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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 25.09.2002
Aktenzeichen: 11 S 862/02
Rechtsgebiete: AuslG, GG, EMRK


Vorschriften:

AuslG § 47 Abs. 2 Nr. 1
AuslG § 47 Abs. 3 Satz 3
AuslG § 48 Abs. 1 Satz Nr. 2
AuslG § 48 Abs. 2 Satz 2
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8
Die Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation ist auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht gleichsam vorgegeben, wenn - insbesondere vermittelt durch seine Familie - soziale und soziokulturelle Beziehungen zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit bestehen. Es spricht einiges dafür, dass solche über die Familie vermittelte Beziehungen im Regelfall noch vorhanden sind (Fortführung des Senatsbeschlusses vom 11.10.2000 - 11 S 1206/00 -, InfAuslR 2001, 196f.).

Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK ist auch zu berücksichtigen, dass die deutsche Rechtsordnung zwischen der Ausweisung und der Abschiebung trennt und die Wirkungen der Ausweisung in der Regel insbesondere unter Berücksichtigung der familiären Belange des Ausländers befristet werden.


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

11 S 862/02

In der Verwaltungsrechtssache

wegen

Ausweisungsverfügung; vorläufiger Rechtsschutz

hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schaeffer, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Jakober und die Richterin am Verwaltungsgericht Dr. Paehlke-Gärtner

am 25. September 2002

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 18. Juni 2001 - 1 K 308/01 - geändert.

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage (- 1 K 379/01 -) gegen die unter Anordnung des Sofortvollzugs verfügte Ausweisung im Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 15. Januar 2001 wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 4.000 EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe ist zulässig, nachdem sie durch Beschluss des Senats vom 3.4.2002 zugelassen worden ist. Die Beschwerde ist auch begründet.

Das Verwaltungsgericht hat auf den Antrag des Antragstellers, eines am 17.12.1980 im Bundesgebiet geborenen türkischen Staatsangehörigen, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die für sofort vollziehbar erklärte Ausweisung im Bescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 15.1.2001 wiederhergestellt. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, es ergäben sich Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausweisung, insbesondere an deren Verhältnismäßigkeit. Die Behörde habe die Ausweisung vor allem damit gerechtfertigt, es bestehe Wiederholungsgefahr, denn der Antragsteller habe noch in der Justizvollzugsanstalt gezeigt, dass er weiterhin zu Straftaten bereit sei. Dies schließe die Behörde aus zwei drogenpositiven Urinproben. Dem könne die Kammer sich nicht anschließen. Allein die Einnahme von Drogen sei nicht strafbar. Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller sich die Drogen auf strafbare Weise beschafft habe, seien von der Behörde nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht ersichtlich. Zudem ergäben sich Bedenken gegen die Ausweisung aus Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Auch das Zusammenleben des 20-jährigen Antragstellers mit seinen Eltern werde von Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst. Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK müsse die Ausweisung dementsprechend notwendig sein, d.h. einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprechen und insbesondere verhältnismäßig zu dem verfolgten legitimen Ziel sein. Nach diesen Grundsätzen spreche gegen eine Ausweisung des Antragstellers die Tatsache, dass er Ausländer der zweiten Generation sei, bis zum Antritt der Strafhaft bei seinen Eltern gelebt habe und dorthin zurückkehren wolle und offenbar nur wenige Bindungen zum Heimatstaat seiner Eltern habe.

Die zugelassene Beschwerde des Antragsgegners gegen die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ausweisungsverfügung ist begründet. Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die vom Antragsgegner unter Anordnung des Sofortvollzugs verfügte Ausweisung vom 15.1.2001 ist zulässig, jedoch unbegründet.

Dem Interesse des Antragstellers, von der Vollziehbarkeit dieser Maßnahme einstweilen verschont zu bleiben, kommt gegenüber dem besonderen öffentlichen Interesse an ihrer Vollziehbarkeit kein Vorrang zu. Anders als das Verwaltungsgericht hält der Senat die Rechtmäßigkeit der Ausweisung nicht für ernstlich zweifelhaft. Es besteht unter den gegebenen Umständen darüber hinaus auch ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung. Die Vollziehbarkeit der Verfügung hat für den Antragsteller auch keine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge (vgl. § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO in entspr. Anw.).

