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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Landesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 11.04.2001
Aktenzeichen: 5 Sa 212/2000
Rechtsgebiete: KSchG, ZPO


Vorschriften:

KSchG § 1
ZPO § 286
- Entbehrlichkeit einer Abmahnung bei Tätlichkeiten gegenüber Kunden als Kündigungsgrund

- Anforderungen an die Darlegung eines tätlichen Angriffs

- Verstoß gegen die Pflicht des bereits zur prozessualen Gleichstellung der Parteien und Unterlassung einer erstinstanzlich gebotenen Beweisaufnahme als Verletzung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 GG)

- Einzelfall einer Glaubhaftig- und Glaubwürdigkeitsprüfung im Rahmen der Würdigung von Zeugenaussagen


Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Erfurt vom 04.02.2000, 10 Ca 3319/99 abgeändert.

Es wird festgestellt, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung vom 10.11.1999 zum 30.06.2000 aufgelöst worden ist.

Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger und der Beklagten jeweils zur Hälfte auferlegt.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen und einer vorsorglich ausgesprochenen ordentlichen Kündigung.

Der am 07.02.1954 geborene, verheiratete und einem in Hochschulausbildung befindlichen Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 01.02.1982 bei der Beklagten als Fahrgeldsicherer bzw. Kundenbetreuer (Bahnschaffner) in der Vergütungsgruppe E 5 zu monatlich 3.200,00 brutto beschäftigt. Der Kläger ist Arbeitnehmer der Zweigniederlassung RNZ 1 in E.

Die RNZ 1 gehört zu dem durch Tarifvertrag nach § 3 BetrVG gebildeten Wahlbetrieb R 1 Thüringen der Beklagten.

Der Kläger hat das kirchliche Abitur absolviert und 4 Semester katholische Theologie in E. studiert. Er leidet unter einer Farbsehstörung.

Am 01.07.1999 erhielt der Kläger eine Abmahnung wegen lauten und unfreundlichen Verhaltens gegenüber Reisenden (Bl. 104 d. A.).

Am 15.09.1999 unternahmen 45 zwischen 13 und 17 Jahren alte, lern- und zum Teil körperbehinderte Kinder der ...schule E. in Begleitung von 5 Lehrkräften mit Fahrkarten der 2. Klasse einen Ausflug mit der Bahn nach W. Beim Einstieg in den Zug zum Zwecke der Rückfahrt und bei der Einfahrt in den E.er Bahnhof kam es zu einer Auseinandersetzung mit dem Kläger, deren Inhalt und Ablauf streitig sind.

Infolge dieser Auseinandersetzung gaben mehrere der genannten Lehrkräfte bei der DB Station & Service AG eine Beschwerdekarte ab, in der sie sich über lautes und unfreundliches Verhalten des Klägers beschwerten.

Daraufhin begaben sich zwei Mitarbeiter der Beklagten am 30.09.1999 in die ...schule und führten ein Gespräch mit den Lehrkräften P., M. und S. In diesem Gespräch wurde ihnen eine genaue Sachverhaltsschilderung mitgeteilt. Beim Einsteigen in den Zug auf dem W.er Bahnsteig seien die Schüler nach rechts in die 2. Klasse gegangen. Als das Einsteigen gestockt habe, seien die Kinder von der Lehrerin P. aufgefordert worden, weiter in den nächsten Wagen durchzugehen. Die Kinder hätten ihr dann gesagt, daß dies nicht ginge, weil ein Mann die Tür zu dem nächsten Abteil zuhalten würde. Frau P. sei dann in den Zug gestiegen und habe sich in dem Abteil vorgearbeitet. Dabei habe sie eine Person in Dienstkleidung der Beklagten gesehen, welche die Tür zum nächsten Abteil zugehalten und den Kindern den Durchgang verweigert habe. Dabei habe es sich um den Kläger gehandelt. Durch die Tür habe sie sehen können, daß in dem vom Kläger zugehaltenen Abteil noch Sitzplätze frei gewesen seien. Inzwischen sei die Zugführerin S. hinzugekommen und habe gesagt, die Kinder sollten erst einmal in die 1. Klasse gehen, damit der Zug abfahren könne. Die bereits im Zug befindlichen Kinder hätten sich dann umgedreht, um in das links von der Einstiegstür befindliche 1. Klasse-Abteil zu gelangen. Dabei sei es aufgrund der vom Bahnsteig aus nachdrängenden restlichen Kinder zunächst erneut zu einem Stau gekommen. Weil der Kläger sich inzwischen von der Tür in den Wagen entfernt habe, habe Frau P. dann gesagt "Nun geht doch durch die Tür, der Mann ist weg." Als die Kinder durch die Tür gegangen seien, sei der Kläger sofort zurückgekommen und hätte die Kinder angebrüllt "Geht in den letzten Wagen, da gehört ihr auch hin!". Die Kinder seien dann auf Veranlassung von Frau P. in Richtung der 1. Klasse (in die andere Richtung) gegangen. Die Zugführerin S. habe ihr Unverständnis über das Verhalten des Klägers gegenüber den Lehrkräften geäußert und habe die Kinder in der 1. Klasse sitzen lassen. Kurz vor der Einfahrt in den E.er Bahnhof sei der Kläger dann zu dem Gang gekommen, auf dem sich die Lehrkräfte aufhielten. Frau P. habe den Kläger zur Rede stellen wollen und gefragt, warum er die Kinder nicht durchgelassen habe. Der Kläger habe sehr laut und unfreundlich geantwortet: "Was wollen Sie eigentlich? Sie haben es doch mir zu verdanken, daß Sie in der 1. Klasse sitzen dürfen!". Die Lehrerin M. habe dem Kläger widersprochen. Daraufhin habe der Kläger die Lehrkräfte angebrüllt: "Was wollen Sie eigentlich von mir? Wollen Sie einen Arbeitsplatz vernichten?" Frau P. habe nochmals gefragt, warum der Kläger die Tür zugeschlagen habe. Daraufhin habe der Kläger die Lehrkräfte nochmals angebrüllt, wobei sinngemäß die Worte gefallen seien: "Weil sich Kinder immer so benehmen!", "... wie eine wilde Horde!, "... rammeln hier durch den Zug!". Die Lehrkräfte hätten dem Kläger widersprochen und gesagt, daß ihre Schüler keine wilde Horde seien, daß sie ordentlich eingestiegen seien und daß er mal schauen solle, wie ordentlich die Kinder sitzen würden. Der Kläger habe dann nochmals gebrüllt: "Die benehmen sich immer so!". Während dieses Streits sei der Zug in den Hauptbahnhof eingefahren. Der Kläger habe inzwischen an der Tür zwischen Raucher- und Nichtraucherabteil gestanden. Die Kinder seien aufgestanden und hätten mit den Lehrkräften aussteigen wollen. Die ersten Kinder hätten die Tür aufgezogen. Der Kläger habe versucht, die Tür wieder zuzuziehen, was nicht möglich gewesen sei, weil die Kinder schon in der Tür gestanden hätten. Der Kläger habe daraufhin nach dem ersten Kind getreten und dieses am Schuh getroffen. Die Kinder seien zurückgewichen und die Tür sei wieder zugegangen. Frau P. habe daraufhin zu dem Kläger gesagt: "Unterlassen Sie es, nach unseren Kindern zu treten!" Während der Kläger sich zu den Kindern umgedreht habe, hätten die Kinder erneut die Tür geöffnet. Der Kläger hätte sich dann zur Tür gedreht und erneut zugetreten und ein Kind am Bein getroffen. Nachdem der Zug mittlerweile zum Stehen gekommen sei, sei er aufgefordert worden: "Geben Sie die Tür frei und lassen Sie uns aussteigen!" Der Kläger sei dann an den Kindern vorbei wutentbrannt in den hinteren Zugteil gegangen und habe sich dort mit der Zugführerin S. gestritten.

