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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Landesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 09.07.2009
Aktenzeichen: 5 Sa 213/09
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 626
Fristlose Kündigung einer Gruppenleiterin in einer Werkstatt für behinderte Menschen, weil sie einem behinderten Werkstattmitarbeiter den Mund zugeklebt hat.
Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Erfurt vom 15.02.2008 - 8 Ca 1404/07 - abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die am 0.0.1951 geborene, verheiratete Klägerin war seit dem 01.08.1995 zu einem Monatsbruttoentgelt von zuletzt ca. 2.300,00 € bei dem Beklagten beschäftigt.

Seit 2001 war sie als Gruppenleiterin des Bereichs Küche/Hauswirtschaft in einer von dem Beklagten betriebenen Werkstatt für Menschen mit Behinderungen tätig. Zuvor war sie Küchenleiterin in einem Behindertenheim des Beklagten. Der Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer.

Am 03.07.2007 klebte die Klägerin dem behinderten Werkstattmitarbeiter W. ein Heftpflaster auf den Mund, welches den Mund ganz bedeckte. Danach meldete sie sich gegen 9.45 Uhr im Büro ab, weil sie Einkäufe für die Werkstatt zu erledigen hatte. Hierbei teilte sie den Mitarbeiterinnen M. und K. mit, Herr W. habe möglicherweise noch ein Pflaster auf dem Mund, weil er so geschrieen habe.

Gegen 9.55 Uhr betrat die Werkstattleiterin Frau P. die Küche und traf dort auf Herrn W.. Sie bemerkte das Pflaster und forderte Herrn W. auf, es zu entfernen.

Gegen 10.30 Uhr kehrte die Klägerin in die Werkstatt zurück.

Frau P. sprach die Klägerin noch am selben Tag - der genaue Zeitpunkt ist streitig - auf den Vorfall an.

Frau P. fertigte ein Protokoll zu dem Vorfall. In diesem heißt es auszugsweise:

"Protokoll

zum Vorkommnis am 03.07.2007 im Rahmen der Verletzung zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und des Leitbildes des ... (Beklagten)

Darstellung des Sachverhaltes:

Im Rahmen eines Werkstattrundganges bemerkte ich, in der Trainingsküche der Werkstatt den Mitarbeiter W., mit einem großen Pflaster über den Mund geklebt am Tisch sitzend und mit Servietten legen beschäftigt.

Ich forderte den Mitarbeiter auf, das Pflaster sofort zu entfernen, woraufhin dieser, sichtlich erleichtert, reagierte und auf meine Nachfrage hin mitteilte, dass die Gruppenleiterin Frau H. ihm dieses auf den Mund geklebt habe. In diesem Moment kam ein weiterer Mitarbeiter der Küche Hr. E. dazu und rief aufgeregt, dass das Pflaster auf dem Mund kleben bleiben solle, bis Frau H. vom Einkauf zurückkehrt.

Frau H. war in der Zeit von ca. 9.45 Uhr bis 10.30 Uhr wegen abgestimmter Einkäufe für die Werkstatt außer Haus.

Personalgespräch:

Nach der Rückkehr von Frau H. konfrontierte ich sie mit dem unhaltbaren Vorkommnis und befragte sie nach den Gründen für ihre Handlung. Zur Begründung gab sie an, der Mitarbeiter rege sie auf, sei immer vorlaut und redet zu viel, so dass er mitbekommen sollte, dass dies nicht zu dulden sei.

Ich machte Frau H. deutlich, dass ihre Handlungsweise inakzeptabel ist. Wie in bereits vorher geführten Fachgesprächen festgestellt, wiederholte ich die Aufforderung, in für sie unklaren Situationen im Umgang mit behinderten Menschen, sich an den Sozialdienst, das Leitungspersonal oder an andere Fachkräfte der Werkstatt zu wenden.

Ich teilte ihr mit, dass wir zum Sachverhalt ein Personalgespräch führen werden.

Am Nachmittag dieses Tages teilte ich der Fachbereichsleitung das Vorkommnis mit.

Sch. gez. P.

