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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 07.11.2003
Aktenzeichen: 1 Ws 340/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 455
1. Wird eine Strafe nicht vollzogen, so ist für eine Entscheidung nach § 455 Abs. 4 StPO kein Raum.

2. Ein Antrag auf Unterbrechung der Vollstreckung mehrerer nacheinander zu vollziehender Freiheitsstrafen wegen Vollzugsuntauglichkeit ist sachgerecht dahin auszulegen, dass hinsichtlich der nicht vollzogenen Strafen ein Aufschub der Strafvollstreckung erstrebt wird.

3. Zu den Anforderungen an eine nachprüfbare Ermessensentscheidung im Verfahren nach § 455 StPO.


THÜRINGER OBERLANDESGERICHT Beschluss

1 Ws 340/03

In dem Strafvollstreckungsverfahren

wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln,

hat auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Meiningen vom 08.08.2003 der 1. Strafsenat des Thüringer Oberlandesgerichts durch

Richter am Oberlandesgericht Dr. Schwerdtfeger als Vorsitzenden, Richter am Oberlandesgericht Schulze und Richterin am Amtsgericht stVDir Pesta

am 07. November 2003

beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Meiningen vom 08.08.2003 und die Verfügung der Staatsanwaltschaft Meiningen vom 29.01.2003 werden aufgehoben.

2. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an die Staatsanwaltschaft Meiningen zurückgegeben.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer wurde in diesem Verfahren durch die 1. Strafkammer des Landgerichts Meiningen durch Urteil vom 20.02.2002, rechtskräftig seit dem 08.03.2002, wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 11 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Weiterhin wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.

Eine Vollstreckung der Strafe in dieser Sache erfolgt gegenwärtig nicht. Vielmehr wird seit dem 03.01.2003 eine Restfreiheitsstrafe im Verfahren 7 Js 10605/96 - 1 Kls aufgrund des Widerrufsbeschlusses des Landgerichts Meiningen vom 06.06.2002 vollstreckt. Strafende ist insoweit auf den 04.07.2004 notiert. Im Anschluss daran sind die Maßregel und die Freiheitsstrafe in vorliegender Sache zu vollziehen.

Unter dem 22.01.2003 hat der Verurteilte durch seine Verteidigerin beantragt, die Strafvollstreckung aus dem Widerrufsbeschluss des Landgerichts Meiningen vom 06.06.2002 im Verfahren 7 Js 100605/96 sowie aus dem Urteil des Landgerichts Meiningen vom 20.02.2002 in vorliegender Sache gem. § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO zu unterbrechen. Der Antrag wurde darauf gestützt, dass der Beschwerdeführer an Hepatitis C erkrankt sei und dass die damit in Zusammenhang stehende notwendige Interferon-Behandlung nicht, wie zunächst vorgesehen, im Maßregelvollzug Hildburghausen erfolgen könne.

Durch Verfügungen vom 29.01.2003 hat die Staatsanwaltschaft Meiningen diesen Antrag mit folgender gleichlautender Begründung verbeschieden:

"Eine Haftunterbrechung gemäß § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO wird abgelehnt.

Der Rechtsbeistand des Verurteilten macht geltend, dass eine Erkrankung an Hepatitis C vorliegt, die in der Haftanstalt nicht behandelt werden könne. Dem ist entgegenzuhalten, dass möglicherweise bald im Landesfachkrankenhaus Hildburghausen eine Behandlung möglich werden wird. Man muss da nur etwas Hartnäckigkeit zeigen.

Eine Strafunterbrechung ist auch deshalb nicht möglich, weil Gründe der öffentlichen Sicherheit entgegenstehen. Der Verurteilte wurde mehrfach wegen Rauschgift-Verbrechen verurteilt. Zu seinem Leben gehört es, mit Rauschgift wie mit einem normalen Lebensmittel umzugehen. Wenn der Verurteilte in seinem jetzigen Zustand in Freiheit entlassen würde, wäre mit Sicherheit ein neuer strafbarer Umgang mit Rauschgift zu erwarten.

Soweit angegeben wird, eine Behandlung mit Interferon könne dem Verurteilten helfen, fehlt im übrigen seine Erklärung, mit einer solchen Behandlung ggf. einverstanden zu sein. Der Anstaltsarzt T. hat angegeben, eine Interferon-Behandlung sei mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden."