Diese Schilderungen wurden in einem Aktenvermerk der Personalabteilung der Beklagten festgehalten. Ferner wurde eine sofortige Anhörung des Klägers und die bis dahin erfolgende Arbeitsfreistellung angeordnet.

In der am 04.10.1999 stattgefundenen Anhörung äußerte sich der Kläger zunächst nicht, bestritt aber dann in einer um 9.45 Uhr abgegebenen Stellungnahme, die er auch noch schriftlich vorlegte (Bl. 18 d. A.), jemanden beim Einsteigen behindert und beleidigt bzw. später jemanden getreten zu haben.

Mit Schreiben vom 04.10.1999, dem Betriebsratsvorsitzenden S. zugegangen am 05.10.1999 (Eingangsvermerk Bl. 50 d. A.), hörte die Beklagte den Betriebsrat R 1 des Regionalbereiches Thüringen zu der Absicht der Beklagten an, den Kläger außerordentlich fristlos und hilfsweise außerordentlich mit einer sozialen Auslauffrist zum 30.06.2000 zu kündigen. Wegen des Inhalts des Schreibens und der diesem Schreiben beigefügten Anlagen wird auf Bl. 78 ff d. A. Bezug genommen.

Am 08.10.1999 wurde dem Kläger ein Kündigungsschreiben übergeben, in dem die Beklagte die außerordentliche fristlose und hilfsweise eine außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist bis zum 30.06.2000 aussprach.

Mit Schreiben vom 18.10.1999, dem Betriebsrat zugegangen am 27.10.1999, hörte die Beklagte den Betriebsrat desweiteren zum Ausspruch einer hilfsweisen ordentlichen Kündigung des Klägers zum 30.06.2000 an. Bis auf den erläuternden Hinweis, daß die ordentliche Kündigung vorsorglich für den Fall der Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung erfolgen solle, waren die dem Betriebsrat unterbreiteten Informationen identisch mit denjenigen der Anhörung zum Ausspruch der außerordentlichen Kündigung.

Mit Schreiben vom 04.11.1999, der Beklagten zugegangen am 08.11.1999, machte der Betriebsrat Bedenken gegen die ordentliche Kündigung des Klägers mit der Begründung geltend, die gegen den Kläger gerichteten Vorwürfe seien nicht eindeutig bewiesen, ein anderer für ihn geeigneter Arbeitsplatz hätte angeboten werden und die lange Beschäftigungszeit berücksichtigt werden müssen.

Die Beklagte nahm von der Kündigungsabsicht keinen Abstand und sprach mit Schreiben vom 10.11.1999 dem Kläger vorsorglich die ordentliche Kündigung aus. Das Kündigungsschreiben wurde noch am gleichen Tage per Boten in den Briefkasten des Klägers eingeworfen.

Mit seiner am 20.10.1999 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage und der am 29.11.1999 eingegangenen Klageerweiterung hat sich der Kläger gegen die vorliegenden Kündigungen gewendet.

Er hat die Auffassung vertreten, es sei weder für eine außerordentliche, noch für eine ordentliche Kündigung ein Kündigungsgrund gegeben.

Zunächst hat er schriftsätzlich geltend gemacht, wenn es zu einer lautstarken Verständigung gekommen sei, so sei dies aufgrund der Geräusche des Zuges und der durch die Gruppe verursachten Hektik erforderlich gewesen. Wenn es zu einer körperlichen Berührung gekommen sei, so könne nicht ausgeschlossen werden, daß dies im Gedränge unbeabsichtigt geschehen sei. Dies könne nur dadurch bedingt gewesen sein, daß sich der Kläger durch das Rütteln des sich in der Fahrt befindlichen Zuges bewegt habe, um selbst Halt zu finden.

Im Schriftsatz vom 20.01.2000 hat er angegeben, beim Einsteigen der Schulklasse in den Zug habe er regulierend eingreifen wollen, um zu verhindern, daß sich die Klasse innerhalb des Zuges teilt. Deshalb habe er schon beim Zusteigen versucht, die Richtung des Einsteigeverhaltens der Kinder zu beeinflussen. Er habe im Durchgang zwischen zwei Waggons gestanden und mit in die hintere Richtung deutenden Gesten und durch die Äußerung: "Geht doch bitte nach hinten, hier ist kaum was frei" deutlich gemacht, daß die Gruppe in den vom Einstieg aus gesehen linken Waggon gehen sollte. Während eines später mit einer aufsichtsführenden Lehrerin stattgefundenen Disputs über die Berechtigung des Vorwurfs, er habe sich ins Unrecht gesetzt, hätten 2 Kinder versucht, das Gespräch mitzuhören, indem sie die im Zwischenbereich des Waggons befindliche Schwingtür geöffnet und durch Dazwischenstellen eines Fußes versucht hätten, diese aufzuhalten. Er habe zwar eigentlich nicht gewollt, daß die Kinder das Gespräch mithören, habe dies aber schließlich akzeptiert und nichts weiteres dagegen unternommen. Als kurz danach der Halt des Zuges angestanden habe, könne es in der allgemeinen Hektik und dem Gedränge natürlich ohne weiteres vorgekommen sein, daß es zu Berührungen des Klägers mit einzelnen Kindern gekommen sei, daß diese ihm, aber auch er ihnen versehentlich auf den Fuß getreten sei. Zu einem oder gar mehreren Tritten sei es aber in keinster Weise gekommen.