Vorstandsvorsitzende Werkstattleiterin"

Am 05.07.2007 fand ein diesen Vorfall betreffendes Gespräch statt, an dem die Klägerin, Frau P. und die Leiterin des Fachbereichs Arbeit Frau B. teilnahmen. In dem hierzu gefertigten Protokoll heißt es wie folgt:

"Stellungnahme von Frau H.:

Frau H. räumte den Sachverhalt ein. Sie gibt an, ihre Maßnahme als nicht so schlimm zu empfinden, sondern als Spaß und erklärte den Zusammenhang aus ihrer Sicht.

Herr W. sei mit einem anderen Mitarbeiter in Streit geraten und hätte lautstark geschimpft. Sie hatte Herrn W. nicht beruhigen können. Daraufhin hätte sie ihm das Pflaster aufgeklebt, um ihm damit sein Reden zu verbieten.

Frau B. erklärt, dass die Handlungsweise von Frau H. keinesfalls als Spaß verstanden werden kann, sondern einen schweren Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten und das Leitbild des ... (Beklagten) sowie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz bedeutet. Es bedeutet weiterhin eine Diskriminierung sowie eine Verletzung der uns anvertrauten Menschen im Rahmen der Fürsorgepflicht sowie eine Nötigung eines Menschen mit Behinderung. Frau B. macht deutlich, dass aufgrund dieses schwerwiegenden Verstoßes das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nachhaltig zerstört ist.

Frau B. macht die Tragweite des gesamten Vorfalles deutlich und erklärt dabei auch die Gefahr einer möglichen Rufschädigung des ... (Beklagten)..

Frau H. betont nochmals, den Vorfall eher als Spaß zu verstehen, teilt aber gleichzeitig mit, sie verstehe ihr Vorgehen als einen Fehler und möchte sich entschuldigen. Damit sollte die Angelegenheit aus ihrer Sicht erledigt sein.

Frau B. weist Frau H. auf ihre eingeschränkte Einsichtsfähigkeit im Rahmen der Gesamtzusammenhänge hin und macht deutlich, dass ihr Verhalten arbeitsrechtliche Konsequenzen nach sich zieht. Frau B. teilt ihr mit, dass der Vorfall der Vorstandsvorsitzenden Frau Sch. zur Kenntnis gebracht wurde und dass am Nachmittag, 15.00 Uhr die Mitglieder des Betriebsrates darüber informiert werden. Frau B. stellt Frau H. mit sofortiger Wirkung unter Fortzahlung der Bezüge bis zur Personalentscheidung von der Arbeit frei. Frau H. verlies die Einrichtung gegen 14.00 Uhr.

gez. B. gez. P.

Fachbereichsleiterin Arbeit Werkstattleiterin

Vorstandsmitglied"

Mit Schreiben vom 05.07.2007 teilte der Beklagte dem bei ihm bestehenden Betriebsrat mit, er beabsichtige, der Klägerin außerordentlich mit sofortiger Wirkung und hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu kündigen. Wegen des Inhalts des Schreibens wird auf dessen mit Schriftsatz vom 09.08.2007 zur Akte gereichte Ablichtung (Bl. 21 d. A.) Bezug genommen.

Der Betriebsrat führte ein Gespräch mit der Klägerin und meldete mit Schreiben vom 06.07.2007 unter dem Betreff "Anhörung des Betriebsrats zur fristlosen Kündigung - Frau H." Bedenken gegen die fristlose Kündigung an und bat im Hinblick auf die lange Betriebszugehörigkeit zu prüfen, ob die Vorwürfe den Entzug der finanziellen und materiellen Existenzgrundlage rechtfertigten.

Mit Schreiben vom 14.07.2007 sprach der Beklagte der Klägerin eine außerordentliche fristlose Kündigung aus wichtigem Grund sowie vorsorglich eine ordentliche Kündigung zum nächstzulässigen Kündigungstermin aus.

Den Mitarbeiterinnen M. und K. sprach der Beklagte Abmahnungen aus. Sie waren in die Küche gegangen und hatten Herrn W. dort mit dem Pflaster auf dem Mund beobachtet, ohne etwas zu unternehmen.