Gegen diese staatsanwaltschaftliche Verfügungen erhob der Verurteilte Einwendungen mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 458 Abs. 2 StPO. Dies geschah hinsichtlich des Verfahrens 7 Js 10605/96 gegenüber dem Landgericht Erfurt und im vorliegenden Verfahren mit Schriftsatz vom 17.03.2003 an die 1. Strafkammer des Landgerichts Meiningen. Die Verteidigerin des Verurteilten ging insoweit davon aus, dass, da der Verurteilte in vorliegender Sache sich nicht in der Unterbringung bzw. im Strafvollzug befunden hat, die Zuständigkeit des Gerichts des ersten Rechtszuges nach § 264 Abs. 1 StPO i. V. m. § 462 a Abs. 2 StPO gegeben sei.

Über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung in vorliegender Sache hat mit dem angefochtenen Beschluss die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Meiningen entschieden und hat den Antrag vom 17.03.2003, die Vollstreckung aus dem Urteil des LG Meiningen vom 20.02.2002 zu unterbrechen, abgelehnt.

II.

Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde führt zur Aufhebung der landgerichtlichen und der staatsanwaltschaftlichen Entscheidungen. Über den Antrag des Verurteilten wird erneut zu befinden sein.

Der angefochtene Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Meiningen war schon deshalb aufzuheben, weil die Strafvollstreckungskammer dieses Landgerichts für die zu treffende Entscheidung nicht zuständig ist.

Nach § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO ist dann, wenn gegen den Verurteilten eine Freiheitsstrafe vollstreckt wird, für die nach den §§ 453, 454, 454 a und 462 StPO zu treffenden Entscheidungen die Strafvollstreckungskammer zuständig, in deren Bezirk die Strafanstalt liegt, in die der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wird, aufgenommen ist. Diese Regelung gilt nicht nur für den Fall der Erstaufnahme, sondern auch für jede spätere Verlegung mit Ausnahme vorübergehender Verschubungen (vgl. BGHSt 26,165 f.; BGHSt 36, 229 ff..). Hier wurde der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 458 StPO i. V. m. § 462 StPO mit Schriftsatz vom 17.03.2003 gestellt und ist beim Landgericht Meiningen am 18.03.2003 eingegangen. Zu diesem Zeitpunkt hat sich der Verurteilte zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Verfahren 7 Js 10605/96 in der JVA Tonna befunden. Diese Anstalt liegt im Bezirk des Landgerichts Erfurt. Zwar hat sich der Verurteilte bis zum 25.06.2002 in der JVA Untermaßfeld und damit in einer Strafanstalt befunden, die im Bezirk des Landgerichts Meiningen liegt. Die damals zuständige Strafvollstreckungskammer wurde aber vor der Verlegung nicht mit der Sache befasst, so dass auch keine Fortwirkungszuständigkeit besteht. Darauf, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe in einem anderen Verfahren erfolgt ist, kommt es im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung des § 462 a StPO nicht an.

Da somit ein unzuständiges Gericht in der Sache entschieden hat, war der angefochtene Beschluss aufzuheben.

Dies führt allerdings nicht zur Verweisung der Sache an das zuständige Gericht, nämlich die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Erfurt, sondern der Senat kann, da das zuständige Gericht ebenfalls im Bezirk des Thüringer Oberlandesgerichts liegt, in der Sache selbst entscheiden (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 309 Rn. 6 m.w.N.).

Die vorzunehmende Sachprüfung führt zur Aufhebung der Verfügung der Staatsanwaltschaft Meiningen vom 29.01.2003 hinsichtlich des vorliegenden Verfahrens 454 Js 13616/01.

Der Verurteilte hat sich zum Zeitpunkt der Antragstellung an die Staatsanwaltschaft Meiningen, dem 22.01.2003, in Strafhaft befunden, und zwar zur Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Verfahren 7 Js 10605/96 infolge des Widerrufsbeschlusses des Landgerichts Meiningen vom 06.06.2002. Somit war von vornherein kein Raum für eine Entscheidung in vorliegender Sache über die Unterbrechung der Vollstreckung der nicht vollzogenen Freiheitsstrafe. Nach dem eindeutigen Wortlaut von § 455 StPO kann nämlich nur eine solche Freiheitsstrafe unterbrochen werden, die vollstreckt wird.

