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Beginn der Entscheidung

Gericht: Thüringer Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 20.09.2001
Aktenzeichen: 6 W 572/01
Rechtsgebiete: AuslG, FGG


Vorschriften:

AuslG § 57 Abs. 4
AuslG § 55 Abs. 3
FGG § 12
1.

§ 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG erfordert dann, wenn die Ausländerbehörde für die Heimreise des von Abschiebungshaft Betroffenen Passdokumente erst beschaffen muss, Feststellungen dazu, welche konkreten Tatsachen die Erwartung der Ausländerbehörde rechtfertigen, die Abschiebung könne innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden.

2.

Die dazu notwendigen Ermittlungen müssen nicht zwingend im Wege der förmlichen Beweiserhebung durchgeführt werden müssen (vgl. Senatsbeschluss vom 26.02.2001, 6 W 119/01).

3.

Auch wenn der Haftrichter wegen der Frage der Erlaubtheit des Inlandsaufenthalts grds. an die Verwaltungsakte der Ausländerbehörde gebunden ist, hat er die zur Begründung eines Bleiberechts vorgebrachten Tatsachen zu beachten, weil sie Bedeutung für die Frage haben, ob die Anordnung von Abschiebungshaft zur Sicherung der Abschiebung erforderlich ist. Das gilt insbesondere dann, wenn die veränderten Umstände Anlass zu der Annahme bieten, dass er sich der Abschiebung nicht mehr entziehen will, weil sich seine Aussichten, auf Dauer oder zumindest längere Zeit in Deutschland leben zu können, entscheidend verbessert haben (vgl. BVerfG NJW 1987, 3076; OLG Karlsruhe, a.a.O.).

4.

Im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung sind gem. § 55 Abs. 3 AuslG die familiären Bindungen des Ausländers auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG konkret zu würdigen und den Interessen des Staates an der Beendigung seines Aufenthalts wertend gegenüber zu stellen. (vgl. VG Berlin AuslR 1995, 415; Hamburgisches OVG NVwZ-RR 1991, 107 ff.). Dabei ist es grds. nicht möglich danach zu unterscheiden, ob ein Sachverhalt sich aus einer ehelichen oder einer nicht ehelichen Beziehung des Ausländers ergibt.


THÜRINGER OBERLANDESGERICHT Beschluss

6 W 572/01

In dem Verfahren

betreffend die Anordnung von Haft zur Sicherung der Abschiebung

hat der 6. Zivilsenat des Thüringer Oberlandesgerichts durch

den Präsidenten des Oberlandesgerichts Dr. h.c. Bauer,

die Richterin am Amtsgericht Dr. Mittenberger-Huber und

den Richter am Oberlandesgericht Bettin

auf die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen vom 04./05.09.2001 gegen den Beschluss der 7. Zivilkammer des Landgerichts Erfurt vom 29.08.2001

am 20.09.2001

beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss der 7. Zivilkammer des Landgerichts Erfurt vom 29.08.2001 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der sofortigen weiteren Beschwerde, an das Landgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Der Betroffene ist türkischer Staatsangehöriger und reiste am 29.01.1999 auf dem Landweg in die Bundesrepublik ein. Sein Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 24.02.1999 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Mit Beschluss vom 09.03.1999 lehnte das Verwaltungsgericht Würzburg die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Betroffenen ab, so dass die Abschiebungsanordnung seitdem vollziehbar ist. Der Betroffene ist seiner Ausreisepflicht nicht nachgekommen und war seit dem 22.03.1999 unbekannten Aufenthalts. Am 05.08.2001 wurde der Betroffene bei einer verdachtsunabhängigen Kontrolle aufgegriffen, bei der er nicht im Besitz gültiger Ausweispapiere war und eine gefälschte Passkopie vorlegte.

Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen nach mündlicher Anhörung auf Antrag der Beteiligten zu 2 Sicherungshaft für die Dauer von drei Monaten verhängt. Die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Auf die Gründe der vorinstanzlichen Entscheidungen nimmt der Senat Bezug.