Mit der am 25.07.2007 beim Arbeitsgericht eingereichten Kündigungsschutzklage wandte sich die Klägerin gegen die außerordentliche und die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses und verlangte ihre Weiterbeschäftigung bis zum rechtkräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens. Ferner machte sie die Erteilung eines Zwischenzeugnisses geltend.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, dem Beklagten sei ihre Weiterbeschäftigung nicht unzumutbar. Sie habe - unstreitig - keine Abmahnungen erhalten und sei bei den Behinderten sehr beliebt. Sie hat geltend gemacht, als gelernte Köchin verfüge sie nicht über eine einschlägige Vor- bzw. Weiterbildung für den Umgang mit Behinderten und habe insbesondere keine sozialpädagogische Zusatzausbildung erhalten. Hierauf habe der Beklagte im Rahmen der gestellten Anforderungen Rücksicht nehmen müssen.

Die Klägerin hat weiter geltend gemacht, der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß angehört worden. Die Kündigung sei auch deshalb unwirksam, weil ihr keine Abschrift der Stellungnahme des Betriebsrats übergeben worden sei.

Die Klägerin hat beantragt:

1. Zunächst wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin nicht durch die außerordentliche arbeitgeberseitige Kündigung vom 14.07.2007 aufgehoben wurde.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin nicht durch die ordentliche arbeitgeberseitige Kündigung vom 14.07.2007 zum 30.11.2007 endete, sondern unverändert darüber hinaus fortbesteht.

3. Der Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens weiterzubeschäftigen.

4. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein berufsförderndes Zwischenzeugnis zu erteilen, welches sich auf Führung und Leistung erstreckt.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat behauptet, das von Frau P. erstellte Protokoll über den Vorgang am 03.07.2007 sowie das Protokoll über die Anhörung der Klägerin am 05.07.2007 seien inhaltlich zutreffend. Das Aufkleben des Pflasters sei eine bewusste Maßnahme gewesen, um Herrn W. als behinderten Menschen zu diskriminieren. Es habe sich um eine Züchtigungsmaßnahme gehandelt.

Der Beklagte hat darauf hingewiesen, dass sich Gruppenleiter in Konfliktsituationen an den Sozialen Dienst oder die Werkstattleitung wenden konnten.

Der Beklagte hat behauptet, das Verhalten der Klägerin und ihre Arbeitsweise hätten mehrfach Anlass für Kritikgespräche gegeben. Wegen der Einzelheiten des diesbezüglichen Vorbringens wird auf die Ausführungen im Schriftsatz vom 20.11.2007 (Bl. 43 ff d. A.) Bezug genommen.

Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Weiterbeschäftigung der Klägerin sei unzumutbar; sie habe sich hinsichtlich der Unvertretbarkeit ihrer Vorgehensweise nicht einsichtig gezeigt und das Geschehen vielmehr als Spaß bezeichnet.

Die Klägerin ist der Bewertung des Vorfalls durch den Beklagten entgegengetreten und hat behauptet, Herr W. sei mit dem Geschehen einverstanden gewesen. Herr W. lasse sich von seiner Persönlichkeit her nicht einschüchtern und habe sich in der Situation weder beeindruckt gezeigt noch eingeschüchtert verhalten. Unstreitig war Herr W. grundsätzlich ein ruhiger Mitarbeiter, geriet allerdings mindestens zweimal in der Woche völlig außer Fassung und schrie dann herum.

Den Hergang des Geschehens hat die Klägerin folgendermaßen geschildert:

Sie sei hinzugekommen, als Herr W. sich lautstark mit der behinderten Mitarbeiterin D. gestritten habe. Frau D. habe den Begriff Heftpflaster verwandt, woraufhin sie - die Klägerin - Herrn W. gesagt habe, ein solches werde sie ihm gleich auf den Mund kleben, wenn er nicht ruhig sei. Herr W. sei von der Idee angetan gewesen und habe gesagt, "Na mach es doch". Sie sei zum Sanitätsschrank gegangen und habe das erstbeste Pflaster ergriffen. Herr W. sei ihr gefolgt und habe den Mund hingehalten. Sie habe ihm das Pflaster auf den Mund geklebt und gesagt, "Wenn du wieder ruhig bist, kannst du es wieder abmachen".

