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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 21.06.2004
Aktenzeichen: 10 S 308/04
Rechtsgebiete: FeV, VwGO, ZPO, EWGRL 80/1263/EWG, EWGRL 91/439/EWG


Vorschriften:

FeV § 28 Abs. 1
FeV § 28 Abs. 4 Nr. 2
VwGO § 123 Abs. 3
ZPO § 938
EWGRL 80/1263/EWG Art. 8
EWGRL 91/439/EWG Art. 1 Abs. 2
EWGRL 91/439/EWG Art. 7 Abs. 2
Die Bestimmung des § 28 Abs. 4 Nr. 2 FeV (Wohnsitzerfordernis) ist im Hinblick auf in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgestellte Führerscheine wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts ohne Weiteres unanwendbar.
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

10 S 308/04

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen in der BRD

hier: Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz

hat der 10. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schlüter und die Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Rudisile und Dr. Hartung

am 21. Juni 2004

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 18. Dezember 2003 - 9 K 2455/03 - geändert. Im Wege der einstweiligen Anordnung wird festgestellt, dass die Antragstellerin vorläufig bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens auf Erteilung einer deutschen Fahrerlaubnis auf der Grundlage ihres italienischen Führerscheins in der Bundesrepublik Deutschland befugt ist, Kraftfahrzeuge im Rahmen der Berechtigung ihres italienischen Führerscheins zu führen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.000,- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig und begründet.

Nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO ist der Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts bei Beschwerden gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beschränkt. Danach prüft der Verwaltungsgerichtshof nur die in einer rechtzeitig eingegangenen Beschwerdebegründung dargelegten Gründe. Auf dieser Grundlage hat die Beschwerde Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht den Erlass der von der Antragstellerin begehrten einstweilige Anordnung abgelehnt. Denn die Antragstellerin hat das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen sowohl des Anordnungsgrundes als auch des Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). In Ausübung des ihm durch § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 ZPO eröffneten Gestaltungsspielraums beschränkt der Senat seinen Ausspruch entsprechend dem im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gestellten Sachantrag auf eine vorläufige Feststellung hinsichtlich der Berechtigung der Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen im Bundesgebiet.

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht das Bestehen des Anordnungsgrundes angenommen. In seiner Entscheidung vom 22.10.2003 hat das Landratsamt Waldshut die Antragstellerin darauf hingewiesen, dass sie aufgrund ihres italienischen Führerscheins nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen berechtigt sei und die Teilnahme am Straßenverkehr dementsprechend als Straftat zu werten wäre. Ferner hat das Landratsamt bereits am 25.09.2003 den zuständigen Polizeiposten davon in Kenntnis gesetzt, dass die Antragstellerin - nach seiner Einschätzung - nicht aufgrund des italienischen Führerscheins am Straßenverkehr teilnehmen dürfe.

Auch das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache steht dem Erlass der von der Antragstellerin begehrten einstweiligen Anordnung nicht entgegen. Denn ohne die beantragte Anordnung drohen der Antragstellerin, die aufgrund ihres italienischen Führerscheins tatsächlich in der Bundesrepublik Deutschland zur Führung von Kraftfahrzeugen grundsätzlich berechtigt ist, angesichts der Bedeutung einer Fahrerlaubnis für die berufliche Betätigung und die private Lebensgestaltung unzumutbare Nachteile, die durch einen Erfolg erst in der Hauptsache nicht mehr ausgeglichen werden könnten.

Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts hat die Antragstellerin auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Das Verwaltungsgericht hat in seinem Beschluss maßgeblich auf Art. 8 der Ersten Richtlinie 80/1263/EWG des Rates vom 04. Dezember 1980 zur Einführung eines EG-Führerscheins abgestellt, wonach der der Antragstellerin im Jahr 1978 erteilte italienische Führerschein mangels eines Umtauschs in einen deutschen Führerschein innerhalb eines Jahres nach dem Erwerb des Wohnsitzes in der Bundesrepublik Deutschland längst seine Gültigkeit verloren habe. Die inzwischen außer Kraft getretene Regelung des Art. 8 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 80/1263/EWG beschränkte sich aber auf die Gültigkeit dieses Führerscheins in dem jeweiligen aufnehmenden Mitgliedstaat ("... sein Führerschein dort längstens ein Jahr nach Erwerb des Wohnsitzes gültig bleibt.") und bezog sich nicht auf die Gültigkeit des Führerscheins als solche. Damit kommt dem Umstand, dass der am 18.12.1978 ausgestellte Führerschein der Antragstellerin unter der Geltung der Richtlinie 80/1263/EWG nicht umgetauscht worden ist, für die Gültigkeit dieses Führerscheins keine Bedeutung zu. Vielmehr ist hinsichtlich der Frage, ob die Antragstellerin aufgrund ihres italienischen Führerscheins zum jetzigen Zeitpunkt zum Führen von Kraftfahrzeugen in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt ist, nach wie vor von der - derzeit bis zum 12.08.2009 befristeten - Gültigkeit des italienischen Führerscheins auszugehen.

Zu Recht weist die Antragstellerin in der Beschwerdebegründung darauf hin, dass die Richtlinie 80/1263/EWG durch Art. 13 der Richtlinie 91/439/EWG vom 29. Juli 1991 über den Führerschein aufgehoben worden ist. Wie den Erwägungsgründen dieser Richtlinie (zweitletzter Absatz) zu entnehmen ist, war gerade die in Art. 8 der Richtlinie 80/1263/EWG geregelte Verpflichtung, den Führerschein bei einem Wechsel des Staates des ordentlichen Wohnsitzes innerhalb eines Jahres umzutauschen, als inakzeptables Hindernis für die Freizügigkeit gewertet worden. Die Mitgliedstaaten sind nunmehr nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439/EWG verpflichtet, die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine gegenseitig anzuerkennen. Diese Verpflichtung ist grundsätzlich durch § 28 Abs. 1 Satz 1 FeV umgesetzt worden.