Gegen den Beschluss des Landgerichts richtet sich die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen, der weiterhin geltend macht, die Anordnung der Haft sei jedenfalls unverhältnismäßig, weil seine Lebensgefährtin, mit der er zusammenlebe, ein Kind von ihm erwarte. Es handele sich hierbei um eine Risikoschwangerschaft; für den Fall seiner Inhaftierung und Abschiebung sei das Leben des ungeborenen Kindes in Gefahr. Wegen der Einzelheiten des Vorbringens des Beteiligten zu 1 nimmt der Senat Bezug auf das Protokoll seiner mündlichen Anhörung vor dem Amtsgericht und die Rechtsmittelschriftsätze.

II.

Die nach den §§ 3, 7 Abs. 1 und 2 FEVG, 27 FGG an sich statthafte und auch sonst zulässige sofortige weitere Beschwerde hat in der Sache vorläufigen Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der Erstbeschwerdeentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht, weil dessen angefochtene Entscheidung auf Gesetzesverletzungen beruht (§§ 27 FGG, 550 ZPO).

1. Ohne Rechtsfehler und auch von der sofortigen weiteren Beschwerde unbeanstandet hält das Landgericht den Betroffenen für ausreisepflichtig und die Haftgründe des § 57 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 5 AuslG für gegeben. Der Senat bezieht sich auf die insoweit zutreffende Begründung der angefochtenen Entscheidung.

2. Der Beschluss des Landgerichts enthält jedoch keine Feststellungen, ob § 57 Abs. 2 Satz 4 AuslG der Anordnung der Sicherungshaft entgegensteht. Nach dieser Vorschrift ist die Sicherungshaft unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Soweit das Landgericht meint, es gäbe keine Anhaltspunkte hierfür, widerspricht das seinen eigenen Feststellungen. Danach ist der Betroffene nicht im Besitz gültiger Ausweispapiere, so dass für ihn zunächst die erforderlichen Passdokumente für die Heimreise beschafft werden müssen. In einem solchen Fall hat das Erstbeschwerdegericht nach § 12 FGG zu ermitteln, auf welche konkreten Tatsachen sich die Erwartung der Ausländerbehörde gründet, die Abschiebung könne innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden. Dazu wären insbesondere Feststellungen erforderlich gewesen, ob ggf. wann die Ausländerbehörde die Beschaffung von Passersatzpapieren in die Wege geleitet hat, ob der Betroffene insoweit seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen ist und wann nach den Erfahrungen der Ausländerbehörde bei türkischen Staatsangehörigen mit der Ausstellung von Passersatzpapieren gerechnet werden kann. Derartige Ermittlungen, die im Hinblick auf den im Freiheitsentziehungsverfahren geltenden Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung nicht zwingend im Wege der förmlichen Beweiserhebung durchgeführt werden müssen (vgl. Senatsbeschluss vom 26.02.2001, 6 W 119/01), hat das Landgericht vollständig unterlassen.

3. Auch die Ausführungen des Landgerichts zur Verhältnismäßigkeit der Haftanordnung sind nicht frei von rechtlichen Bedenken.