Herr W. habe es generell genossen, wenn er die Aufmerksamkeit der anderen Mitarbeiter auf sich ziehen konnte und habe sich im Mittelpunkt der Gruppe gefühlt. Dies sei auch nach dem Aufkleben des Heftpflasters durch eine für ihn typische Freudenbewegung bestätigt worden.

Als Herr W. weitergesprochen habe, habe sich das Heftpflaster gelöst. Er habe es sich daraufhin selbst wieder angeklebt. Später sei das Heftpflaster erneut zu Boden gefallen, worauf ein anderer Behinderter, En., ihm gesagt habe, er solle das Heftpflaster drauflassen. Sie habe zu Herrn En. gesagt, er solle W. in Ruhe lassen, worauf sich Herr W. auch beruhigt habe.

Im Weggehen habe sie zu Herrn W. gesagt, "Kannst das Pflaster wieder abmachen". Herr W. habe sich das Heftpflaster auch noch während ihrer Abwesenheit selbst wieder aufgeklebt.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht am 15.02.2008 hat die Klägerin angegeben, nicht Frau D., sondern eine andere Behinderte habe gesagt, "Kleb ihm doch ein Pflaster auf den Mund".

Die Klägerin hat bestritten, zu dem streitgegenständlichen Vorfall angehört worden zu sein und hat insoweit behauptet, während des Gesprächs am 05.07.2007 habe sie sich lediglich Vorwürfen ausgesetzt gesehen, ohne sich hierzu äußern zu dürfen.

Die Klägerin hat bestritten, keine Einsicht gezeigt zu haben und hat darauf verwiesen, sich - unstreitig - bei Herrn W. und seinen Eltern entschuldigt zu haben. Sie hat behauptet, sich auch bei Frau P. entschuldigt zu haben, als diese ihr nach Rückkehr vom Einkaufen gesagt habe, das mit dem Heftpflaster sei nicht in Ordnung gewesen. Sie habe das Gleiche im Rahmen ihrer Anhörung beim Betriebsrat versichert.

Der Beklagte behauptet, Herr W. habe das Heftpflaster nicht deshalb wieder aufgeklebt, weil er das Ganze lustig gefunden habe, sondern weil er sich eingeschüchtert fühlte und mit weiteren Bestrafungen rechnete.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugin P.. Die Zeugin hat insbesondere bekundet:

"Ich bin etwa 5 vor 10.00 Uhr in den Küchenbereich gekommen, am Tisch am äußeren Ende saß Herr W.. Er war beschäftigt mit Servietten falten. Er nahm keine Notiz von mir, obwohl er sonst eigentlich immer sehr aufgeschlossen zu mir ist. Ich sah etwas auf seinem Mund, bin dann an ihn näher gekommen und habe ihn gefragt, was los ist. Dann habe ich gesehen, dass er ein richtig großes Pflaster, etwa von 10 cm Länge auf dem Mund hatte. Ich habe ihn aufgefordert, das Pflaster von dem Mund zu nehmen. Es hat richtig geratscht, als er das Pflaster abnahm und ist in die Küche gelaufen und hat dort Luft geholt. Ein zweiter Mitarbeiter in der Küche rief dann nur laut, nein, nein, lass das Pflaster drauf. Das Pflaster soll drauf bleiben, das hat Frau H. gesagt. Ich habe dann gesagt, das kommt nicht in Frage, das Pflaster kommt ab. Der W. hat nicht viel gesprochen, er saß nur da. Gegen 10.30 Uhr ist dann Frau H. wieder in die Werkstatt zurückgekommen. Ich habe sie gefragt, wie es dazu gekommen ist, dass sie ihm ein Pflaster auf den Mund geklebt hat. Frau H. hat dann gesagt, ja er war sehr laut und frech und ich habe ihm dann eben ein Pflaster auf den Mund gegeben, nur zum Spaß, ich soll das nicht so drastisch sehen."

