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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Landesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 31.01.2002
Aktenzeichen: 1 Sa 332/2001
Rechtsgebiete: MuSchG, VwGO


Vorschriften:

MuSchG § 9 Abs. 3
VwGO § 80 Abs. 1
Der Widerspruch der Arbeitnehmerin gegen den Bescheid der zuständigen Behörde, durch den die Kündigung gem. § 9 Abs. 3 MuSchG für zulässig erklärt wird, hat aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung wirkt auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes zurück. Auch wenn die Kündigung vor Erhebung des Widerspruchs ausgesprochen wurde, entfällt ihre Rechtsgrundlage. (Divergenz zu LAG Rheinland-Pfalz vom 16.02.1996, NZA 96, 984)
Tenor:

1) Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Eisenach, Außenkammern Mühlhausen, vom 22.02.2001, Az.: 5 Ca 841/2000 abgeändert.

Es wird festgestellt, dass die Kündigung der Beklagten vom 15.08.2001 rechtsunwirksam ist.

2) Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3) Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer der Klägerin während der Schwangerschaft erklärten Kündigung.

Die seit 31.05.1991 bei der Beklagten beschäftigte Klägerin hat der Beklagten mit Schreiben vom 09.06.2000 ihre Schwangerschaft und den 08.01.2001 als voraussichtlichen Geburtstermin mitgeteilt. Das Kind ist am 28.12.2000 geboren worden.

Die Beklagte hat mit Antrag vom 17.07.2000 beim Landesamt für Soziales und Familie die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung der Klägerin beantragt, weil diese mehrere Male die geleistete Arbeitszeit in der Zeiterfassung falsch dokumentiert haben soll. Das Landesamt hat mit Bescheid vom 11.08.2000 die Zustimmung zur Kündigung mit der Maßgabe erteilt, dass die Kündigung frühestens zum 31.12.2000 ausgesprochen werden kann.

Gegen diesen ihr am 15.08.2000 zugestellten Bescheid hat die Klägerin am 14.09.2000 Widerspruch eingelegt und gegen die den Widerspruch zurückweisende Entscheidung vom 08.11.2000 Klage erhoben. Das Verwaltungsgericht hat das Verfahren ausgesetzt.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 15.08.2000, der Klägerin zugegangen am 18.08.2000, das Arbeitsverhältnis zum 31.12.2000 gekündigt.

Mit ihrer Klage vom 30.10.2000 hat die Klägerin die Auffassung vertreten, die Kündigung sei rechtsunwirksam, weil der von ihr eingelegte Widerspruch gegen den Bescheid des Landesamtes aufschiebende Wirkung habe und damit die Wirksamkeitsvoraussetzungen für die Kündigung entfallen seien.

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, dass die Kündigung der Beklagten vom 15.08.2000, der Klägerin zugegangen am 18.08.2000, unwirksam ist.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, der die Kündigung für zulässig erklärende Verwaltungsakt sei bis zu einer Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit schwebend wirksam. Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung habe daher die erforderliche Genehmigung vorgelegen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Inhalt des Urteils (Bl. 53, 54 d. A.) verwiesen.

Die Klägerin hat für die beabsichtigte Berufung gegen das ihr am 26.03.2001 zugestellte Urteil mit Antrag vom 26.04.2001 Prozesskostenhilfe beantragt. Der die Prozesskostenhilfe bewilligende Beschluss ist der Klägerin am 10.08.2001 zugestellt worden. Am 13.08.2001 hat die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, gegen das arbeitsgerichtliche Urteil Berufung eingelegt und diese begründet.

Die Parteien haben im Berufungsrechtszug die erstinstanzlich vorgetragenen Rechtsauffassungen jeweils vertieft.

Von der weiteren Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn der Klägerin war hinsichtlich der versäumten Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO gestellt worden.

Die Berufung ist begründet. Der Klage war daher unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts stattzugeben.

Die von der Beklagten mit Schreiben vom 15.08.2000 erklärte Kündigung des Arbeitsverhältnisses ist rechtsunwirksam, weil die gem. § 9 Abs. 3 MuSchG erforderliche behördliche Genehmigung nicht vorlag und die Kündigung der zum damaligen Zeitpunkt schwangeren Klägerin daher gem. § 9 Abs. 1 MuSchG unzulässig war.

Die Klägerin hat gegen den die Kündigung für zulässig erklärenden Bescheid des Landesamtes für Soziales und Familie vom 11.08.2000, ihr zugestellt am 15.08.2000, am 14.09.2000 und damit fristgerecht gem. § 70 VwGO Widerspruch eingelegt. Der Widerspruch hat gemäß § 80 Abs. 1 S. 2 VwGO bei rechtsgestaltenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung - ein solcher Verwaltungsakt ist der angegriffene Bescheid - aufschiebende Wirkung. Die in § 80 Abs. 2 VwGO abschließend genannten Voraussetzungen, unter denen die aufschiebende Wirkung entfallen kann, liegen nicht vor.