Allerdings kommt dem Haftrichter im Abschiebungsverfahren nur eine eingeschränkte Prüfungskompetenz zu. Während das Amtsgericht und ihm nachfolgend die Rechtsmittelgerichte die Voraussetzungen für die Anordnung von Abschiebungshaft nach § 57 AuslG zu prüfen haben, bleibt die Beurteilung der der Ausweisung und Abschiebung zugrundeliegenden Verwaltungsakte Sache der Verwaltungsgerichte. Der Haftrichter der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist an die Verwaltungsakte der Ausländerbehörde gebunden, es sei denn, diese erwiesen sich wegen eines besonders schweren und offenkundigen Fehlers, der vorliegend nicht in Betracht kommt, als nichtig. Diese gesetzliche Kompetenzverteilung gilt grundsätzlich auch, wenn der Betroffene wie hier geltend macht, seine Abschiebung sei aus Gründen unzulässig, die erst nach Erlass und Bestandskraft der seiner Abschiebung zugrundeliegenden Verwaltungsakte eingetreten sind. In einem solchen Fall hat er die Möglichkeit, sein Verbleiben in der Bundesrepublik Deutschland durch einen Antrag an das Verwaltungsgericht auf vorläufigen Rechtsschutz zu sichern. Deshalb handelt es sich bei den vom Betroffenen geltend gemachten Umständen - seinem Zusammenleben mit einer deutschen Staatsangehörigen in Lebensgemeinschaft und seinem Vorbringen, seine Lebensgefährtin erwarte ein Kind von ihm, wobei es sich um eine Risikoschwangerschaft handele - um Umstände, die grundsätzlich nicht im Haftverfahren, sondern vor dem Verwaltungsgericht geltend zu machen sind, dem allein die Kontrolle der verfassungskonformen Handhabung des Ausländerrechts obliegt (vgl. OLG Karlsruhe, FGPrax 1998, 32 m.w.N.). Gleichwohl sind derartige Umstände im Haftverfahren nicht völlig unbeachtlich, weil sie Bedeutung für die vom Haftrichter zu beantwortende Frage haben, ob die Anordnung von Abschiebungshaft als Mittel der Sicherung der Abschiebung erforderlich ist. Das gilt insbesondere dann, wenn die veränderten Umstände Anlass zu der Annahme bieten, dass er sich der Abschiebung nicht mehr entziehen will, weil sich seine Aussichten, auf Dauer oder zumindest längere Zeit in Deutschland leben zu können, entscheidend verbessert haben (vgl. BVerfG NJW 1987, 3076; OLG Karlsruhe, a.a.O.).

Davon geht im rechtlichen Ansatz zutreffend auch das Landgericht aus. Seine Auffassung, die von ihm als wahr unterstellte Risikoschwangerschaft der Lebensgefährtin des Betroffenen könne seiner Abschiebung aus humanitären Gründen nur dann entgegenstehen, wenn es sich bei der Schwangeren um die Ehefrau des Betroffenen handeln würde, teilt der Senat indessen nicht. Unter Berücksichtigung des § 55 Abs. 3 AuslG sind die familiären Bindungen des Ausländers auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG vielmehr konkret zu würdigen und den Interessen des Staates an der Beendigung seines Aufenthalts wertend gegenüber zu stellen. (Zur Bejahung der außergewöhnlichen Härte im Einzelfall bei einer Risikoschwangerschaft vgl. VG Berlin AuslR 1995, 415; siehe auch Hamburgisches OVG NVwZ-RR 1991, 107 ff.). Auch im Hinblick auf die durch das Kindschaftsreformgesetz vom 16.12.1997 erheblich gestärkte Stellung des nichtehelichen Vaters erscheint dem Senat die vom Landgericht vertretene Rechtsauffassung als unzutreffend (vgl. zur Berücksichtigung des Umgangsrechts des nichtehelichen Vaters BVerfG, FamRZ 2001, 1137). Konkrete Feststellungen zu den Bindungen des Betroffenen zu seiner Lebensgefährtin, zu seiner Behauptung, seine Lebensgefährtin sei wegen der Risikoschwangerschaft dringend auf ihn angewiesen und zur möglichen Gefährdung des ungeborenen Kindes im Falle der Inhaftierung und sofortigen Abschiebung des Betroffenen hat das Landgericht - von seinem rechtlichen Standpunkt aus konsequent - nicht getroffen. Die Zurückverweisung gibt ihm Gelegenheit, das nachzuholen; hierzu bietet sich sowohl die erneute Anhörung des Betroffenen selbst als auch die seiner Lebensgefährtin an. Soweit es die Gefährdung des ungeborenen Kindes betrifft, hat die Lebensgefährtin des Betroffenen ihre behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht befreit, so dass auch deren Anhörung nichts entgegensteht.

Ende der Entscheidung

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