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Gericht: Thüringer Oberlandesgericht
Urteil verkündet am 18.02.2009
Aktenzeichen: 4 U 1066/04
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
1. Ein Befunderhebungsfehler - durch Unterlassen - kann dann haftungsbegründend dem behandelnden Arzt (hier Hausarzt) anzulasten sein, wenn bei weiterer (hier unterlassener) Befunderhebungen ein reaktionspflichtiger Befund festgestellt worden wäre, der seinerseits weitere Behandlungsmaßnahmen zwingend erforderlich gemacht hätte, die, falls sie unterlassen worden wären, dann ihrerseits als grob fehlerhaft zu bewerten gewesen wären mit der Folge einer Beweislastumkehr für die Patientenseite in Bezug auf die Kausalität des eingetretenen Primärschadens.

2. Grundsätzlich ist schon das Nichterkennen einer (erkennbaren) Erkrankung und der sie kennzeichnenden Symptome als Behandlungsfehler (in der Form eines Diagnosefehlers) zu werten. Irrtümer bei der Diagnosestellung sind jedoch nicht selten, weil die Symptome einer Erkrankung nicht immer eindeutig sind. Diagnosefehler, die objektiv auf eine Fehlbefundung zurückzuführen sind, können daher nur mit Zurückhaltung als relevante Behandlungsfehler gewertet werden; allerdings gilt dies nicht für eine Fehlbefundung von Symptomen, die für eine bestimmte Erkrankung kennzeichnend sind.

3. Die Unterlassung einer - angesichts der Unsicherheit der Diagnose - erforderlichen Überprüfung der Diagnose, also die Nichterhebung gebotener weiterer Befunde kann daher haftungsbegründend wirken, wenn der erste Befund auch den Verdacht einer Erkrankung nahe legt, die zwingend behandlungsbedürftig ist und die - auf Grund fehlerhafter Erstdiagnose - notwendige Behandlung (der nicht deutlich erkannten Krankheit) nur deshalb unterbleibt, weil der Erstbefund fehlerhaft und trotz notwendiger Abklärung eine weitere Befunderhebung unterlassen worden war. Denn für die gehörige Erhebung der faktischen Grundlagen für eine differenzierte Diagnostik und Therapie gilt - zum Wohl des Patienten - ein strenger Maßstab. Maßstab ist stets, was der (jeweilige) medizinische Standard gebietet, also was im konkreten Fall dem Qualitätsstandard einer sachgerechten Behandlung entspricht. Dabei sind bei schwer wiegenden Risiken für den Patienten - wie hier dem drohenden Herzinfarkt - auch vom behandelnden Arzt für unwahrscheinlich gehaltene Gefährdungsmomente auszuschließen. Bei Berücksichtigung dieses - strengen - Sorgfaltsmaßstabs darf der Arzt dem Patienten nicht die weitere Entscheidung darüber überlassen, ob dieser sich einer notwendigen klinischen Untersuchung zur differentialdiagnostischen Abklärung des Erstbefundes stellt.

4. Ein Verschulden des Arztes ist dann zu bejahen, wenn er aus seiner Sicht zur Zeit der Diagnosestellung entweder Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der gestellten Diagnose hatte oder aber solche Zweifel gehabt und sie nicht beachtet hat.


THÜRINGER OBERLANDESGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

4 U 1066/04

Verkündet am: 18.02.2009

In dem Rechtsstreit

hat der 4. Zivilsenat des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena durch

Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Müller, Richterin am Oberlandesgericht Friebertshäuser und Richterin am Amtsgericht Hütte

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14.01.2009

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Meiningen vom 03.11.2004 - 3 O 697/02 - abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 8.727,10 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.11. 1999 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits fallen dem Beklagten zur Last.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert der Berufung beträgt 8.727,10 €.

Gründe:

I.

Die Klägerin ist die Tochter und Miterbin des am 24.10.1998 an den Folgen eines akuten Herzinfarktes - hervorgerufen durch eine schwere Koronararteriensklerose - verstorbenen P. F.. Sie nimmt aus eigenem und abgetretenem Recht ihrer Mutter, der in 1. Instanz als Zeugin gehörten R. F., den Beklagten wegen fehlerhafter Behandlung am 22.10. 1998 auf Ersatz von Beerdigungs- und Autopsiekosten in Anspruch.