Die Kündigung verstoße darüber hinaus gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er sei bislang weder für ein vergleichbares Fehlverhalten wirksam abgemahnt, noch sei ihm eine Weiterbeschäftigung auf einem Arbeitsplatz als Kundenbetreuer im Nahverkehr angeboten worden. Insoweit habe ein Bedarf der Beklagten bestanden. Darüber hinaus habe die Beklagte auch nicht die in dem bei der Beklagten periodisch erscheinenden Blatt "Stellenmarkt aktuell" am 30.12.1999 angegebenen Stellen für seine Weiterbeschäftigung in Betracht gezogen. Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung hätten seine langjährige, im wesentlichen beanstandungsfreie Tätigkeit und seine Unterhaltspflichten den Vorrang gegenüber dem Beklagteninteresse an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu beanspruchen, so daß die Kündigung auch unter diesem Gesichtspunkt nicht rechtswirksam sei. Soweit sich die Beklagte auf in der Vergangenheit liegende gegen seine Person gerichtete Beschwerden berufe, seien diese Bestandteil eines gegen ihn gerichteten Mobbings.

Die außerordentliche Kündigung sei darüber hinaus auch wegen Nichteinhaltung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB unwirksam.

Beide Kündigungen seien zudem wegen fehlender Betriebsratsanhörung rechtsunwirksam. Insbesondere werde bestritten, daß der Betriebsrat R 1 für ihn zuständig gewesen sein solle.

Der Kläger hat beantragt,

festzustellen, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung vom 08.10.1999 noch durch die Kündigung vom 10.11.1999 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

Gestützt auf die am 30.10.1999 zu Protokoll genommene Aussage der Lehrkräfte der ...schule E. über den Hergang des Vorfalls am 15.09.1999 hat sie einen Kündigungsgrund zum Ausspruch einer außerordentlichen und jedenfalls aber einer die ordentliche Kündigung für gegeben gehalten. Sie hat ferner geltend gemacht, daß es bei der Schwere der Verfehlung einer vorangehenden fruchtlosen Abmahnung nicht bedürfe, daß eine Weiterbeschäftigung auf den vom Kläger angegebenen freien Stellen zum Teil wegen der Farbsehstörungen, zum Teil wegen des festgestellten Umgangs mit Kunden nicht in Betracht gekommen sei und daß die Interessen der Beklagten an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses schon deshalb überwiegen würden, weil das Verhalten des Klägers für die Beklagte in höchstem Maße geschäftsschädigend gewesen sei. Bei letzterem sei auch zu berücksichtigen, daß das Opfer der Tätlichkeiten des Klägers minderjährige Kinder gewesen seien. Zu berücksichtigen sei auch, daß es bezüglich der Person des Klägers schon in der Vergangenheit zu Auseinandersetzungen mit und Beschwerden von Reisenden wegen seines Dienstverhaltens (Auskünfte und Fahrkartenkontrolle) und Arbeitskollegen (unsachgemäßer Dienstkleidung, unkollegialem Verhalten, Lesen heiliger Schriften während der Arbeitszeit) gekommen sei. Wegen der diesbezüglichen Einzelheiten wird auf Bl. 57, 68 - 76, 91 - 103, 105 - 113, 125 - 133 d. A. Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage mit der Begründung stattgegeben, selbst wenn der Kläger zwei Schüler getreten habe, müsse es schwer fallen, hierin überhaupt einen tätlichen Angriff zu sehen, weil gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie z. B. blaue Flecken, nicht ersichtlich gewesen seien. Selbst wenn man zugunsten der Beklagten vom Vorliegen eines tätlichen Angriffs ausgehe, fehle es an der Darlegung eines schuldhaften Verhaltens des Klägers. Nur so am Rande zu erwähnen sei dabei, daß das unstreitige Gedränge von 45 Kindern und 5 Lehrern auf den Gängen des 1. Klasse-Abteils eher die Version des Klägers plausibel erscheinen lasse, wonach es sich - wenn überhaupt - um eine reflektorische Bewegung seinerseits gehandelt habe. Die Beklagte habe es versäumt darzulegen, in welcher Art und Weise und Intensität die Tritte des Klägers ausgeführt worden seien. Desweiteren habe die Kündigung einer vorhergehenden einschlägigen Abmahnung bedurft. Auch eine durchzuführende Interessenabwägung dürfte wohl zugunsten des Klägers ausfallen.

Gegen dieses der Beklagten am 20.04.2000 zugestellte Urteil hat sie am 17.05.2000 beim Thüringer LAG Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründung ging am 19.07.200 ein, nachdem die Berufungsbegründungsfrist auf einen am 16.06.2000 eingegangenen Antrag entsprechend verlängert wurde.

Mit der Berufung verteidigt die Beklagte ihren erstinstanzlichen Rechtsstandpunkt. Das Urteil des Arbeitsgerichts beruhe auf einer allein durch die Einlassungen des Klägers gestützten Spekulation und der Unterlassung einer nach dem Sachvortrag gebotenen Beweiserhebung über den Hergang der Ereignisse am 15.09.1999 auf dem Bahnsteig in W. und der darauf folgenden Zugfahrt.

Ergänzend trägt die Beklagte vor, in dem Waggon 2, aus dem die Kinder von dem Kläger vertrieben worden seien, seien freie Plätze vorhanden gewesen und der diesem nachfolgenden Waggon 1 sei fast vollständig frei gewesen. Der Kläger habe bei der Einfahrt in den Bahnhof E. auf den Fuß eines Kindes getreten, welches in der Öffnung der Schwingtür gestanden habe, so daß dieses zurückgewichen sei, damit diese geschlossen werden konnte. Nachdem kurz darauf wieder ein Kind die Schwingtür habe aufziehen wollen, habe der Kläger mit gestrecktem Bein ausgeholt und das Kind an das Schienbein getreten. Der Kläger habe sich aus dem Gespräch heraus jeweils gezielt zu den Kindern umgedreht und die Tätlichkeiten begangen.

Die Beklagte beantragt,

1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Erfurt vom 04.02.2000 - 10 Ca 3319/99 - wird abgeändert.

2. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil und nimmt darüber hinaus im wesentlichen Bezug auf sein erstinstanzliches Vorbringen.

Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeuginnen P., M. L. und des Zeugen B. Bezüglich des Inhalts der Zeugenaussagen wird auf das Sitzungsprotokoll vom 09.03.2001 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung hat in der Sache Erfolg. Die Kündigungsschutzklage des Klägers ist zwar zulässig, aber nicht begründet.

