die Änderung des erstinstanzlichen Streitwertbeschlusses beruht auf § 25 Abs. 2 Satz 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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