Der Verstorbene erlitt am 22.10.1998 gegen 17.20 Uhr einen heftigen Schmerzanfall im Bereich des Oberbauchs. Der als Hausarzt hinzugerufene Beklagte diagnostizierte nach Untersuchung eine akute Gallenblasenkolik, verabreichte eine schmerzstillende Spritze und verschrieb schmerzstillende und krampflösende Medikamente (Tramal und Buscopan). Weiter schrieb er - vorsorglich - eine stationäre Einweisung aus. Nach zwischenzeitlicher Besserung der Beschwerden am nächsten Tag traten in den Morgenstunden des 24.10.1998 erneut heftige Schmerzen auf; es kam zu einer dramatischen Verschlechterung. Der herbei gerufene Notarzt konnte den Tod von Herrn F. nicht mehr verhindern. Herr F. verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus im Alter von 55 Jahren. Nach dem Obduktionsbefund des Arztes Dr. L. wurde als Todesursache eine Ruptur des Herzmuskels mit nachfolgender Herzbeuteltamponade als Folge einer hochgradig stenosierenden Koronararteriensklerose mit akutem Herzinfarkt festgestellt (s. Bericht vom 26.10.1998); unauffällig blieben die Gallenblase und die Gallenwege.

Die Parteien streiten im Wesentlichen (noch) über die Fragen einer fehlerhaften Diagnose (akute Gallenblasenentzündung) und die Notwendigkeit einer weiteren diagnostischen Abklärung (Befunderhebung), die, da diese der Hausarzt vor Ort nicht leisten konnte, zwingend die Einweisung in eine Klinik erforderte.

Die Klägerin meint, der Beklagte habe dem Patienten nicht die Entscheidung hierfür überlassen dürfen, insbesondere nicht unter Hinweis darauf, dass ein stationärer Aufenthalt (nur) dann unumgänglich sei, wenn sich keine Beschwerdebesserung einstelle. Bei rechtzeitiger Einweisung und weiterer differentialdiagnostischer Abklärung habe eine reale Überlebenschance bestanden. Im Übrigen hätten die verschriebenen Medikamente eine weitere Ursachenabklärung erschwert.

Der Beklagte bestreitet nicht die Sinnhaftigkeit einer weiteren diagnostischen Abklärung, vertritt aber die Auffassung, angesichts der geschilderten Beschwerden im rechten Oberbauch eine (noch) vertretbare Diagnose gestellt, im Übrigen den Patienten eindringlich angehalten zu haben, bei nicht eintretender Besserung sofort ein Krankenhaus aufzusuchen. Dies habe er deutlich bei Ausfüllen des Transport- und Einweisungsscheins gegenüber dem Patienten selbst und dessen Ehefrau zum Ausdruck gebracht. Er verneint also einen zu Beweiserleichterungen für die Patientenseite führenden groben Behandlungsfehler.

Das Landgericht hat - nach Anhörung von Zeugen zum Ablauf der Untersuchung und Behandlung am 22.10.1998 und Einholung eines Sachverständigengutachtens und mündlicher Anhörung des Sachverständigen Dr. P. - die Klage abgewiesen. Es hat trotz festgestellter fehlerhafter Diagnose einen groben Behandlungsfehler und damit Beweiserleichterungen für die Patientenseite verneint, weil es unterstellt hat, der Beklagte habe zum Zeitpunkt der Behandlung am 22.10.1998 keinen Anlass gehabt, an seiner Diagnose zu zweifeln, weil der Patient nur allgemein über Schmerzen im Oberbauch geklagt habe. Wegen der Einzelheiten und in Ergänzung des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf das Urteil des LG Meiningen vom 03.11.2004 Bezug genommen.

Gegen das ihr am 08.11.2004 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 08.12.2004 - Eingang bei Gericht am gleichen Tag (Fax) - Berufung eingelegt und diese - nach gewährter Fristverlängerung bis 08.02.2005 - mit Schriftsatz vom gleichen Tag, Eingang bei Gericht am 08.02.2005, begründet. Sie rügt eine unvollständige Befragung des Sachverständigen Dr. P. und eine nicht ausreichende Beweiswürdigung und nach ergänzender Beweisaufnahme durch den Senat die unterbliebene differentialdiagnostische weitere Abklärung des (unklaren) Befunds vom 22.10.1998 als schweren Behandlungsfehler. Bei weiterer Abklärung wäre das Infarktgeschehen erkennbar gewesen. Das Fehlverhalten des Beklagten stelle einen Befunderhebungsfehler dar, der unter Berücksichtigung der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung als grob zu bewerten sei.

