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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 15.11.2005
Aktenzeichen: 10 S 2143/05
Rechtsgebiete: StVG, StGB, FeV


Vorschriften:

StVG § 3 Abs. 1 Satz 1
StGB § 315c Abs.1 Buchst. a
StGB § 316
FeV § 46 Abs. 1
FeV Nr. 9.2.2 der Anlage 4
Der im Bereich des Strafrechts in Bezug auf den Konsum von Cannabis zum Nachweis der "absoluten" Fahruntüchtigkeit entwickelte "Cannabis-Influence-Factor" (CIF) ist für das Zusatzelement des fehlenden Trennungsvermögens im Sinne von Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung nicht von Bedeutung.
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

10 S 2143/05

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Entziehung der Fahrerlaubnis

hier: Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO

hat der 10. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schlüter und die Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Rudisile und Dr. Hartung

am 15. November 2005

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 29. September 2005 - 1 K 1767/05 - geändert. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verfügung des Landratsamtes Rhein-Neckar-Kreis vom 27.07.2005 wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert wird auf 2.500,- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig und begründet.

Aus den vom Antragsgegner in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) ergibt sich, dass der Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Entziehungsverfügung des Landratsamtes Rhein-Neckar-Kreis vom 27.07.2005 unbegründet ist. Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist von der Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung des Landratsamtes auszugehen. Es besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet und somit ernstlich zu befürchten ist, er werde bereits vor einer endgültigen Entscheidung in der Hauptsache die Sicherheit des Straßenverkehrs gefährden. Damit überwiegt aber das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der Entziehungsverfügung.

Vorliegend kann dahingestellt bleiben, ob der Antragsteller im Sinne von Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung regelmäßig Cannabis konsumiert. Denn die Fahrungeeignetheit des Antragstellers folgt hier bereits aus § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV i.V.m. Nr. 9.2.2 dieser Anlage. Aus dem Vortrag des Antragstellers im Verwaltungsverfahren wie im gerichtlichen Verfahren ergibt sich, dass er gelegentlich Cannabis konsumiert. Zusatzelement im Sinne von Nr. 9.2.2 der Anlage 4 ist hier das Unvermögen des Antragstellers, zwischen dem Cannabiskonsum und dem Führen eines Kraftfahrzeugs zu trennen. Das erforderliche Trennungsvermögen, das eine gelegentliche Einnahme von Cannabis im Hinblick auf die Anforderungen der Verkehrssicherheit als noch hinnehmbar erscheinen lässt, kann einem Fahrerlaubnisinhaber nur dann attestiert werden, wenn dieser Fahren und Konsum in einer Weise trennt, dass eine Beeinträchtigung seiner verkehrsrelevanten Eigenschaften durch die Einnahme von Cannabis unter keinen Umständen eintreten kann (vgl. Senatsbeschl. v. 28.11.2003 - 10 S 1789/03 -; v. 01.12.2003 - 10 S 1958/03 -). Hier hat der Antragsteller das fehlende Trennungsvermögen durch die Autofahrt unter der berauschenden Wirkung von Tetrahydrocannabinol (THC) vom 05.01.2005 belegt. Nach dem Gutachten des Universitätsklinikums Jena vom 16.02.2005 betrug die THC-Konzentration 4 ng/ml. Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung aufgrund von Stellungnahmen in der naturwissenschaftlichen Literatur (vgl. z.B. Krüger, Gutachten für das BVerfG im Verfahren 1 BvR 2062/96, Blutalkohol 2002, 336, 344) davon aus, dass jedenfalls bei THC-Konzentrationen über 2 ng/ml nennenswerte Leistungseinbußen möglich sind und dementsprechend durch das Führen eines Kraftfahrzeugs mit einer solchen THC-Konzentration das fehlende Trennungsvermögen belegt ist (vgl. Senatsbeschl. v. 10.05.2004 - 10 S 427/04 -, DAR 2004, 604 = NZV 2005, 214; v. 15.11.2004 - 10 S 2194/04 -, Blutalkohol 2005, 187 = VRS 108, 157). Hier ist im Hinblick auf die für die Beurteilung der Fahreignung maßgebliche Autofahrt am 05.01.2005 sogar von einer höheren THC-Konzentration als 4 ng/ml auszugehen. Denn die Autofahrt erfolgte um 15.00 Uhr, die Probenentnahme aber erst um 16.13 Uhr. Nach Erkenntnissen der medizinischen Forschung über die Wirkungsweise und den Abbauprozess der psychoaktiv wirkenden Substanz THC wird diese im Körper nach der Einnahme rasch abgebaut, so dass die THC-Konzentration dementsprechend schnell absinkt (vgl. z.B. Iten, Fahren unter Drogen- oder Medikamenteneinfluss, 2001, S. 101, 104 ff.). Danach ist davon auszugehen, dass die THC-Konzentration zum Zeitpunkt der für die Beurteilung des Trennungsvermögens maßgeblichen Fahrt höher war als die bei der Untersuchung der Blutprobe festgestellte Konzentration.