Unerheblich ist, dass die Klägerin den Widerspruch eingelegt hat, nachdem ihr die Kündigung vom 15.08.2000 am 18.08.2000 zugegangen war, denn die aufschiebende Wirkung wirkt auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes zurück und entzieht der aufgrund des Bescheides ergangenen Vollziehungshandlung ihre Basis (Kopp/Schenke, VwGO, 11. Aufl., § 80 Rnr. 54). Bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung hat dies zur Folge, dass die die Beklagte begünstigenden Wirkungen des von der Klägerin angegriffenen Verwaltungsaktes suspendiert sind (a. a. O., Rnr. 41).

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs erstreckt sich auch auf die privatrechtsgestaltende Wirkung des Verwaltungsaktes. Einer anderen Auffassung folgen in der verwaltungsrechtlichen Literatur lediglich die Vertreter der sog. Vollziehbarkeitstheorie (a. a. O., Rnr. 22). Schlachter (Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 2. Aufl., § 9 MuSchG Rnr. 18) weist demgegenüber zu Recht darauf hin, dass der Bescheid der gem. § 9 Abs. 3 MuSchG zuständigen Behörde gerade die privatrechtsgestaltende Wirkung bezweckt, die privatrechtsgestaltende Wirkung mithin im Vollzug des öffentlich-rechtlichen Verwaltungsaktes besteht.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs kann auch nicht mit einer Analogie zu § 18 Abs. 4 SchwbG verneint werden. Eine Regelungslücke liegt nicht vor. Das Schweigen des Gesetzgebers ist im Gegenteil vor dem Hintergrund der Entwicklung des Schwerbehindertenrechts beredt. Die heutige Fassung des § 18 Abs. 4 SchwbG gilt erst seit 01.08.1986. In der davor geltenden Fassung war lediglich geregelt, dass das Rechtsmittel gegen die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle zu einer außerordentlichen Kündigung keine aufschiebende Wirkung hat. Das Bundesarbeitsgericht hat zur damaligen Rechtslage mit Rücksicht auf die Kündigungserklärungsfrist des damaligen § 15 Abs. 3 SchwbG angenommen, dass auch der Widerspruch gegen die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung keine aufschiebende Wirkung hat (BAG vom 17.02.1982, NJW 82, 2630). Dem ist der Gesetzgeber mit der seit 01.08.1986 wirksamen Rechtsänderung gefolgt. Der Vorgänger des Schwerbehindertengesetzes, nämlich das Schwerbeschädigtengesetz, enthielt keine Regelung über die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle. Bereits damals wurde das Problem diskutiert (Zanker, DB 76, 1181). Aus der geschilderten Rechtsentwicklung folgt, dass das Problem bekannt war. Ein Regelungsbedürfnis für die im Mutterschutzgesetz insoweit vergleichbare Situation, als der Kündigung ebenfalls ein Verwaltungsverfahren vorgeschaltet ist, wurde vom Gesetzgeber jedoch nicht gesehen. Dies, obwohl anlässlich der Neufassung des § 9 Abs. 3 MuSchG mit Wirkung ab 01.01.1997 eine entsprechende Gesetzesänderung nahegelegen hätte, wenn sie denn für erforderlich gehalten worden wäre.

Die Voraussetzungen beider Vorschriften sind auch weder von der rechtlichen Systematik noch von der Interessenlage her vergleichbar.