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des Urteils des LG Meiningen vom 03.11.2004 den Beklagten - wie geschehen - zu verurteilen.

Der Beklagte beantragt - unter Verteidigung des erstinstanzlichen Urteils -

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat ergänzend den Sachverständigen Dr. P. angehört und auf Antrag der Klägerin ein weiteres Sachverständigengutachten auf der Grundlage des Beweisbeschlusses vom 18.05.2006 - Bl. 356, Bd. II d.A. - (zuletzt und nach Selbstablehnung der zunächst berufenen Sachverständigen Dr. K.) des Sachverständigen Dr. L. eingeholt. Wegen der Einzelheiten der ergänzenden Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 11.01.2006 (Bl. 296 ff, Bd. II d.A.) und auf das schriftliche Sachverständigengutachten Dr. L. vom 15.04.2008 Bezug genommen. Letzterer hat im Termin vom 14.01.2009 sein Gutachten mündlich erläutert; hierzu wird auf das Protokoll von diesem Tag (Bl. 521 ff, Bd. II d.A.) verwiesen.

II.

Die Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht erfolgt und auch sonst zulässig (§§ 511, 517, 519, 520 ZPO). Sie hat - unter Berücksichtigung des zweitinstanzlich ergänzten Beweisergebnisses - auch in der Sache Erfolg und führt zur Verurteilung des Beklagten nach den Klageanträgen.

Nach diesem Ergebnis, insbesondere den - schriftlichen und mündlichen - Ausführungen des Sachverständigen Dr. L. steht zur Überzeugung des Senats fest, dass dem Beklagten ein haftungsrelevanter Befunderhebungsfehler - durch Unterlassen - anzulasten ist, der hier deswegen als grob eingeschätzt werden musste, weil bei weiterer Befunderhebung in einer entsprechenden Klinik ein reaktionspflichtiger Befund festgestellt worden wäre, der seinerseits weitere Behandlungsmaßnahmen zwingend nach sich gezogen hätte, die falls sie unterlassen worden wären, dann ihrerseits als grob fehlerhaft zu bewerten gewesen wären mit der Folge einer Beweislastumkehr für die Patientenseite in Bezug auf die Kausalität des eingetretenen Primärschadens (vgl. zu dieser Problematik Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht 5. Aufl., B Haftung aus Behandlungsfehlern Rz. 295 - 297 unter Hinweis auf BGHZ 138, 1; BGHZ 132, 47, 52; OLG Dresden VersR 2004, 648; OLG Köln VersR 2004, 247 sowie zahlreiche weitere obergerichtliche Entscheidungen aaO S. 196 u. 197)).

Auf den vom Landgericht (nur isoliert) festgestellten Diagnosefehler kommt es dagegen haftungsrechtlich nicht an; insoweit folgt der Senat der Wertung des Landgerichts.

Grundsätzlich ist zwar das Nichterkennen einer erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden Symptome als Behandlungsfehler zu werten. Denn die Diagnosestellung ist eine aus dem Behandlungsvertrag geschuldete ärztliche Leistung; sie ist Ausgangspunkt der nachfolgenden Therapie. Vom Arzt erkannte Diagnosefehler sind Behandlungsfehler und müssen korrigiert und der tatsächlichen Krankheit angepasst werden. Irrtümer bei der Diagnosestellung, die in der Praxis nicht selten vorkommen, sind jedoch oft nicht die Folge eines vorwerfbaren Versehens des Arztes. Die Symptome einer Erkrankung sind nämlich nicht immer eindeutig, sondern können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen. Auch kann jeder Patient wegen der Unterschiedlichkeit des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung aufweisen. Diagnoseirrtümer, die objektiv auf eine Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind, können deshalb nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet werden (vgl. dazu grds. BGH NJW 1992, 2962; BGH NJW 1988, 1513; ebenso OLG Jena, Urteil v. 15.10.2008 - 4 U 990/06). Dieser Gesichtspunkt greift allerdings nicht, wenn Symptome vorliegen, die für eine bestimmte Erkrankung kennzeichnend sind, vom Arzt aber nicht ausreichend berücksichtigt werden. Bei nicht mehr vertretbarer Deutung wirkt die Fehldiagnose daher durchaus als haftungsbegründend (OLG Jena v. 15.10.2008 - 4 U 990/06).