Dem im Untersuchungsbefund vom 16.02.2005 erwähnten "Cannabis-Influence-Factor" (CIF), auf den auch das Verwaltungsgericht in seinem Beschluss abgestellt hat, kommt für das Zusatzelement des fehlenden Trennungsvermögens im Sinne von Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Dieser Faktor ist u.a. von Daldrup und Meininger (in: Berghaus/Krüger, Cannabis im Straßenverkehr, 1998, S. 181 ff.) für den Bereich des Strafrechts entwickelt worden (für die Anwendung in diesem Bereich, AG Moers, Urt. v. 10.07.2003 - 606 OWi 804 Js 270/03 (220/03) -, Blutalkohol 2004, 276 ff.). Grund hierfür war das Bestreben, für die Straftatbestände § 315c Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und § 316 StGB ("infolge des Genusses berauschender Mittel nicht in der Lage, ein Fahrzeug sicher zu führen") analog der für Alkohol anerkannten 1,1 0/00-Grenze auch für Cannabis einen Grenzwert für die Annahme der sog. "absoluten Fahruntüchtigkeit" zu schaffen. Die Fahruntüchtigkeit im Sinne der beiden Tatbestände des Strafgesetzbuches setzt voraus, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des Fahrzeugführers, insbesondere infolge Enthemmung sowie geistig-seelischer und körperlicher Ausfälle, so weit herabgesetzt ist, das er nicht mehr fähig ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke und zwar auch bei plötzlichem Eintritt schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern (vgl. BGH, Beschl. v. 03.11.1998 - 4 StR 395/98 -, BGHSt 44, 219-228). Im Bereich des Strafrechts wird die "relative" Fahruntüchtigkeit von der "absoluten" nicht nach der Qualität der durch das berauschende Mittel hervorgerufenen Leistungsminderung, sondern allein nach der Art und Weise unterschieden, wie der Nachweis der Fahruntüchtigkeit als psychophysischer Zustand herabgesetzter Gesamtleistungsfähigkeit zu führen ist (vgl. BGH, Urt. v. 22.04.1982 - 4 StR 43/82 -, BGHSt 31, 42-46 in Bezug auf Alkohol). Bisher geht die höchstrichterliche strafrechtliche Rechtsprechung davon aus, dass noch keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, die es entsprechend der Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille erlauben, "Grenzwerte" der Blut-Wirkstoff-Konzentrationen für die Annahme "absoluter" Fahruntüchtigkeit nach dem Konsum von Betäubungsmitteln zu bestimmen (vgl. BGH, Urt. v. 03.11.1998 - 4 StR 395/98 -, BGHSt 44, 219-228, in Bezug auf Heroin und Kokain). Dementsprechend kommt in der strafrechtlichen Praxis des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte eine Verurteilung nach § 315c Abs. 1 oder § 316 StGB im Hinblick auf den Konsum z.B. von Cannabis derzeit nur in Betracht, wenn der Wirkstoff im Blut des Betroffenen nachgewiesen worden ist und zusätzlich ein charakteristischer Fahrfehler oder andere Ausfallerscheinungen vorliegen, die die Fahruntüchtigkeit begründen (relative Fahruntüchtigkeit; vgl. BGH, Beschl. v. 03.11.1998 - 4 StR 395/98 -, a.a.O.; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 27.01.2004 - 1 Ss 242/03 -, VRS 106, 288 = DAR 2004, 409 jeweils m.w.Nachw.). Um den Nachweis der Fahruntüchtigkeit im Sinne der genannten Straftatbestände zu erleichtern, wurde von Wissenschaftlern der "CIF" entwickelt. Dieser