In seiner ablehnenden Entscheidung vom 22.10.2003 hinsichtlich der von der Antragstellerin beantragten Umschreibung ihres italienischen Führerscheins hat das Landratsamt maßgeblich auf § 28 Abs. 4 Nr. 2 FeV abgestellt, wonach die aus einer gültigen EU-Fahrerlaubnis folgende Berechtigung zum Führen von Kraftfahrzeugen (§ 28 Abs. 1 FeV) nicht für solche Inhaber einer EU-Fahrerlaubnis gilt, die zum Zeitpunkt der Erteilung dieser Fahrerlaubnis ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten, es sei denn, dass sie als Student oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 die Fahrerlaubnis während eines mindestens sechsmonatigen Aufenthalts erworben haben. Auf die Vorschrift des § 28 Abs. 4 Nr. 2 FeV kann die Nichtanerkennung des nach wie vor gültigen italienischen Führerscheins der Antragstellerin nicht gestützt werden, weil diese Norm wegen des ihr entgegenstehenden vorrangigen Gemeinschaftsrechts im Hinblick auf im EU-Ausland ausgestellte Führerscheine - ohne Weiteres - unanwendbar ist. Zwar bestimmt Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 91/439/EWG, dass die Ausstellung eines Führerscheins vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes oder vom Nachweis der Eigenschaft als Student - während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten - im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaates abhängt. Nach dem Urteil des EuGH vom 29.04.2004 (C-476/01 - Kapper, EuZW 2004, 337) ist aber Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 9 der Richtlinie 91/439 in der Fassung der Richtlinie 97/26 EG des Rates vom 02. Juni 1997 so auszulegen, dass ein Mitgliedstaat einem von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein die Anerkennung nicht deshalb versagen darf, weil nach den ihm vorliegenden Informationen der Führerscheininhaber zum Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaates gehabt hat. Nach der Richtlinie 91/439/EWG ist die Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Erteilung des Führerscheins hinsichtlich der in Art. 7 Abs. 1 und Art. 9 dieser Richtlinie vorgesehenen Wohnsitzvoraussetzung erfüllt sind, ausschließlich Sache des ausstellenden Mitgliedstaates. Der in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439/EWG verankerte Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheine verbietet dem Aufnahmemitgliedstaat, die Anerkennung dieses Führerscheins mit der Begründung zu verweigern, der Inhaber dieses Führerscheins habe zum Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins seinen ordentlichen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates und nicht im Gebiet des Ausstellungsstaates gehabt (EuGH, Beschl. v. 11.12.1003, C-408/02, Rn. 22; Urt. v. 29.04.2004, C-476/01, Rn. 45-49, EuZW 2004, 337). Hinsichtlich der Regelung des Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439/EWG sind die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllt, so dass sich der Einzelne vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf diese Bestimmung berufen kann (EuGH, Urt. v. 29.10.1998, C-230/97, Awoyemi, Slg. I-6781, Rn. 42 f.; Urt. v. 29.04.2004, C-476/01, Rn. 45, EuZW 2004, 337). Da die übrigen Mitgliedstaaten unter den vorliegenden Umständen den von Italien ausgestellten Führerschein anzuerkennen haben und die Beanstandung der Rechtmäßigkeit dieses Führerscheins allein dem ausstellenden Mitgliedstaat obliegt, müssen sich die Aufnahmemitgliedstaaten an den ausstellenden Mitgliedstaat wenden, wenn sie Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des Führerscheins haben und es diesem Mitgliedstaat überlassen, geeignete Maßnahmen in Bezug auf einen Führerschein zu ergreifen, bei dem sich nachträglich herausstellt, dass zum Zeitpunkt seiner Erteilung die Wohnsitzvoraussetzungen nicht erfüllt waren. Die Interessen des Aufnahmemitgliedstaates, der zunächst den ausgestellten Führerschein anzuerkennen hat, sind dadurch gewahrt, dass diesem die Möglichkeit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 227 EGV gegen den ausstellenden Mitgliedstaat offen steht, wenn dieser nicht die erforderlichen Maßnahmen gegen den nach Ansicht des Aufnahmemitgliedstaates zu Unrecht erteilten Führerschein ergreift (vgl. EuGH, Urt. v. 29.04.2004, C-476/01, Rn. 48, EuZW 2004, 337).

Sind danach Behörden der Bundesrepublik Deutschland wegen der aus der Richtlinie 91/439/EWG folgenden und durch § 28 Abs. 1 Satz 1 FeV grundsätzlich in deutsches Recht umgesetzten Verpflichtung zur Anerkennung des im Jahr 1978 ausgestellten und noch bis zum 12.08.2009 gültigen italienischen Führerscheins nicht berechtigt, unmittelbar gegenüber der Antragstellerin die Unrechtmäßigkeit der Erteilung dieses Führerscheins im Hinblick auf das Wohnsitzerfordernis geltend zu machen, ist die Antragstellerin ihrerseits befugt, im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik im Rahmen der Berechtigung ihres italienischen Führerscheins Kraftfahrzeuge zu führen. Es bedarf auch keiner förmlichen Umschreibung des italienischen Führerscheins, weil, wie oben ausgeführt, durch die Richtlinie 91/439/EWG die früher bestehende Verpflichtung zum Umtausch des Führerscheins aufgehoben worden ist und die Inhaber von in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheinen allein aufgrund dieser Führerscheine zum Führen von Kraftfahrzeugen in den anderen Mitgliedstaaten berechtigt sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren findet ihre Grundlage in § 25 Abs. 2, § 14 Abs. 1 sowie § 20 Abs. 3 und § 13 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Abschnitt I.7 und II.45.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in seiner jüngsten Fassung von 1996 (NVwZ 1996, 563).

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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