Die Frage nach einem ärztlichen Behandlungsfehler kann sich jedoch auch stellen, wenn der behandelnde Arzt ohne vorwerfbare Fehlinterpretation von Befunden eine objektiv unrichtige Diagnose stellt und diese darauf beruht, dass der Arzt eine notwendige Befunderhebung entweder vor der Diagnosestellung oder zur erforderlichen Überprüfung der Diagnose unterlassen hat. Die Nichterhebung gebotener Diagnosebefunde kann daher ebenfalls haftungsbegründend wirken. Der Arzt hat nicht nur die erhobenen Befunde abzuklären, sondern auch nach den ersten Schlussfolgerungen in einem angemessenen zeitlichen Rahmen weitere Befunde zu erheben, wenn der erste Befund nur den Verdacht einer behandlungsbedürftigen Erkrankung nahelegt. Anders als bei (einfachen) Diagnosefehlern gilt aber für die gehörige Erhebung der faktischen Grundlagen für eine differenzierte Diagnostik und Therapie ein strenger Maßstab. Maßstab ist stets, was der (jeweilige) medizinische Standard gebietet. Das kann also darüber hinaus gehen, was der behandelnde Arzt im Einzelfall annimmt. Ein Befunderhebungs- und im weiteren Sinne Therapiefehler richtet sich also danach, was im konkreten Einzelfall dem Qualitätsstandard der sachgerechten Behandlung entspricht; die Frage des (haftungsrelevanten) Behandlungsfehlers kann also nur konkret beantwortet werden. Eine Behandlung (hier Befunderhebung) entspricht nur dann den Regeln der medizinischen Wissenschaft, wenn der Arzt nicht nur die anerkannte Heilmethode anwendet, sondern darüber hinaus alles tut, was nach den Regeln und Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft - zum Behandlungszeitpunkt - getan werden muss, um den Patienten vor körperlichen Schäden zu bewahren (BGH NJW 1985, 1392). Bei schwerwiegenden Risiken für den Patienten - wie hier dem drohenden Herzinfarkt - sind vom Arzt auch für unwahrscheinlich gehaltene Gefährdungsmomente auszuschließen.

Ein Fehler in der Befunderhebung kann daher zur Folge haben, dass der behandelnde Arzt oder der Klinikträger für eine daraus folgende objektiv falsche Diagnose und für eine derart tatsächlich vorhandene Krankheit nicht gerecht werdenden Behandlung und deren Folgen einzustehen hat.

Grundsätzlich muss der Patient die Voraussetzungen eines Behandlungsfehlers und dessen Ursächlichkeit für den geklagten Gesundheitsschaden darlegen und beweisen. Dies gilt sowohl für den Vorwurf eines Diagnosefehlers, als auch für den eines Fehlers in der Befunderhebung. Gelingt dem Patienten zwar der Beweis eines Behandlungsfehlers in der Form eines Diagnosefehlers oder eines Fehlers in der Befunderhebung, nicht aber der Nachweis der Ursächlichkeit dieses Fehlers für den geltend gemachten Gesundheitsschaden, kommen ihm Beweiserleichterungen nur dann zu Hilfe, wenn der objektive Fehler der Behandlungsseite entweder als grob zu bewerten ist, ein grober Fehler in der Befunderhebung vorliegt oder wenn die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr wegen eines (lediglich einfachen) Fehlers bei der Befunderhebung oder der Befundsicherung gegeben sind (BGH, NJW 2003, 2827). Letzteres ist dann der Fall, wenn die (weitere) Befunderhebung oder Befundsicherung sicher einen reaktionspflichtigen Befund ergeben hätte, der seinerseits zu weiteren Behandlungsmaßnahmen Veranlassung gegeben hätte und die Unterlassung dieser gebotenen (weiteren) Behandlungsmaßnahmen sich als grob fehlerhaft erweist.