Wert wird nach der Formel (THC (ng/ml) + THC-OH (ng/ml) / THC-COOH (ng/ml)) x 100 berechnet. Nach Daldrup ist der Nachwies der "absoluten" Fahruntüchtigkeit infolge des Konsums von Cannabis bei einem Wert von 10 oder mehr gegeben (vgl. Drasch/von Meyer/Roeder/Jägerhuber, Blutalkohol 2003, 269). Da bei diesen Werten die - strafrechtliche - "absolute" Fahruntüchtigkeit nachgewiesen sein soll, trifft bereits die Annahme des Verwaltungsgerichts nicht zu, erst bei Werten über 10 trete "bei einer Mehrzahl von Probanden eine signifikante Beeinträchtigung auf". Ohnehin geht es aber beim Zusatzmerkmal des fehlenden Trennungsvermögens im Sinne von Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung nicht um den im Hinblick auf die Anforderungen des Strafrechts gebotenen zweifelsfreien Nachweis der - unabhängig von etwaigen Fahrfehlern oder Ausfallerscheinungen allein aufgrund der Wirkstoffkonzentration belegten - "absoluten" Fahruntüchtigkeit. Dieses Zusatzelement stellt vielmehr auf den charakterlich-sittlichen Mangel des betreffenden Fahrerlaubnisinhabers ab, der bereit ist, das Interesse der Allgemeinheit an sicherer und verkehrsgerechter Fahrweise den eigenen Interessen unterzuordnen und hieraus resultierende Gefährdungen des Verkehrs in Kauf zu nehmen. Dieser Einstellungsmangel kommt insbesondere dann zum Ausdruck, wenn der Betreffende ungeachtet einer im Einzelfall anzunehmenden oder jedenfalls nicht auszuschließenden drogenkonsumbedingten Fahruntüchtigkeit nicht bereit ist, vom Führen eines Kraftfahrzeugs im öffentlichen Straßenverkehr abzusehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.06.2002 - 1 BvR 2062/96 -, Rn. 49, NJW 2002, 2378). Danach setzt der charakterliche Mangel des unzureichenden Trennungsvermögens den sicheren Nachweis der Fahruntüchtigkeit des Betreffenden nicht voraus. Auch bei Konzentrationen der psychoaktiv wirksamen Stoffe THC und THC-OH, die nach der von Daldrup und Meininger entwickelten Formel für den "CIF" noch nicht den für den Nachweis der absoluten Fahruntüchtigkeit erforderlichen Wert von 10 ergeben, treten - wie bereits ausgeführt - nach wissenschaftlichen Erkenntnissen (jedenfalls ab einer THC-Konzentration von 2 ng/ml) Beeinträchtigungen der fahreignungsrelevanten Eigenschaften eines Fahrzeugführers auf. Im Übrigen geht auch das Gutachten des Universitätsklinikums Jena vom 16.02.2005 (Seite 3), in dem der "CIF-Wert" des Antragstellers mit lediglich 9 angegeben wird, wegen des Nachweises von rauschwirksamen Bestandteilen von der Möglichkeit von Beeinträchtigungen aus. Führt aber ein Cannabiskonsument ein Kraftfahrzeug mit einer solchen THC-Konzentration im Blut, die eine Einschränkung seiner für den öffentlichen Straßenverkehr bedeutsamen Fähigkeiten auch nur möglich erscheinen lässt, so ist nicht gewährleistet, dass der Betreffende den Konsum dieses Betäubungsmittels und das Fahren in einer Weise zu trennen in der Lage ist, dass eine Beschränkung der verkehrsrelevanten Eigenschaften durch die Einnahme von Cannabis unter keinen Umständen eintreten kann (vgl. Senatsbeschl. v. 15.11.2004 - 10 S 2194/04 -, Blutalkohol 2005, 187). Damit ist aber bereits das Zusatzelement des fehlenden Trennungsvermögens belegt.