Wegen des weiteren Inhalts der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der Sitzung vom 15.02.2008 (Bl. 70 ff d. A.) Bezug genommen.

Mit Urteil vom 15.02.2008 hat das Arbeitsgericht der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Es hat ausgeführt, die Anwendung körperlichen Zwangs zur Herstellung von Ruhe und Ordnung könne als Kündigungssachverhalt durchaus geeignet sein, eine fristlose bzw. ordentliche Kündigung zu begründen. Zur Überzeugung der Kammer stehe jedoch fest, dass für das Arbeitsverhältnis eine positive Prognose zu stellen sei und die Klägerin das nunmehr vor Augen geführte Fehlverhalten als Warnung und zugleich als Lehre annehme. Zu dieser Einschätzung komme das Gericht insbesondere deshalb, weil die Klägerin sich gegenüber Herrn W. und seinen Eltern sowie gegenüber ihrer Vorgesetzten Frau P. entschuldigt habe. Sie habe eingeräumt, dass sich dieses Verhalten nicht wiederholen werde. Unter Beachtung des Ultima-Ratio-Prinzips wäre eine Abmahnung deshalb angemessen und ausreichend gewesen, um die Klägerin zu einem zukünftig vertragsgerechten Verhalten anzuhalten.

Gegen dieses ihm am 11.03.2008 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit am 25.03.2008 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese begründet.

Er macht geltend, das erstinstanzliche Gericht habe verkannt, dass die Pflichtverletzung der Klägerin sich intensiv auf den Vertrauensbereich ausgewirkt habe. Es handele sich um eine besonders schwerwiegende Verfehlung, durch welche dem grundlegenden Charakter der Einrichtung und den Grundsätzen des Beklagten zuwider gehandelt worden sei. Ziel des Beklagten sei es, für die behinderten Menschen einzutreten, diesen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und sie unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Behinderung zu integrieren. Dies gehöre zu den Grundlagen des Leitbildes des Beklagten.

Erstinstanzlich sei die Körperlichkeit des Angriffs nicht berücksichtigt worden. Nicht berücksichtigt worden sei ferner, dass die Klägerin nach der Aussage der Zeugin P. keine eingehende Einsichtsfähigkeit gezeigt habe.

Das erstinstanzliche Gericht habe zudem unberücksichtigt gelassen, welche erheblichen Folgen das Verhalten der Klägerin für den Beklagten nach sich ziehen könne. Der Beklagte sei auf Fördermittel angewiesen und solche Fördermittel könnten gestrichen bzw. nicht mehr gewährt werden, wenn das Vertrauen in die Arbeit des Vereins verloren gehe.

Der Beklagte hat behauptet, eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit mit der Klägerin sei nicht möglich.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Erfurt vom 15.02.2008, Az.: 8 Ca 1404/07, wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Hilfsweise beantragt er,

das Urteil des Arbeitsgerichts Erfurt vom 15.02.2008, Az.: 8 Ca 1404/07, wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen.

Für den Fall, dass die hilfsweise ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht möglich ist, beantragt er, das Arbeitsverhältnis gem. §§ 9, 10 KSchG aufzulösen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen und den Auflösungsantrag abzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil und vertritt die Auffassung, ein grobes Fehlverhalten, welches das Vertrauensverhältnis nachhaltig zerstöre, sei ihr nicht vorzuwerfen. Ihr sei in der Situation nicht bewusst gewesen, dass sie sich vertragswidrig verhalte. Ihr habe situationsbedingt das Unrechtsbewusstsein gefehlt, da sie nicht bewusst körperlichen Zwang zur Herstellung von Ruhe und Ordnung anwandte, sondern dies aus der Situation der Auseinandersetzung zwischen den Behinderten heraus geschah.

Sie verweist darauf, es habe - unstreitig - fünf Tage vor Ausspruch der Kündigung ein internes Audit mit allen Werkstattleitern gegeben. Beanstandungen im Zusammenhang mit ihrer Arbeitsleistung habe es nicht gegeben. Im Mai 2007 habe sie - unstreitig - mit den Behinderten eine Reise an die Ostsee unternommen, die ein großer Erfolg gewesen sei.