1. Die Klage ist zulässig. Insbesondere fehlt dem Kläger nicht die Prozeßfähigkeit. Anhaltspunkte für ein Fehlen der Prozeßfähigkeit können nicht bereits daraus hergeleitet werden, daß es sich bei dem Kläger um eine von Vorsehungsphantasien und spirituell geleiteten und in die Welt der Texte von Schlagersängern flüchtende Persönlichkeit handelt, wie sich aus den von ihm an den Kammervorsitzenden gerichteten Briefen vom 12., 13. und 15.03.2001 ergibt. Dabei ist insbesondere auch die Bescheinigung des Neurologen und Psychiaters Dr. O. vom 08.04.1998 (Bl. 116 d. A.) zu berücksichtigen, in der es ausdrücklich heißt, daß bei dem Kläger aus nervenärztlicher Sicht keine psychische Erkrankung vorliegt.

2. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage, soweit diese sich gegen die ordentliche Kündigung vom 10.11.1999 richtet, allerdings zu Unrecht stattgegeben.

a) Die außerordentliche Kündigung vom 08.10.1999 ist schon wegen fehlerhafter Betriebsratsanhörung rechtsunwirksam. Zunächst ist zu bemängeln, daß bereits der Tat der Betriebsratsanhörung in widersprüchlicher und deshalb in unschlüssiger Weise dargelegt wurde. Wenn die Beklagte auf S. 9 ihres Schriftsatzes vom 17.12.1999 vorträgt, der Betriebsrat sei zu dieser Kündigung durch ein am 04.10.1999 übergebenes Schreiben nebst Anlagen angehört worden, so deckt sich dieser Vortrag nicht mit dem Inhalt des von ihr in der Anlage 15 a in Bezug genommenen Anhörungsschreibens. Dieses enthält nämlich auf Seite 3 unten einen Stempel "Empfang bestätigt" verbunden mit dem Datum des 05.10.1999 und der Unterschrift des Betriebsratsvorsitzenden S. Die Kammer muß daher von einem Zugang des Anhörungsschreibens am 05.10.1999 ausgehen. Ist dies der Fall, dann lief die Äußerungsfrist des Betriebsrates erst nach 3 Tagen, d. h. am 08.10.1999 ab. Dies folgt aus § 102 Abs. 2 Satz 3 KSchG. Ohne vorangegangene Rückäußerung des Betriebsrates durfte die Beklagte vor dem Beginn des 09.10.1999 nicht kündigen. Da die Beklagte einerseits an keiner Stelle vorgetragen hat, zu welchem genauen Zeitpunkt am 08.10.1999 die Stellungnahme des Betriebsrates zu dieser Kündigung bei der Beklagten einging, andererseits unklar ist, wann am 08.10.1999 die Kündigung erfolgte, ist von der Beklagten nicht in der erforderlichen Weise dargetan, daß die im Lauf der gesetzlich vorgesehenen Äußerungsfrist erfolgte Kündigung erst nach Vorliegen der Stellungnahme des Betriebsrates ausgesprochen wurde. Auf die nach Auffassung der Kammer von dem Kläger nach dem Gang der Kenntniserlangung kündigungsberechtigter Personen der Beklagten zu Unrecht problematisierte Frage der Einhaltung der Vorgaben des § 626 Abs. 2 BGB kommt es daher nicht an.

b) Die Rechtsunwirksamkeit der ordentlichen Kündigung vom 10.11.1999 scheitert nicht an dem Gesichtspunkt einer fehlerhaften Betriebsratsanhörung. Der Betriebsrat wurde am 27.10.1999 vollumfänglich über den bis dahin bestehenden Stand der Kenntnisse der Beklagten über die Vorfälle des 15.09.2000, die Sozialdaten des Klägers, den Lauf der zwischen den Parteien unstreitigen Kündigungsfrist und im Vorfeld des 15.09.2000 liegende Beanstandungen des Verhaltens des Klägers unterrichtet. Dies wird auch von dem Kläger nicht in der prozeßrechtlich erforderlichen Form gerügt. Nach dem substantiierten Vortrag der Beklagten zum Inhalt der Betriebsratsanhörung wäre es Sache des Klägers gewesen, genau diejenigen Punkte aufzuzeigen, in denen er trotzdem die Betriebsratsanhörung für fehlerhaft hält. Das gleiche gilt für sein Bestreiten der Zuständigkeit des Betriebsrats R 1 für den Kläger, nachdem die Beklagte in einem darauf folgenden Schriftsatz die Zuordnung des Betriebsrates R 1 zu dem Betrieb des Klägers RNZ 1 näher begründet hat. Auch nach dieser Substantiierung war der Kläger verpflichtet, genau die Gründe zu bezeichnen, warum der Betriebsrat R 1 nicht zuständig gewesen sein sollte. Ein darauf gerichteter weiterer Vortrag des Klägers ist allerdings ausgeblieben.

c) Die ordentliche Kündigung des Klägers ist entgegen seiner und der Auffassung des Arbeitsgerichts als verhaltensbedingte Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG gerechtfertigt.

aa) Der verhaltensbedingte Kündigungsgrund ist ein durch ein arbeitnehmerseitiges Fehlverhalten die vertraglich zu erbringende Leistung störender Grund. Die soziale Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung erfordert eine negative Prognose, denn der Zweck der Kündigung liegt nicht in der Bestrafung des Arbeitnehmers. Die negative Prognose ist nur dann gerechtfertigt, wenn aus der Vertragsstörung geschlossen werden kann, daß der Arbeitnehmer auch in Zukunft seine Vertragspflichten nicht erfüllt. Liegt ein gravierender Vertragsverstoß nicht vor, ist die negative Prognose regelmäßig gegeben, wenn der Arbeitnehmer nach einer Kündigungsankündigung (Erfordernis einer fruchtlosen Abmahnung) den Vertrag wieder in gleicher oder ähnlicher Weise verletzt hat (ErfK-Ascheid, 2. Aufl. § 1 Rnr. 293 und Rnr. 296 ff). eine Abmahnung ist grundsätzlich dann entbehrlich, wenn der Arbeitnehmer weiß oder wissen muß, daß der Arbeitgeber das gezeigte Verhalten unter keinen Umständen hinnehmen wird. Hierzu gehören schwerwiegende und besonders auch vorsätzliche Vertragsverstöße in allen Bereichen (vgl. BAG, Urteil vom 08.06.2000, NZA 2000 S. 1282 ff.; Urteil vom 12.08.1999, NZA 2000 S. 421 ff; Urteil vom 01.07.1999, NZA 1999 S. 1270 ff.; Ascheid a. a. O. Rnr. 304). Die für eine fristlose Kündigung in Frage kommenden Gründe sind regelmäßig auch geeignet, eine ordentliche verhaltensbedingte Kündigung zu rechtfertigen. Insbesondere sind danach auch Tätlichkeiten gegenüber Kunden grundsätzlich geeignet, eine verhaltensbedingte Kündigung zu rechtfertigen (Ascheid, § 626 BGB Rnr. 96). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es, daß der Arbeitgeber auch bei der verhaltensbedingten Kündigung zu prüfen hat, ob der Arbeitnehmer nicht auf einem anderen, freien Arbeitsplatz weiterbeschäftigt werden kann. Eine solche Weiterbeschäftigungsmöglichkeit muß aber geeignet sein, die Zukunftsrelevanz weiterer Störungen auf einem anderen Arbeitsplatz entfallen zu lassen und kommt daher nur in Betracht, wenn die Störung arbeitsplatzbezogen war (Ascheid a. a. O. Rnr. 295). Die verhaltensbedingte Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG allerdings nur gerechtfertigt, wenn ein Tatbestand vorliegt, der bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien und des Betriebs die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen läßt (BAG, Urteil vom 22.07.1982, DB 1985 S. 229 ff.).