In seiner Beschwerdeerwiderung vom 10.11.2005 erweckt der Antragsteller den Eindruck, er habe zum Zeitpunkt seiner Autofahrt den "CIF-Wert" gekannt und davon ausgehen können, fahrtüchtig zu sein. Tatsächlich ist selbst medizinischen Sachverständigen in Bezug auf THC eine exakte Berechnung - vergleichbar der Vorgehensweise bei der Bestimmung der Blutalkoholkonzentration - wegen der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen dem psychoaktiv wirkenden Stoff THC und seinen Metaboliten nicht möglich (vgl. Drasch/von Meyer/Roeder/Jägerhuber, Blutalkohol 2003, 269, 285). Dementsprechend war dem Antragsteller zum Zeitpunkt der Autofahrt sein "CIF-Wert", der sich aus den Konzentrationen für THC, THC-OH und THC-COOH errechnet, tatsächlich nicht bekannt.

Die Entziehungsverfügung begegnet auch im Hinblick auf den zeitlichen Abstand zwischen der Autofahrt unter der berauschenden Wirkung von THC am 05.01.2005 und der Bekanntgabe der Entziehungsverfügung aus den vom Antragsteller geltend gemachten Gründen keinen rechtlichen Bedenken. Denn das Landratsamt hat entsprechend § 3 Abs. 3 Satz 1 StVG den Ausgang des beim Amtsgericht Weimar anhängigen Strafverfahrens abgewartet. Auch § 3 Abs. 4 StVG steht der Entziehungsverfügung des Landratsamtes nicht entgegen. Denn das Amtsgericht Weimar hat sich im Strafbefehl mit dem Aspekt der Fahreignung des Antragstellers nicht befasst.

Auch die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins in Ziff. 2 der Verfügung vom 27.07.2005 begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Der Senat geht davon aus, dass die Rechtsnomen, die die Fahrerlaubnisbehörde zum Entzug der Fahrerlaubnis ermächtigen, diese auch berechtigen, dem Betroffenen die Abgabe des Führerscheins aufzuerlegen (vgl. Senatsurt. v. 28.10.2004 - 10 S 475/04 -, DAR 2005, 352 = ZfS 2005, 316). Auch insoweit überwiegt das öffentliche Interesse am Vollzug der Verfügung vor einer endgültigen Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit. Denn es muss im Interesse der Verkehrssicherheit gewährleistet sein, dass der Antragsteller nicht durch die Vorlage des Führerscheins den unzutreffenden Eindruck erwecken kann, zur Teilnahme am Straßenverkehr berechtigt zu sein.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2, § 47 sowie § 53 Abs. 3 Nr. 2 und § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 und Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwatungsgerichtsbarkeit vom Juli 2004 (NVwZ 2004, 1327). Nach § 52 Abs. 2 GKG beträgt der Regelstreitwert, der der Berechnung nach dem Streitwertkatalog zugrunde zu legen ist, 5.000,- EUR. Dieser Betrag ist für das vorliegende vorläufige Rechtsschutzverfahren zu halbieren.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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