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Beginn der Entscheidung

Gericht: Sächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 23.06.2004
Aktenzeichen: 5 E 46/03
Rechtsgebiete: AO, VwGO, ZVG, ZPO


Vorschriften:

AO § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AO § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
VwGO § 47 Abs. 5 Satz 3
VwGO § 183 Satz 1
VwGO § 183 Satz 2
ZVG § 10 Abs. 1 Nr. 3
ZVG § 115 Abs. 1
ZVG § 115 Abs. 3
ZPO § 876
ZPO § 878
1. Ein Gerichtsurteil ist keine Tatsache, deren nachträgliches Bekanntwerden zu einer Aufhebung des Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO führen kann.

2. Das Vollstreckungshindernis aus § 47 Abs. 5 Satz 3 in Verbindung mit § 183 Satz 2 VwGO ist auf Verwaltungsakte entsprechend anwendbar. Hat das Oberverwaltungsgericht eine Norm für nichtig erklärt, auf die ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt gestützt wurde, ist jede zwangsweise Realisierung des mit diesem verfolgten Gemeinwohlinteresses unzulässig. Eine unzulässige Vollstreckung in diesem weiten Sinne kann auch in der Zuteilung des Erlösüberschusses an den Gläubiger einer durch Verwaltungsakt titulierten vermeintlichen öffentlich-rechtlichen Beitragsforderung im Rahmen der Zwangsversteigerung eines Grundstücks des Beitragsschuldners bestehen.

3. Ist die nach § 183 Satz 2 VwGO unzulässige Vollstreckungsmaßnahme nur befristet angreifbar, muss der Schuldner die ihm eröffneten Rechtsbehelfe fristgerecht ergreifen.


SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT Beschluss

Az.: 5 E 46/03

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Abwasserbeitrags

hier: Beschwerde gegen die Nichtbewilligung von Prozesskostenhilfe

hat der 5. Senat des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Raden, den Richter am Oberverwaltungsgericht Kober und den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Schaffarzik

am 23. Juni 2004

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Dresden vom 13. Februar 2003 - 4 K 2751/01 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Beschwerdeverfahrens. Kosten werden nicht erstattet.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Klägers ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten zu Recht abgelehnt.

1. Die Beklagte zog den Kläger mit Bescheid vom 10.4.1997 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 13.10.1999 zu einem Abwasserbeitrag in Höhe von 10.840,- DM für zwei Grundstücke heran. Im Laufe der Zeit setzte sie Säumniszuschläge in einer Gesamthöhe von 3.956,- DM fest. Die Volksbank W. betrieb die Zwangsversteigerung der beiden Grundstücke des Klägers. Die Erteilung des Zuschlags erfolgte durch Beschluss des Amtsgerichts Bautzen vom 23.1.2001. Das Sächsische Oberverwaltungsgericht erklärte mit Normenkontrollurteil vom 22.2.2001 (JbSächsOVG 9, 110) die Abwasserbeitragssatzung der Beklagten vom 21.12.1994 für nichtig. Im Verteilungstermin vom 6.6.2001 stellte das Amtsgericht den Teilungsplan auf. Bei der Verteilung des Überschusses des Versteigerungserlöses wurde die Beklagte wegen des Abwasserbeitrags und der Säumniszuschläge in voller Höhe im Rang vor der Volksbank befriedigt.

Der Kläger beantragte die Aufhebung des Beitragsbescheids und die Auszahlung des Gesamtbetrags von 14.796,- DM an ihn. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10.9.2001 ab. Den Widerspruch des Klägers wies das Landratsamt Kamenz mit Widerspruchsbescheid vom 29.10.2001 zurück. Mit seiner Klage beantragt der Kläger, unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids und des Widerspruchsbescheids den Beitragsbescheid aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 14.796,- DM nebst Zinsen zu verurteilen. Er meint, das Normenkontrollurteil des Oberverwaltungsgerichts sei eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache, die zu einer Aufhebung des Beitragsbescheids nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 c SächsKAG in Verbindung mit § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO führen müsse. Außerdem sei die Vollstreckung im Hinblick auf das Normenkontrollurteil nach § 47 Abs. 5 Satz 3 in Verbindung mit § 183 Satz 2 VwGO unzulässig. Entsprechend § 812 Abs. 1 BGB könne er die Auszahlung des Betrags an sich selbst verlangen. Seine Schuld gegenüber der Volksbank wäre geringer, wenn das Amtsgericht den Überschuss des Versteigerungserlöses nicht der Beklagten zugeteilt hätte.

2. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zutreffend angenommen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO in Verbindung mit § 114 ZPO). Es besteht nicht ansatzweise eine gewisse Wahrscheinlichkeit eines für den Kläger erfolgreichen Ausgangs des Verfahrens. Die Klage wird aller Voraussicht nach abzuweisen sein.

a) aa) Der Antrag auf Aufhebung des Beitragsbescheids - richtig: auf Verpflichtung der Beklagten zur Aufhebung des bestandskräftigen Beitragsbescheids (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO) - findet in § 3 Abs. 1 Nr. 4 c SächsKAG in Verbindung mit § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO keine Grundlage. Das Normenkontrollurteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 22.2.2001, nach dem die Abwasserbeitragssatzung der Beklagten - mit der Folge der Rechtswidrigkeit des hier streitgegenständlichen Beitragsbescheids - nichtig ist, stellt entgegen der Auffassung des Klägers keine zu einem niedrigeren Beitrag führende Tatsache nach jener Vorschrift dar. Eine Tatsache ist ein ontologischer, d.h. der Seinswelt zuzurechnender Umstand, der ein Merkmal eines gesetzlichen Tatbestands erfüllen kann. Ein Gerichtsurteil entspricht dieser Definition nicht. Es wird zwar regelmäßig eine rechtliche Würdigung eines oder mehrerer solcher Umstände enthalten, doch lässt es sich nicht seinerseits als subsumtionsfähiges Sachverhaltsmoment begreifen (vgl. Loose, in: Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Stand Mai 2004, § 173 RdNr. 2 f.).

bb) Auch aus § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG in Verbindung mit § 1 SächsVwVfG (vgl. zur betreffenden Anwendbarkeit Rüsken, in: Klein, Abgabenordnung, 7. Aufl. 2000, § 173 RdNr. 43) kann der Kläger keinen Anspruch auf Aufhebung des Beitragsbescheids - auch nicht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über dessen Aufhebung - herleiten, weil danach die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts in das behördliche Ermessen gestellt und ein Ermessensfehler weder vorgetragen noch ersichtlich ist. Die Beklagte hat in ihrem die Aufhebung versagenden Bescheid vom 10.9.2001 auf die Bestandskraft des Beitragsbescheids sowie darauf verwiesen, dass das Normenkontrollurteil des Oberverwaltungsgerichts an der Bestandskraft nichts ändere. Diese Erwägungen unterliegen keinen rechtlichen Einwänden. Sie werden vielmehr von der Vorschrift des § 183 Satz 1 VwGO getragen, die kraft der umfassenden Verweisung des § 47 Abs. 5 Satz 3 VwGO auch auf Verwaltungsakte (entsprechend) anwendbar ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.7.1978, BVerwGE 56, 172 [176]; Redeker, in: Redeker/von Oertzen, VwGO, 13. Aufl. 2000, § 47 RdNr. 46; J. Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 47 RdNr. 104; Pietzner, in: Schoch/Schmidt/Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand 2003, § 183 RdNr. 51 ff.). Danach bleiben die nicht mehr anfechtbaren Verwaltungsakte, die auf eine später vom Oberverwaltungsgericht für nichtig erklärte Norm gestützt wurden, von dem betreffenden Normenkontrollurteil unberührt.

b) aa) Der weitere Klageantrag auf Zahlung von 14.796,- DM nebst Zinsen dürfte ebenfalls unbegründet sein. Ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch und ein grundrechtlicher Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 15 SächsVerf scheitern jeweils an der Existenz des (bestandskräftigen) Beitragsbescheids (vgl. zur jeweiligen systematischen Einordnung der Ansprüche SächsOVG, Beschl. v. 2.5.2001, SächsVBl. 2001, 293 [294]; Beschl. v. 5.11.2001, JbSächsOVG 9, 309 [312]). Dieser stellt den einen Erstattungsanspruch ausschließenden rechtlichen Grund für die an die Beklagte gerichtete Geldleistung dar und begründet eine den Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch ausschließende Pflicht zur Duldung der grundrechtlichen Beeinträchtigung (vgl. SächsOVG, Urt. v. 30.4.2002, SächsVBl. 2002, 298 [300 f.]).