Entscheidungsgründe:

Die gem. § 64 Abs. 2 c ArbGG statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung des Beklagten ist zulässig und begründet.

Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die außerordentliche Kündigung vom 14.07.2007 aufgelöst worden.

Das Arbeitsgericht hat dem Kündigungsschutzantrag stattgegeben, weil es der Auffassung war, die Kündigung verstoße gegen das Ultima-Ratio-Prinzip, der Ausspruch einer Abmahnung wäre ausreichend gewesen, um die Klägerin zu zukünftig vertragsgemäßem Verhalten zu bewegen. Dieser Auffassung folgt die erkennende Kammer nicht. Die Kammer ist der Auffassung, dass die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist für den Beklagten unzumutbar war.

Gem. § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Die erforderliche Überprüfung, ob ein gegebener Lebenssachverhalt einen wichtigen Grund darstellt, vollzieht sich zweistufig: Im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB ist zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls als wichtiger Kündigungsgrund an sich geeignet ist. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht (BAG - 2 AZR 581/04 - zitiert nach juris).

Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme, des unstreitigen Sachverhalts sowie der Würdigung der Einlassung der Klägerin steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Klägerin dem behinderten Werkstattmitarbeiter W. unter Ausnutzung ihrer überlegenen Stellung als Gruppenleiterin das Heftpflaster über den Mund geklebt hat, um ihn zu disziplinieren. Ein solches Verhalten ist grundsätzlich geeignet, einen wichtigen Grund i. S. des § 626 BGB zu bilden.

Hinsichtlich der Einschätzung des Beweiswertes der Aussage der Zeugin P. schließt sich die Kammer der Auffassung des Arbeitsgerichts an. Die Aussage ist überzeugend, sie ist schlüssig und widerspruchsfrei. Einwände gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugin sind von keiner Seite erhoben worden und auch nicht erkennbar. Die Aussage lässt insbesondere keine Belastungstendenzen gegenüber der Klägerin erkennen.

Hiernach hat die Klägerin Herrn W. das Pflaster aufgeklebt, um ihn zu disziplinieren. Sie hat, erstmalig auf den Vorfall angesprochen, erklärt, Herr W. sei sehr laut und frech gewesen und sie habe ihm dann eben ein Pflaster auf den Mund geklebt. Aus dieser Aussage ergibt sich eindeutig, dass die Maßnahme bestrafenden und sanktionierenden Charakter hatte. Damit hat die Klägerin genau den Eindruck bestätigt, der sich jedem unbeteiligten Betrachter spontan aufdrängt.

Hiermit hat die Klägerin eine Hauptpflicht ihres Arbeitsvertrages verletzt.

Die Klägerin war als Gruppenleiterin in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt.

Gem. § 136 SGB IX hat eine solche Werkstatt denjenigen behinderten Menschen, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden können, eine angemessene berufliche Bildung und eine Beschäftigung zu einem ihrer Leistung angemessenen Arbeitsentgelt aus dem Arbeitsergebnis anzubieten und zu ermöglichen, ihre Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu entwickeln, zu erhöhen oder wiederzugewinnen und dabei ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Dieser gesetzlichen Aufgabenstellung korrespondiert das Leitbild des Beklagten, aus dem sich die grundsätzlichen Anforderungen an die Arbeitsleistung der Klägerin ergeben.

Die danach für das Vertragsverhältnis der Parteien maßgebliche Aufgabenstellung erfordert einen angemessenen Umgang mit den behinderten Menschen. Welcher Umgang angemessen ist, bestimmt sich dabei grundsätzlich, soweit nicht aufgrund der Behinderung Besonderheiten bestehen, nach den allgemeinen, in der jeweiligen Situation üblichen Verhaltensregeln.

Hiernach ist es in nahezu jeder denkbaren Situation vollkommen unangemessen, einem anderen Menschen den Mund zuzukleben. Der so Behandelte wird zum Objekt degradiert und herabgewürdigt.