bb) Gemessen an diesen Anforderungen ist die ordentliche Kündigung des Klägers nicht zu beanstanden. Durch das am 15.09.2000 gegenüber den Lehrkräften und Schülern der ...schule gezeigte Verhalten des Klägers in dem Zug von W. nach E. ist das Vertragsverhältnis der Parteien auf eine in die Zukunft gerichtete Dauer gestört. Dies hat die vom LAG durchgeführte, bereits nach dem Vorbringen der Parteien in der ersten Instanz zwingend erforderliche Beweisaufnahme ergeben.

(1) Die Ausführungen des Arbeitsgerichts, mit denen dieses die nicht durchgeführte Beweisaufnahme rechtfertigt, sind nicht haltbar.

Die Beklagte hatte bereits erstinstanzlich vorgetragen, daß der Kläger zweimal nach einem Kind getreten hat. Schon aus der Formulierung "nach einem Kind getreten" ergibt sich, daß die Tritte nach der Behauptung der Beklagten gezielt ausgeführt worden sind. Aus dem Sachvortrag der Beklagten ergibt sich weiter, daß diese Tritte die unmittelbare Reaktion des Klägers auf das von diesem unerwünschte Öffnen der Schwingtür durch die betreffenden Kinder gewesen sind. Der zweite Tritt erfolgte nach dem Vorbringen der Beklagten gar nach der Aufforderung: "Unterlassen Sie es, nach unseren Kindern zu treten"" Die Argumentation des Arbeitsgerichts, die Beklagte hätte im einzelnen darlegen müssen, wie die behaupteten Tritte durch den Kläger in welcher Art und Weise und welcher Intensität ausgeführt worden sind, um auf ein Verschulden des Klägers schließen zu können, stellt übertriebene Anforderungen an die Darlegung des Tatbestands, enthält einen Verstoß gegen die, durch das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebotene Pflicht des Gerichts, die prozessuale Gleichstellung der Parteien durch die unvoreingenommene Bereitschaft zur Verwertung und Bewertung des Vorbringens beider Seiten zu wahren und hat im Ergebnis zu einer Verweigerung der nach dem Gesetz erforderlichen Rechtsanwendung in der 1. Instanz geführt. Die Argumentation, für die Annahme einer Tätlichkeit im Sinne der §§ 626 Abs. 1 BGB, 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG würden auf einen menschlichen Körper auftreffende Tritte nur dann ausreichen, wenn es hierdurch zu sichtbaren Verletzungen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen würde, ist mit der pflichtgemäßen Wahrnehmung richterlicher Verantwortung auch im Hinblick auf das Ansehen der Rechtsprechung in der Öffentlichkeit kaum noch zu vermitteln. Wenn das Arbeitsgericht schließlich "am Rande" erwähnt, daß die Version des Klägers - wonach es sich allenfalls um eine reflektorische Bewegung seinerseits gehandelt habe - ohnehin eher deshalb plausibel erscheine, weil sich 45 Kinder und 5 Lehrer auf den Gängen des 1. Klasse-Abteils gedrängt hätten, so handelt es sich nicht um das Ergebnis einer nachvollziehbaren rechtlichen Prüfung, sondern - wie die Beklagte zu Recht bemängelt - um eine schlichte Spekulation. Diese beruht darüber hinaus auch noch auf einer falschen Wiedergabe des unstreitigen Sachverhalts, denn das vom Arbeitsgericht seinen Überlegungen zugrundegelegte Gedränge von 45 Kindern und 5 Lehrern auf dem Gang des Waggons war nach den Darlegungen der Beklagten gerade nicht die Ursache für die Tritte, sondern das Bestreben des Klägers, das Aufziehen der Schwingtür zur 1. Klasse durch zwei Schüler zu verhindern. Der tatsächliche Geschehensablauf konnte mangels Zeugenbeweisangebot des Klägers nur durch die Vernehmung der von der Beklagten angebotenen Zeugen und der Anhörung des Klägers aufgeklärt werden.

(2) Nach dieser Beweisaufnahme steht folgender Sachverhalt zur Überzeugung der Kammer fest:

Am 15.09.1999 wollten die Lehrkräfte P., M., L. und B. mit 4 Klassen einer Lernbehindertenschule nach einem Besuch in W. gegen 14.00 Uhr mit dem Zug die Rückfahrt nach E. antreten. Für die Fahrt waren Fahrscheine für die 2. Klasse gelöst. Bei den Kindern handelte es sich um 13 - 17 Jahre alte zum Teil auch körperlich d. h. motorisch behinderte Kinder. Die Lehrkräfte sicherten zunächst allesamt den Einstieg. Da sich links vom Einstieg die 1. Klasse befand, wandten sich die Kinder nach rechts. Dort befand sich zunächst der Wagen 2, dann der Wagen 1 und davor die Lokomotive. Wagen 1 und Wagen 2 waren 2. Klasse-Abteile. Die Kinder verhielten sich diszipliniert. Es handelte sich nicht um eine schreiende Horde. Nachdem sich etwa ein Drittel der Kinder bereits im Zug befand, kam es zu einem Stau. Die Zeugin P. stieg dann auch in den Zug, um nach der Ursache zu sehen. Die anderen 3 Lehrkräfte sicherten weiterhin den Einstieg. Die Kinder waren sehr aufgeregt. An dem Übergang zum Wagen 1 stand der Kläger. Auf die Frage, warum es nicht weitergehe, gaben die Kinder die Antwort, daß sie von dem Kläger nicht durchgelassen würden. Die Zeugin P. forderte den Kläger dann mit energischem Ton auf, die Kinder durchzulassen. Der Kläger erwiderte in lautem und unfreundlichem Ton, daß es hier nicht weiter gehe und daß die Kinder in den letzten Wagen gehen sollten. Da der Zug aufgrund dieses Staus bereits 3 - 4 Minuten Verspätung hatte, kam die Zugführerin und pfiff die Zeugin L. an, was los wäre. Auf die Erwiderung, daß es da vorne nicht weiter gehe, warum, wisse die Zeugin auch nicht, ging die Zugführerin in den Zug und leitete die Kinder nach links in die 1. Klasse um. Daraufhin wendeten auch die sich bereits im Waggon Nr. 2 befindlichen Kinder und gingen in das 1. Klasse-Abteil. Dort fanden alle Kinder Platz. Die Lehrkräfte befanden sich in einem durch eine Glasschwingtür von diesem Abteil getrennten Vorraum, der sich unmittelbar an den Zugeinstieg anschloß. Die Zeugin L. hatte sich zunächst einmal in das Abteil zu den Kindern gesetzt, weil sie im Besitz der Fahrkarten war und sich als letzte Lehrkraft draußen aufgehalten hatte und ihr aus Angst davor, mit den Kindern den Zug zu verpassen, die Knie schlotterten. Die Zugführerin wurde im weiteren Verlauf nach dem Namen des Klägers gefragt und gebeten, den Kläger zur Klärung vorbeizuschicken. Die Zeugin P. wollte sich beschweren, die Zeugin wollte den Vorfall mit ihm besprechen. Nachdem der Kläger erschien, kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung. Dabei stand der Kläger unmittelbar vor der Glasschwingtür. Während des Gespräches versuchten einige Kinder dem Gespräch aus Neugier zu folgen und versuchten, die Glastür zu öffnen. Der Kläger hielt die Schwingtür zu. Einigen Kindern, die an der Tür zogen, gelang es, diese zur Hälfte zu öffnen. Ein Schüler stand mit dem Fuß in dem Zwischenraum der Tür. Daraufhin trat der Kläger dann gezielt gegen das Schienbein dieses Schülers. Der betreffende Schüler war hierüber erzürnt und äußert: "Ich laß mich doch nicht latschen." Nach dem Vorfall trat der getroffene Schüler zurück und der Kläger zog die Tür wieder zu. Daraufhin sagte die Zeugin P. dem Kläger, daß sie sich über ihn beschweren werde. Der Kläger erwiderte darauf, sie wolle wohl, daß er entlassen werde. Die Zeugin P. erwiderte ihrerseits, daß sie dies nicht wolle, dafür tue er selbst schon genug. Als kurz darauf der Bahnhof E. in Sichtweite kam, wollten einige Kinder durch die Schwingtür schon in Richtung Ausgang gehen. Der Kläger wurde von den Lehrkräften gebeten, die Tür zu öffnen. Der Kläger schlug dann die Glastür mit einer kurzen ruckartigen Bewegung in Richtung des Innenraums der 1. Klasse, wo sich die Kinder befanden. Die Tür schlug dabei einer Schülerin an den Kopf. Diese Schülerin hatte zuvor ihre Hand nicht an der Tür. Durch den Schlag mit der Tür erlitt die Schülerin eine Beule, welche die Form eines Horns hatte und nach zwei Tagen wieder weg war. Sowohl der Fußtritt als auch der Türstoß beruhten nicht auf einer Bewegung des Klägers, um den eigenen Stand abzusichern. Zu dem jeweiligen Zeitpunkt gab es kein Wackeln des Zuges, durch das der Kläger das Gleichgewicht hätte verlieren können.

(3) Dieser Sachverhalt steht fest aufgrund der glaubhaften und glaubwürdigen Aussagen der Zeuginnen P., M. und L. und der Einlassungen des Klägers. Die Aussage des Zeugen B., der angab, bei dem Vorfall des Einsteigens und dem Vorfall an der Schwingtür zu weit entfernt gestanden zu haben, ist unergiebig. Der nach der Beweisaufnahme festgestellte Sachverhalt enthält mehrere vorsätzliche schwerwiegende Verstöße des Klägers gegen seinen Arbeitsvertrag, bei denen er davon ausgehen mußte, daß diese von der Beklagten auf gar keinen Fall geduldet würden, die im völligen Gegensatz zu den von der Beklagten ihrer Kundschaft geschuldeten Dienstleistungen stehen und die deshalb geeignet sind, das durch überfüllte Züge und Verspätungen ohnehin lädierte Image der Beklagten weiter zu beeinträchtigen.