bb) Auch § 47 Abs. 5 Satz 3 in Verbindung mit § 183 Satz 2 VwGO, wonach die Vollstreckung eines Verwaltungsakts unzulässig ist, der auf eine vom Oberverwaltungsgericht für nichtig erklärte Norm gestützt wurde, vermittelt dem Kläger den geltend gemachten Anspruch nicht. Zwar ist der Begriff der Vollstreckung nach dem auf die Belange des Schuldners ausgerichteten Schutzzweck des § 183 Satz 2 VwGO weit zu verstehen (so auch Pietzner, aaO, § 183 RdNr. 41). Er erfasst bei einem Verwaltungsakt nicht nur die in den Verwaltungsvollstreckungsgesetzen des Bundes und des Freistaates Sachsen geregelten Formen der Vollstreckung, sondern jede zwangsweise Realisierung des mit dem Verwaltungsakt verfolgten Gemeinwohlinteresses. Darunter fällt auch die (teilweise) Zuteilung des Erlösüberschusses an den - nach § 10 Abs. 1 Nr. 3 ZVG bevorrechtigten - Gläubiger einer durch Verwaltungsakt titulierten vermeintlichen öffentlich-rechtlichen Beitragsforderung im Rahmen der Zwangsversteigerung eines Grundstücks des Beitragsschuldners. Die - hier durch das Amtsgericht bewirkte - Vollstreckung des Beitragsbescheids der Beklagten war im Hinblick auf das Normenkontrollurteil des Oberverwaltungsgerichts auch unzulässig. Ob das Amtsgericht von diesem Urteil Kenntnis hatte oder es hätte kennen müssen, ist unerheblich; § 183 Satz 2 VwGO stellt keine entsprechenden Voraussetzungen auf.

Aus der Unzulässigkeit der Vollstreckung lassen sich für den Kläger aber keine Rechte (mehr) ableiten. Ist die Vollstreckungsmaßnahme nur befristet angreifbar, kann sich der Vollstreckungsschuldner nicht zeitlich unbegrenzt auf die sich aus § 183 Satz 2 VwGO ergebende Rechtswidrigkeit der Vollstreckung berufen, sondern muss die ihm gegen die Vollstreckungsmaßnahme zu Gebote stehenden Rechtsbehelfe innerhalb der jeweiligen Rechtsbehelfsfristen ergreifen (vgl. auch Pietzner, aaO, § 183 RdNr. 58). Der Kläger hat es indes unterlassen, von den ihm - gegen den Teilungsplan - eröffneten Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen.

Zwar dürfte ein Vorgehen nach § 115 Abs. 3 ZVG nicht erfolgversprechend gewesen sein, weil der Anspruch der Beklagten nach dem soeben Gesagten gerade nicht - wie jene Bestimmung fordert - vollstreckbar war. Der Kläger hätte jedoch nach § 115 Abs. 1 ZVG in Verbindung mit § 876 ff. ZPO Widerspruch gegen den Teilungsplan und sodann binnen Monatsfrist (Widerspruchs-)Klage gegen die Beklagte erheben können. Diese Rechtsbehelfe stehen auch dem Schuldner offen, der ein geschütztes Interesse daran hat, dass der Erlös nur dem wirklich Berechtigten zugute kommt (vgl. Zeller/Stöber, ZVG, 16. Aufl. 1999, § 115 Anm. 3.4.b). Die zu den Zivilgerichten führende Widerspruchsklage hätte unbeschadet des öffentlich-rechtlichen Charakters der Beitragsforderung eingelegt werden können, zumal es nicht auf das Bestehen des öffentlich-rechtlichen Anspruchs, sondern allein auf die sich nach der allgemeinen Regelung des § 183 Satz 2 VwGO beurteilende Zulässigkeit der Vollstreckung ankam (vgl. in diesem Zusammenhang auch Zeller/Stöber, aaO, § 115 Anm. 5.1).

cc) Schließlich kann der Kläger die nicht an die Frist für die Widerspruchsklage gebundene, auf das bessere Recht gestützte und gegen den Empfänger des Erlösüberschusses gerichtete Bereicherungsklage nach § 115 Abs. 1 ZVG in Verbindung mit § 878 Abs. 2 ZPO (vgl. dazu Zeller/Stöber, aaO, § 115 Anm. 5.3) nicht mit Aussicht auf Erfolg gegen die Beklagte erheben. Denn über ein besseres Recht kann allein ein anderer Gläubiger - hier die Volksbank W. - verfügen. Wollte man gleichwohl eine Bereicherungsklage des Schuldners in Erwägung ziehen, könnte diese allenfalls auf Zahlung an den besseren Berechtigten, nicht aber auf Zahlung an den Schuldner - hier den Kläger - selbst gerichtet werden. Im Übrigen dürfte ein derartiges Begehren auf dem Zivilrechtsweg zu verfolgen sein. Dem Kläger verbleibt nach alledem nur die Möglichkeit, die Volksbank zur Erhebung einer Bereicherungsklage gegen die Beklagte mit dem Ziel einer Reduzierung seiner persönlichen Schuld zu bewegen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 166 VwGO in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 4 und § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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