Das Vorgehen der Klägerin ist auch nicht deshalb angemessen, weil Herr W. gewollt hat, dass sie ihm den Mund zuklebt. Zur Überzeugung der Kammer steht fest, dass Herr W. die Situation, in der die Zeugin P. ihn angetroffen hat, nicht freiwillig, im Sinne einer freien, selbstbestimmten Entscheidung herbeigeführt hat.

Die Antwort, "Na mach es doch", auf die Ankündigung der Klägerin, sie werde ihm ein Heftpflaster auf den Mund kleben, wenn er nicht ruhig sei, muss im Gesamtzusammenhang verstanden werden. Herr W. hat der Klägerin, die ihn zur Ordnung gerufen hat, hierdurch zu verstehen gegeben, dass ihn die von ihr in Aussicht gestellte Sanktionen nicht beeindruckt. Keinesfalls konnte die Klägerin annehmen, er wünsche ernsthaft, sein Mund werde mit einem Heftpflaster zugeklebt. Warum sollte er auch?

Die Klägerin rechnete auch damit, dass Herr W. das Pflaster nicht selbst abnehmen werde. Dies ergibt sich daraus, dass sie Frau M. und Frau K. darüber informierte, Herr W. trage möglicherweise noch immer ein Pflaster auf dem Mund.

Die Angabe der Klägerin, das Pflaster sei, auch nachdem es aufgeklebt worden sei, mehrfach abgefallen und Herr W. habe es wieder aufgeklebt, ist nach Auffassung der Kammer durch die Aussage der Zeugin P. widerlegt. Wenn das Pflaster gegen 9.55 Uhr beim Entfernen "ratschte", also fest anklebte, dann kann es zuvor nicht mehrfach abgefallen sein. Ein Pflaster verliert seine Klebekraft, es gewinnt sie nicht durch Zeitablauf oder mehrfaches Wiederaufkleben zurück.

Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile ist die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für den Beklagten unzumutbar. Das Beendigungsinteresse des Beklagten überwiegt im Verhältnis zu dem Bestandsschutzinteresse der Klägerin.

Zugunsten der Klägerin sind ihr Alter sowie ihre lange Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen, wobei die Kammer von einem beanstandungsfreien Arbeitsverhältnis ausgeht. Zu Gunsten der Klägerin ist weiter zu berücksichtigen, dass sie sich über ihre arbeitsvertraglichen Pflichten hinaus für den vom beklagten Verein verfolgten Zweck einsetzte.

Zu Gunsten des Beklagten ist die Schwere der Vertragspflichtverletzung zu berücksichtigen. Die Klägerin hat so gehandelt, wie sie in keinem Fall hätte handeln dürfen. Sie hat ihrer vertraglichen Verpflichtung direkt zuwidergehandelt. Dieses Verhalten ist der Klägerin auch vorwerfbar.

Ihr Einwand, der Beklagte müsse im Rahmen der gestellten Anforderungen auf ihre mangelnde Fachausbildung Rücksicht nehmen, greift nicht. Gem. § 9 der Werkstättenverordnung (WVO vom 13. August 1980 - BGBl I 1365 -, zuletzt geändert durch Art 8 des Gesetzes vom 22. Dezember 2008 - BGBl I 2959) muss eine anerkannte Werkstatt für behinderte Menschen eine bestimmte Anzahl an Fachkräften beschäftigen, die pädagogisch geeignet sind und über eine sonderpädagogische Zusatzqualifikation verfügen. Es kann aber dahingestellt bleiben, ob die Klägerin bei Beachtung dieser Vorgaben eine sozialpädagogische Zusatzausbildung hätte erhalten müssen, denn es bedarf keiner sonderpädagogischen Zusatzausbildung, um zu erkennen, dass man einem anderen Menschen nicht den Mund zuklebt.