(a) Den Vorfall beim Einsteigen hat aus eigener Anschauung unmittelbar nur die Zeugin P. wahrgenommen. Sie befand sich in dem Abteil. Sie war selbst Adressatin der in lautem und unfreundlichem Ton gefaßten Äußerung, daß es hier nicht weitergehe und damit der Verweigerung des Durchgangs der Kinder in den Waggon Nr. 1. Sie hat auch unmittelbar mitbekommen, wie der Kläger sinngemäß geäußert hat: Ihr geht in den letzten Wagen". Die Aussage der Zeugin ist glaubwürdig. Daran ändert es nichts, daß sie sich an sämtliche Einzelheiten, die sie noch bei ihrer Anhörung durch die Beklagte mitgeteilt hatte, nicht mehr erinnern konnte. Dies ist nach dem Ablauf von mehr als einem Jahr nachvollziehbar. Die Andeutungen des Klägers, die darauf hinauslaufen, daß die Zeugin P. ihm feindlich gesonnen sei, sind nicht durch den Vortrag plausibler Tatsachen belegt. Die vom Kläger in der Verhandlung mehrfach wiedergegebene angebliche Äußerung einer Nachbarin des Klägers, die Zeugin P. habe "Haare auf den Zähnen", hat der Kläger zum einen ohne jedes Einbindungsmerkmal zu dem vorliegenden Verfahren und ohne die Mitteilung von Anhaltspunkten für eine auf ihn gerichtete Schädigungsabsicht der Zeugin in den Raum gestellt, zum anderen ist es auch nicht ersichtlich, was daran auszusetzen sein soll, daß jemand "Haare auf den Zähnen" hat. Dies besagt lediglich, daß sich jemand nicht so schnell etwas gefallen läßt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hatte die Zeugin P. zudem allen Grund dazu, sich das Verhalten des Klägers nicht gefallen zu lassen und sich zusammen mit den anderen Lehrkräften über den Kläger zu beschweren. Das Gericht war entgegen dem Verlangen des Klägers auch nicht verpflichtet, eine solche von ihm beabsichtigte Bemerkung gegenüber der Zeugin im Zuge ihrer Vernehmung zuzulassen. Es bestand also kein Grund für den Kläger, "wild" zu werden, so wie er es in seinem Schreiben vom 13.03.2000 ausgedrückt hat. Wenn der Kläger dann unter dem Vorwand eines körperlichen Bedürfnisses den Sitzungssaal verließ, um der Zeugin diese Einschätzung nach deren Vernehmung auf dem Gerichtsflur vorzuhalten, dann muß er sich nicht wundern, wenn die Zeugin - wie geschehen - erneut in den Gerichtssaal eintritt, um das Gericht von einer Belästigung durch den Kläger zu informieren. Diese Meldung ändert ebenfalls nichts an der Glaubwürdigkeit ihrer vorangegangenen Aussage, weil sie sich auch dieses Verhalten des Klägers nicht gefallen lassen mußte und mit voller Berechtigung ein Interesse des Gerichts daran annehmen durfte, wie sich der Kläger auf dem Gerichtsflur gegenüber einer Zeugin benahm. Der Kläger hat in seinem Brief vom 13.03.2000 im übrigen selbst eingeräumt, daß es seine Absicht gewesen sei, die Waggons 1 und 2 für ältere Fahrgäste frei zu halten. Schon deshalb ist es glaubwürdig, wenn die Zeugin P. bekundet, der Kläger habe den Kindern den Weg versperrt und diese auf das am weitesten entfernte letzte Abteil verwiesen. Damit steht zugleich fest, daß der Kläger verantwortlich für die verzögerte Abfahrt des Zuges in W. und damit für die Gefährdung der Einhaltung des Fahrplanes sowie für die in seinem Waggon und auf dem Bahnsteig entstehende Aufregung war, die bei der Zeugin L. zu einem unberechtigten Anpfiff durch die Zugführerin und zu schlotternden Knien und bei dieser und einem Teil der Kinder zu der Angst, den Zug zu verpassen, geführt hat. Der Kläger mag sich vor Augen führen, daß diese von ihm allein zu verantwortende Situation im Falle eines Hinzutretens eines zeitdruckbedingten Mißverständnisses zwischen Lokführer und Zugführerin bzgl. der Abfahrtbereitschaft, welches zu einem Anfahren des Zuges geführt hätte, leicht eine lebensbedrohliche Situation der im Einstiegsbereich befindlichen Fahrgäste zur Folge gehabt haben könnte. Bereits das Verhalten des Klägers beim Einstieg der Schulklasse verdeutlicht, daß der Kläger, obwohl er seit 17 Jahren als Zugschaffner tätig ist, seine Position im Zug so wie bei der in seiner Freizeit von ihm im Erfurter Fußballstadion wahrgenommenen Vereinstätigkeit in der Art eines obrigkeitlich handelnden Ordners und nicht eines Dienstleisters ansieht. Damit verkehrt sein Verhalten die von ihren Bediensteten umzusetzende Geschäftspolitik der Beklagten, deren Markt- und Öffentlichkeitsdarstellung ins Gegenteil, Mit seiner beharrlichen, weil selbst nach Intervention der Lehrerin aufrechterhaltenen Blockade des Waggons 1 für den Zutritt der Kinder, hat der Kläger vorsätzlich den Beförderungsvertrag der Beklagten als deren Erfüllungsgehilfe gegenüber den fraglichen Schulklassen verletzt, da deren Fahrkarte die Inhaber zur Einnahme eines jedweden freien Platzes in der von ihnen bezahlten Kategorie der 2. Klasse berechtigt, wenn, wie im Streitfall, eine Vorreservierung von freien Plätzen nicht stattgefunden hat. Darüber hinaus hat der eine erhebliche Verspätung des Zuges nicht nur verursacht, sondern bewußt in Kauf genommen. Hätte nicht die Zugführerin geistesgegenwärtig reagiert und die Kinder in die 1. Klasse umgeleitet, dann wäre eine noch größere Verspätung der Abfahrt entstanden. In diesem gegen die Interessen der Fahrgäste gerichteten Verhalten liegt zugleich ein schwerwiegender vorsätzlicher Verstoß gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten, die Geschäftsziele seines Arbeitgebers zu fördern und diesem keinen Schaden zuzufügen.