Dem Arzt steht demnach bei der Diagnosestellung ein Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum zu, den auch das Haftungsrecht nicht nachträglich verkürzen darf. Ein Verschulden des Arztes ist nur dann zu bejahen, wenn er aus seiner Sicht zur Zeit der Diagnosestellung entweder Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der gestellten Diagnose hatte oder aber solche Zweifel gehabt und sie nicht beachtet hat (OLG Naumburg, NJW-RR 2002, 312).

So ist es hier.

Das Landgericht hat den Widerspruch zwischen (noch) entschuldbarem Diagnoseirrtum und der - hier zwingenden - Notwendigkeit weiterer Diagnoseabklärung nicht beachtet und nicht herausgearbeitet. Dem Landgericht ist allerdings zuzugeben, dass die Ausführungen des Sachverständigen Dr. P. insoweit nicht zielführend sind, als sie lediglich eine Erklärung dafür abgeben, dass die Erstdiagnose - Gallenblasenkolik - auf Grund der geschilderten Oberbauchschmerzen noch vertretbar erscheint und, da weitere - deutliche - Anzeichen für einen Myokardinfarkt gefehlt hätten, dieser zwar nicht auszuschließen gewesen wäre, andererseits dieser Sachverständige aber offen gelassen hat, ob eine Einweisung in eine Klinik zur weiteren Abklärung und Ausschließung eines Infarkts zwingend geboten war oder diese Entscheidung dem Patienten überlassen werden durfte.

Anders der Sachverständige Dr. L.. Schon in seinem schriftlichen Gutachten vom 15.04.2008 hat er ausgeführt, dass auf Grund der differentialdiagnostischen Bedeutung von Oberbauchschmerzen immer auch eine generelle Untersuchung des Brustraumes und des Herzens durchgeführt werden sollte. Vor allem Hinterwandinfarkte könnten ebenfalls vegetative Symptome wie die (geschilderten) Oberbauchschmerzen aufweisen. Die Beschwerden bei Gallenblasenerkrankungen und Herzinfarkten wiesen also ähnliche bzw. gemeinsame Symptome auf. Dies mache eine eindeutige Zuordnung mit rein klinischen Mitteln, die ein Hausarzt zur Verfügung habe, recht schwer. Angesichts der dem Beklagten bekannten Risikofaktoren - hoher Blutdruck, erhöhtes Cholesterin (LDL-Chol. > 200 mg%) - diese deuteten mit einer Wahrscheinlichkeit von 23 bis 59 % auf eine koronare Herzerkrankung hin, wäre eine sofortige Klinikeinweisung des Patienten die notwendige Konsequenz gewesen, um die Ursache der heftigen Oberbauchbeschwerden sicher abklären zu lassen. Eine endgültige Abklärung sei nur in einer Klinik mit Labormedizin und technischem Gerät möglich gewesen. Bei Herrn Fleischmann sei von dem Pathologen eine schwere, hochgradig verengte und verkalkende Koronararteriensklerose aller Äste bei Rechtsversorgungstyp mit Atheromaufbruch und Einblutung im mittleren Drittel gefunden worden.

Der Sachverständige hat weiter ausgeführt, bei einem solchen pathologischen Herzbefund wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - bei klinischer Abklärung - ein positiver Befund auf das Vorliegen eines akuten Koronarsyndroms festzustellen gewesen. Daher sei eine klinische Einweisung zwingend notwendig gewesen.

Bei seiner mündlichen Erläuterung im Termin vom 14.01.2009 ist der Sachverständige - trotz geäußerten Verständnisses für die Situation des Beklagten am 22.10.1998 -bei dieser Bewertung geblieben und hat noch einmal ausgeführt, dass die Arbeitshypothese akute Gallenblasenerkrankung nicht sicher gewesen sei und dringender Abklärung bedurfte.