Jedoch muss der Antrag des Verurteilten vom 22.01.2003 sachgerecht dahin ausgelegt werden, dass hinsichtlich der vorliegenden Sache eine Aufschiebung der Strafvollstreckung erstrebt wird. Das Begehren des Verurteilten bezieht sich ohne jeden Zweifel auch auf einen Strafaufschub. Zwar enthält § 455 Abs. 3 StPO keine dem § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO wörtlich entsprechende Regelung. Von § 455 Abs. 3 StPO werden indes aber auch Fälle wie der Vorliegende erfasst, etwa wenn die nötige ärztliche Behandlung in der Vollzugsanstalt nicht möglich wäre (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 455 Rn.6 m.w.N.). Auch wenn hier aufgrund der Dauer der Strafvollstreckung im Verfahren 7 Js 10605/96 der Beginn der Strafvollstreckung in vorliegender Sache erst im Juli 2004 ansteht, ist es grundsätzlich angezeigt, den Strafausstand wegen Vollzugsuntauglichkeit bei einem für mehrere Verfahren gestellten Antrag für jedes Verfahren zu prüfen, und zwar, wenn die Vollstreckung der Freiheitsstrafe noch nicht begonnen hat nach § 455 Abs. 1 bis 3 StPO und wenn die Vollstreckung läuft nach § 455 Abs. 4 StPO.

Dafür spricht auch der Umstand, dass § 455 Abs. 1 bis 3 StPO keine Frist vorsieht, innerhalb derer ein Antrag auf Aufschub der Vollstreckung gestellt bzw. eine gerichtliche Entscheidung nach § 458 StPO beantragt werden kann.

Dass der Antrag des Verurteilten vom 22.01.2003 hinsichtlich dieses Verfahrens als Antrag auf Strafaufschub zu behandeln und zu bescheiden ist, wurde von der Staatsanwaltschaft bei ihrer Entscheidung nicht bedacht. Sie hat vielmehr eine - hier nicht angezeigte - Prüfung nach § 455 Abs. 4 StPO vorgenommen.

Die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde ist schon aus diesem Grunde ermessensfehlerhaft und kann keinen Bestand haben.

Aber auch, wenn man die Verfügung der Staatsanwaltschaft Meiningen vom 29.01.2003 dahin auslegt, dass ein Strafausstand in der möglichen Form des Strafaufschubs abgelehnt werden sollte, entspricht diese Entscheidung nicht den gesetzlichen Anforderungen. Die Aufhebungsgründe aus dem Beschluss des Senats vom 21.08.2003 1 Ws 264/03 im Parallelverfahren 7 Js 10605/96, auf den verwiesen wird, gelten hier gleichermaßen. Es handelt sich nämlich auch hinsichtlich des vorliegenden Strafvollstreckungsverfahrens nicht um eine nachprüfbare Ermessensentscheidung.

Inwieweit die Krankheit des Verurteilten, die ersichtlich unstreitig ist, jedoch nicht einmal bestimmt angenommen wird, die Kriterien nach § 455 Abs. 3 StPO erfüllt, wird nicht dargelegt. So wird nichts ausgeführt über die Schwere der Erkrankung, die Dauer und die Art und Weise einer erforderlichen Behandlung, die Möglichkeit der Behandlung in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus sowie über die Erwartung des Fortbestands der Erkrankung für eine erhebliche Zeit. Die Grundlagen für die Entscheidung hinsichtlich der Prüfung der Voraussetzungen des § 455 Abs. 3 StPO werden in keiner Weise deutlich. Der gebotene Bezug auf (amts-)ärztliche Gutachten bzw. Stellungnahmen wird nicht vorgenommen. Soweit Gründe der öffentlichen Sicherheit zur Versagung des Strafausstands herangezogen werden, ist eine sachgerechte Abwägung nicht möglich, da, wie dargelegt, die maßgeblichen Umstände nach § 455 Abs.3 StPO nicht mitgeteilt werden.

Nach alledem mussten die Entscheidungen der Vollstreckungsbehörde und der Strafvollstreckungskammer aufgehoben werden.

Die Sache war an die Staatsanwaltschaft Meiningen zurückzugeben, um die gebotene Entscheidung nach § 455 Abs. 3 StPO im vorliegenden Verfahren nachzuholen. Es wird angezeigt sein, auch um den derzeit gegebenen medizinischen Sachstand zu berücksichtigen, eine ergänzende ärztliche Stellungnahme, ggf. eine amtsärztliche Stellungnahme bzw. eine solche des Haftkrankenhauses, beizuziehen.

Ende der Entscheidung

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