(b) Den Vorfall an der Glasdrehtür zur 1. Klasse haben die Zeuginnen P., M. und L. wahrgenommen, weil diese sich in unmittelbarer Nähe der Tür befanden und in eine verbale Auseinandersetzung mit dem Kläger über dessen Verhalten bei der Zugabfahrt verwickelt waren. Ihre Aussagen sind deshalb glaubhaft. Sie sind auch glaubwürdig. Sie sind frei von unerklärbaren Widersprüchen und stimmen in den wesentlichen Punkten überein. Soweit sie gedächtnis- oder blickwinkelbedingt nicht übereinstimmen, ergänzen sie sich. Insbesondere sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, wie der Kläger bei der Verhandlung des Ergebnisses der Beweisaufnahme glauben machen wollte, daß die Aussagen das Produkt eines gegen ihn gerichteten Komplotts sind. Die Aussagen erfolgten allesamt in individueller Wortwahl mit unterschiedlicher Akzentsetzung. Es liegen keinerlei Anhaltspunkte für eine abgesprochene Aussage mit den üblichen stereotyp wiedergegebenen, auswendig gelernt klingenden Wiederholungen von Tatumständen vor. Die vom Kläger besonders ins Visier seiner Falschaussage-Verdächtigungen genommene Zeugin P. hat erkennbar an jeder Stelle, bei der sie sich nach eineinhalb Jahren nicht mehr sicher war, dies sofort von selbst deutlich gemacht. Die Geschehenserfassung der Zeugin L. enthält im Unterschied zu den anderen Zeuginnen, die mehr den technischen Bewegungsablauf an der Glasschwingtür wiedergegeben haben, als dritte Dimension der Abläufe, die Wiedergabe ihrer Empfindungen. So hat sie das Zuschlagen mit der Tür auf den Kopf der Schülerin als unsinnige Bewegung mit der Tür, die zu diesem Zeitpunkt nicht hätte sein müssen, beschrieben, die sie als wütige Handlung empfunden habe. Auf. ihre schlotternden Knie, die dazu führten, daß sie sich erst einmal setzen mußte und an ihre Angst, den Zug zu verpassen und die Beule der Schülerin, die sie mit dem Schlüsselbund gekühlt hat, hat sie mit glaubwürdigkeitsvermittelnder Emotionalität hingewiesen. Die Zeuginnen standen vor dem Vorfall am 15.09.1999 in keinerlei Beziehung zu dem Kläger. Sie stehen auch weder in einem Abhängigkeitsverhältnis zu der Beklagten noch besteht sonst Grund zur Annahme, ihre Aussage erfolge zu deren Gunsten oder sei frei erfunden. Danach steht fest, daß der Kläger einen Schüler mit der Absicht, daß dieser den Fuß aus der Tür nimmt, damit der Kläger diese wieder schließen konnte, gegen das Schienbein getreten und wenig später diese Tür wütend und gezielt in Richtung einer Schülerin geschlagen hat, wobei diese eine Beule am Kopf erlitt. In beiden Fällen handelt es sich um strafrechtlich relevante, vorsätzliche und rechtswidrige Tätlichkeiten und eine vorsätzliche und rechtswidrige Einschränkung der in Anspruch genommenen Bewegungsfreiheit der beiden Kinder bzw. deren Nötigung zum Unterlassen des Verlassens des Abteils. In beiden Fällen handelt es sich um schwerwiegende Verletzungen des mit den beiden Kindern bestehenden Beförderungsvertrages als Erfüllungsgehilfe der Beklagten. Nach dem Beförderungsvertrag ist die Beklagte verpflichtet, alles zu unterlassen, was die Fahrgäste schädigen könnte und für einen angenehmen Aufenthalt der Fahrgäste zu sorgen. Durch solche Handlungen wird die Beklagte, abgesehen von grundsätzlich möglichen Schadensersatz- oder Schmerzensgeldansprüchen der Kundschaft, ganz erheblich in ihrem Ansehen geschädigt. Jeder Arbeitnehmer ist nach seinem Arbeitsvertrag - wie bereits oben gesagt - aber verpflichtet, von seinem Arbeitgeber Schaden abzuwenden.

(3) Sowohl bei dem Blockieren des Waggons 1 und erst recht bei den Tätlichkeiten handelt es sich um Verhaltensweisen, von denen der Kläger annehmen mußte, daß diese von der Beklagten keinesfalls toleriert werden würden. Schon deshalb bedurfte es keiner Abmahnung. Daß eine Abmahnung auch nach Lage der Dinge nicht dazu führen würde, daß ein solches Verhalten des Klägers in Zukunft sicher ausgeschlossen werden kann, belegt auch das permanent in zwei langen Berufungsverhandlungen gezeigte uneinsichtige Verhalten des Klägers. Bis in die letzten Minuten der wiedereröffneten Berufungsverhandlung, in der trotz der für ihn negativ ausgegangenen Beweisaufnahme selbst die Arbeitgeberseite auf Bitten des Vorsitzenden wegen der langen Betriebszugehörigkeit deutlich vergleichsweise Zugeständnisse signalisiert hat, beharrte der Kläger stur auf der von Anfang an eingenommenen Position, er habe sich auch nicht das Geringste zu Schulden kommen lassen und überzog die Beklagte mit pauschalen Beschuldigungen und Schmähungen, die das Bestehen tiefsitzender Feindschaftsgefühle erkennen ließen. Die fehlende Einsicht des Klägers in die Fehlerhaftigkeit seines Verhaltens erstaunt um so mehr, als er selbst sogar schriftlich eingeräumt hat, den Kindern den Zutritt in den Waggon 1 verweigert zu haben, daß er mehrfach zum Ausdruck gebracht hat, daß er überzeugter und praktizierender Katholik sei und am liebsten in seinem Heimatort Pfarrer geworden wäre. Der Kläger wird - weil er keine Bewertung seines Verhaltens von Außenstehenden zuläßt - auch dieses Gerichtsurteil als ungerecht empfinden. Er mag trotzdem überlegen. ob sein Verhalten in dem Zug am 15.09.1999 gegenüber lern- und teils motorisch körperbehinderten, also mehr als anderen Personen schutzbedürftigen Menschen von dem von Christus geforderten Gebot der Nächstenliebe gedeckt war, welches in einem der von ihm selbst an das Gericht übersandten Flugzettel (Wort des Lebens Oktober 1999) ausführlich erläutert ist und ob er diese Personen durch die von ihm selbst eingeräumte Verweigerung der Einnahme der in nächster Reichweite liegenden freien Plätze in der 2. Klasse als Fahrgäste dritter Klasse behandeln durfte.

cc) Eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz der Beklagten kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil im Zeitpunkt des Ablaufs der Kündigungsfrist und unter Berücksichtigung der bei dem Kläger bestehenden Farbsehstörung und bei der im Laufe des Prozesses mehrfach zum Ausdruck gekommenen beklagtenfeindlichen und gegenüber den Interessen der Beklagten und ihrer Kunden uneinsichtigen Haltung kein freier Arbeitsplatz ersichtlich war, bei dem damit zu rechnen ist, daß das Arbeitsverhältnis in Zukunft störungsfrei abläuft.

dd) Unter Zugrundelegung der streitgegenständlichen Vorfälle führt auch die Erforderliche Abwägung der beiderseitigen Interessen der Parteien nicht zu dem Ergebnis, daß eine ordentliche Kündigung des Klägers ausscheidet. Selbst wenn man die Unterhaltspflichten des Klägers mit einbeziehen würde, würde das berechtigte Interesse der Beklagten an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Klägers mit dem Gewicht der 17 Jahre währenden Beschäftigung bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerin an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses überwiegen. Bereits in der Vergangenheit der Beschäftigung des Klägers kam es zu Beschwerden von Kunden und Mitarbeitern. Soweit sich der Kläger insoweit darauf berufen hat, diese seien Bestandteil eines gegen ihn gerichteten Mobbings, ist er jede nachvollziehbare Begründung für diesen Vorwurf schuldig geblieben. Wäre die Beklagte gezwungen, für die Aneignung der überlebensnotwendigen Grundverhaltensweisen im kundenorientierten Geschäftsverkehr derart immune Mitarbeiter zu beschäftigen, würde sie ihre wirtschaftliche Existenz und damit zugleich alle anderen Arbeitsplätze aufs Spiel setzen.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO.

III. Anlaß für die Zulassung der Revision ist nicht ersichtlich.

Ende der Entscheidung

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