Unter Berücksichtigung des hier geforderten - strengen - Sorgfaltsmaßstabs durfte der Beklagte es nicht dem Patienten überlassen, ob dieser sich einer weiteren klinischen Untersuchung unterzog oder nicht. Der Senat folgt dem Sachverständigen Dr. L., der dies anschaulich unter Schilderung seiner eigenen Erfahrungen deutlich gemacht hat, dass eine weitere Abklärung des Erstbefundes zwingend notwendig war und, da diese Abklärung nur in einer entsprechend ausgestatteten Klinik vorgenommen werden konnte, er diese Einweisung zwingend veranlassen musste und es nicht dem Patienten überlassen durfte, ob dieser - (nur) bei persistierender Schmerzsymptomatik - von dem Überweisungsschein Gebrauch machte. Denn in diesem Zusammenhang ist weiter zu berücksichtigen, dass der Beklagte dem Patienten Schmerzmittel und krampflösende Medikamente verschrieb. Bei Einnahme der verschriebenen Medikamente konnte zumindest mit einer Besserung der Schmerzsymptomatik gerechnet werden, der Beklagte also nicht sicher davon ausgehen, dass der Patient in naher Zeit die Klinik aufsuchte. Auch wenn er - nach seinen eigenen Worten im Termin vom 14.01.2009 - den Einweisungsschein mit Nachdruck ausgestellt hatte, konnte er doch unter Berücksichtigung seiner Diagnose - Gallenblasenkolik - nicht mit einer Einsicht des Patienten in die Notwendigkeit einer weiteren klinischen Abklärung rechnen. Im Gegenteil. Da bei seinem Besuch und der anschließenden Untersuchung des Patienten (am 22.10.1998) dessen Schmerzen bereits nachgelassen hatten, lag es nahe, dass die Einnahme der verschriebenen Medikamente Tramal und Buscopan zu einer weiteren Entspannung führten.

Der Senat folgt dem Sachverständigen Dr. L. auch in dessen Bewertung, dass bei einer sofortigen Einweisung in eine entsprechende Klinik mit Sicherheit ein relevanter Untersuchungsbefund - Hinweis auf eine fortgeschrittene Arteriensklerose/Gefahr eines bevorstehenden Infarkts - gefunden worden wäre, der weitere Behandlungsmaßnahmen - Beseitigung der Stenosierung - zwingend erforderlich gemacht hätte. Angesichts der Lebensbedrohlichkeit der Koronarerkrankung wäre das Unterlassen solcher zwingend gebotener Therapie aber grob fehlerhaft, so dass hier zu Gunsten der Patientenseite eine Beweislastumkehr hinsichtlich des eingetretenen Primärschadens (Tod) stattfindet.

Das Verschulden des Beklagten folgt aus der Fehleinschätzung, dass er dem (verstorbenen) Patienten nicht die Entscheidung über die - aus medizinischer Sicht zwingend gebotene - weitere Abklärung in einer Klinik überlassen durfte. Diesen medizinischen Standard setzt der Senat bei dem Beklagten voraus; auf dessen - zum Zeitpunkt der Behandlung - fehlerhafte Annahme, er habe dies dem Herrn Fleischmann nachdrücklich nahegelegt, kommt es nicht an, ebenso wenig darauf, ob Herr Fleischmann unterstellt, der Beklagte hätte zwingend die sofortige Einweisung veranlasst, diese dann auch befolgt hätte. Im gegebenen Fall hätte der Beklagte jedenfalls auch einen sofortigen Krankentransport in die Wege leiten müssen. Dies alles hat er nicht getan.

Die Folge ist, dass die unterlassene (weitere) Befunderhebung durch zwingend gebotene Einweisung in eine entsprechende Klinik zur Haftung für die hier geltend gemachten materiellen Schadenspositionen führt (positive Vertragsverletzung des Behandlungsvertrages bzw. § 823 Abs. 1 BGB a.F. iVm Art. 229 § 5 Satz 1 EGBGB). Der Zinsanspruch ergibt sich aus Verzug (§§ 286, 288 Abs. 1 BGB, Art. 229 §§ 1 u. 7 EGBGB).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO/ § 26 Nr. 8 EGZPO.

Für eine Revisionszulassung fehlt es an Gründen; der vorliegende Fall betrifft eine Einzelfallentscheidung und der Senat weicht weder von der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH ab, noch setzt er sich in Widerspruch zu seiner eigenen Rechtsprechung und der anderer Obergerichte.

Der Berufungsstreitwert richtet sich nach den zweitinstanzlichen Anträgen (§§ 47 Abs. 1, 2, 63 Abs. 2 GKG).

Ende der Entscheidung

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