Etwas Anderes würde dann gelten, wenn die Klägerin in der konkreten Situation überfordert gewesen wäre und die "Nerven verloren" hätte. Das behauptet sie aber gerade nicht. Sie gibt vielmehr an, sie habe mit den Eigenarten des Herrn W. sehr gut umgehen können (Seite 3 des Schriftsatz vom 28.09.2007). Bei dieser Sachlage bestand für die Kammer keinerlei Anhaltspunkt für die Annahme, das Vorgehen der Kläger sei darauf zurückzuführen, dass sie keine sonderpädagogische Zusatzausbildung erhalten hat.

Zu Gunsten des Beklagten ist auch zu berücksichtigen, dass es sein Ansehen und sein Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit erheblich beeinträchtigen würde, wenn bekannt würde, dass es zu solch einem Übergriff kam und dies folgenlos blieb bzw. nicht zur Kündigung führte.

Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts war eine vorherige Abmahnung nicht erforderlich. Für eine verhaltensbedingte Kündigung gilt das sogenannte Prognoseprinzip. Der Zweck der Kündigung ist nicht Sanktion für die Vertragspflichtverletzung, sondern die Vermeidung des Risikos weiterer Pflichtverletzungen. Eine negative Prognose liegt vor, wenn aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde den Arbeitsvertrag auch nach einer Kündigungsandrohung erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen (vgl. BAG Urteil vom 18.09.2008 - 2 AZR 827/06 - zitiert nach juris).

So verhält es sich im vorliegenden Fall. Es steht zu befürchten, dass die Klägerin in Zukunft in ähnlicher Weise gegen ihre Vertragspflichten verstößt.

Ihre Reaktion auf die Information darüber, wie die Zeugin P. Herrn W. angetroffen hat, offenbart eine grundlegende Gleichgültigkeit gegenüber dem Anspruch der von ihr betreuten Menschen auf Achtung ihrer Integrität und Würde. Die Klägerin äußerte kein Erstaunen darüber, dass Herr W. das Heftpflaster nicht von sich aus entfernt hat, und zeigte kein Zeichen des Bedauerns, obwohl sie spätestens bei Schilderung der von Frau P. vorgefundenen Situation erkennen musste, dass infolge ihres Handelns eine untragbaren Situation entstanden war.

Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts hält die Kammer eine Abmahnung auch nicht deshalb für ausreichend, weil die Klägerin Einsicht in ihr Fehlverhalten gezeigt hat. Für die Prognoseentscheidung, ob mit zukünftig vertragstreuem Verhalten gerechnet werden kann, kommt es auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung an. Bis zu diesem Zeitpunkt hat die Klägerin weder erkennen lassen, dass sie die Dimension ihres Fehlverhaltens erfasst, noch dass sie ihr Verhalten bedauert. Noch im Gespräch am 05.07.2007 hat sie betont, sie verstehe den Vorfall eher als Spaß. Die gleichzeitig abgegebene Erklärung, sie verstehe ihr Vorgehen als Fehler und wolle sich entschuldigen, zielt in diesem Zusammenhang lediglich darauf ab, nachteilige arbeitsrechtliche Konsequenzen für sich selbst zu verhindern. Der Klägerin fehlte nicht nur situationsbedingt, sondern generell das Unrechtsbewusstsein.

Aufgrund der Schwere des Verstoßes war auch die Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist für den Beklagten unzumutbar.

Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB ist durch die ausgesprochene Kündigung eingehalten.

Die Kündigung ist nicht gem. § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG unwirksam. Der Beklagte hat den Betriebsrat ordnungsgemäß beteiligt. Dem Betriebsrat wurden der Sachverhalt und die Sozialdaten der Klägerin mitgeteilt. Die Kündigung wurde erst nach abschließender Stellungnahme des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung ausgesprochen. Damit ist das Verfahren nach § 102 BetrVG ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die Übergabe der Stellungnahme des Betriebsrats an die Klägerin ist nicht Wirksamkeitsvoraussetzung der Kündigung.

Der Weiterbeschäftigungsantrag ist unbegründet, da das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgrund der außerordentlichen Kündigung beendet worden ist. Aus demselben Grunde steht der Klägerin ein Anspruch auf Erteilung eines Zwischenzeugnisses nicht zu.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG i. V. mit § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision lagen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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