Der Wegfall der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs und der Anfechtungsklage in § 18 Abs. 4 SchwbG hat seinen systematischen Grund darin, dass die Kündigung gem. den §§ 18 Abs. 3 und 21 Abs. 5 SchwbG innerhalb einer bestimmten Frist nach Zustellung der zustimmenden Entscheidung der Hauptfürsorgestelle vom Arbeitgeber erklärt werden muss. Eine solche Kündigungserklärungsfrist enthält § 9 MuSchG nicht. Zwar macht die von der Behörde gem. § 9 Abs. 3 MuSchG für zulässig erklärte Kündigung überhaupt nur Sinn, wenn sie auch noch vor Ablauf der Schutzfrist des § 9 MuSchG ausgesprochen wird (Erfurter Kommentar, a. a. O.). Diesem Interesse kann jedoch mit Hilfe des zur Verfügung stehenden rechtlichen Instrumentariums ohne weiteres Rechnung getragen werden, weil die Verwaltungsbehörde gem. § 80 a Abs. 1 Nr. 1 und Absatz 2 i. V. mit § 80 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 3 VwGO die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes auf Antrag des Arbeitgebers anordnen kann. Der Antrag auf sofortige Vollziehung kann bereits mit dem Antrag, die Kündigung für zulässig zu erklären, gestellt werden. (Zur aufgeworfenen Rechtsfrage ebenso: Münchener Handbuch Arbeitsrecht, Band 2, 2. Aufl., Heenen, § 226 Rnr 110, 111; Erfurter Kommentar, Schlachter, a. a. O.; KR-Pfeiffer, § 9 MuSchG Rnr. 127; für den Fall, dass vor Ausspruch der Kündigung Widerspruch eingelegt wurde: Großkommentar zum Kündigungsrecht, Rolfs, § 9 MuSchG Rnr. 84 - a. A. Meisel/Sofka, MuSchG, 5. Aufl., § 9 Rnr. 111; Kasseler Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, Klempt, Kapitel 3.4 Rnr. 103; LAG Rheinland-Pfalz vom 14.02.1996, NZA 96, 984).

Aber auch von der Interessenlage her lässt sich keine Analogie zu § 18 Abs. 4 SchwbG ziehen. Das Zustimmungserfordernis bei der Kündigung eines Schwerbehinderten dient dazu, die im Zusammenhang mit der Behinderung stehenden Belange besonders zu berücksichtigen. Das der Kündigung vorgeschaltete Verfahren bei der Hauptfürsorgestelle dient folglich dazu, die Rechtsposition des Schwerbehinderten zu stärken. Das gem. § 9 Abs. 3 MuSchG vor der zuständigen Behörde durchzuführende Verfahren beschränkt dagegen die Rechtsposition der durch das Mutterschutzgesetz geschützten Frau, denn die Erklärung, die Kündigung zuzulassen, stellt eine Durchbrechung des absoluten Kündigungsverbotes des § 9 Abs. 1 MuSchG dar, wonach eine Kündigung, aus welchem Grund auch immer, unzulässig ist. Das Anliegen des mutterschutzrechtlichen Kündigungsschutzes besteht darin, der werdenden Mutter und der Wöchnerin trotz ihrer mutterschaftsbedingten Leistungsminderung oder Arbeitsunfähigkeit den Arbeitsplatz als wirtschaftliche Existenzgrundlage zu erhalten, ferner, die Arbeitnehmerin innerhalb der Schutzfristen vor den psychischen Belastungen eines Kündigungsschutzprozesses zu schützen (BAG vom 31.03.1993, NZA 93, 646). Diesem Schutzgedanken wird es nicht gerecht, wenn der Arbeitgeber von der ihm gem. § 80 Abs. 3 VwGO gesetzlich auferlegten Pflicht entbunden wird, das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des die Kündigung für zulässig erklärenden Bescheides zu begründen. Auch die Verwaltungsbehörde hat dann Gelegenheit, sich bei der Entscheidung darüber, ob das überwiegende Interesse des Arbeitgebers die sofortige Vollziehung rechtfertigt, den Prüfungsmaßstab des § 9 Abs. 3 MuSchG noch einmal zu vergegenwärtigen.

Im vorliegenden Fall hat die Verwaltungsbehörde letztlich als erwiesen angesehen, dass die Klägerin an 2 Tagen im Mai bzw. Anfang Juni 2000 die Zeiterfassung nicht korrekt bedient hat und insoweit gegen die einschlägige Betriebsvereinbarung und die Arbeitsanweisung verstoßen hat. Die Abmahnung wurde für entbehrlich gehalten, weil der Vertrauensbereich betroffen sei. Immerhin hat die Verwaltungsbehörde die Kündigung mit der Maßgabe für zulässig erklärt, dass sie erst zum 31.12.2000 ausgesprochen wird. Kündigungstermin und Entbindungstermin fielen folglich nahezu zusammen. Mit der Entbindung begann nicht nur das Beschäftigungsverbot nach § 6 Abs. 1 MuSchG, sondern es setzte auch der Anspruch auf Elternzeit gem. § 15 BErzGG ein. Es war unter diesen Voraussetzungen durchaus fraglich, ob die Beklagte ein berechtigtes Interesse daran haben konnte, die Kündigung gerade zu diesem Termin auszusprechen, zumal dann, wenn eine Rückfrage bei der Klägerin ergeben hätte, dass sie, wie geschehen, Elternzeit in Anspruch nehmen will.

Die Beklagte hat als unterlegene Partei gem. § 91 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache und wegen Divergenz zur Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 14.02.1996 zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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