Die Ausweisung des Antragstellers lässt nach der im vorliegenden Verfahren ausreichenden summarischen Prüfung keine Rechtsfehler erkennen. Im Falle des Antragstellers ist der Regel-Ausweisungstatbestand des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG erfüllt. Er wurde mit rechtskräftigen Strafurteil vom 12.5.2000 zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Da der Antragsteller eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besaß und im Bundesgebiet geboren ist, genießt er den besonderen Ausweisungsschutz gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG. Damit ist die Ausweisung des Antragstellers nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung möglich. Außerdem wird die Regelausweisung des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG gem. § 47 Abs. 3 S. 2 AuslG zur Ermessensausweisung herabgestuft. Das Alter des im Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung 20-jährigen Antragstellers steht der Ausweisung nicht entgegen. Nach § 47 Abs. 3 S. 3 AuslG wird über die Ausweisung eines heranwachsenden Ausländers, der im Bundesgebiet aufgewachsen ist und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt, in dem hier vorliegenden Fall des § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG nach Ermessen entschieden. Auch § 48 Abs. 2 Satz 2 AuslG schließt damit hier die Ausweisung nicht aus, obwohl der Antragsteller mit seinen Eltern in häuslicher Gemeinschaft lebt, da er einen Ausweisungsgrund nach § 47 Abs. 2 Nr. 1 AuslG erfüllt.

Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG liegen im Falle des Antragstellers vor. Schwerwiegende Gründe im Sinne der genannten Vorschrift sind anzunehmen, wenn ausgehend von den Ausweisungszwecken dem Ausweisungsanlass ein besonderes Gewicht zukommt. Für den Ausweisungszweck, präventiv Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Ausländer entgegenzuwirken, sind zudem gesteigerte Anforderungen an die Einschätzung der in Zukunft vom Betroffenen ausgehenden Gefahren zu stellen. Es müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.1.1989 - 1 C 46.86 -, BVerwGE 81, 155; Urteil vom 11.6.1996 - 1 C 24.94 -, BVerwGE 101, 247). Gemessen daran stellt das den Verurteilungen des Antragstellers durch das Strafgericht zugrundeliegende Fehlverhalten des Antragstellers einen schwerwiegenden Ausweisungsanlass dar. Anders als das Verwaltungsgericht geht der Senat davon aus, dass im Hinblick auf den Ausweisungszweck der Spezialprävention hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass in Zukunft eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Antragstellers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Dies ergibt sich aus den abgeurteilten Taten, der dabei offenbar gewordenen Persönlichkeitsstruktur des Antragstellers und seinem sozialen Umfeld. Die vom Antragsteller begangenen Straftaten zeugen - gerade im Hinblick auf das jugendliche Alter des Antragstellers bei der Begehung der Straftaten - von einer hohen kriminellen Energie, die die Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung von Gewalt- und Vermögensdelikten im Bundesgebiet rechtfertigt.

Der Antragsteller wurde am 28.1.1998 vom Amtsgericht Mannheim wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung in vier Fällen sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von 14 Monaten verurteilt. Der Antragsteller hatte teils allein, teils zusammen mit anderen Jugendlichen in den Jahren 1995 bis 1997 Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 14 Jahren bedroht, um sie zur Herausgabe von Geld oder Gegenständen geringen Werts zu veranlassen. In einem Fall hatte er einen 15-Jährigen mit einem Motorradhelm auf den Kopf und mit der Faust in das Gesicht geschlagen. Die Entscheidung über die Vollstreckung der Jugendstrafe wurde bis zum 1.8.1998 ausgesetzt (Vorbewährung). Mit Beschluss vom 12.10.1998 wurde die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt.

Mit Schreiben vom 8.4.1998 wurde der Antragsteller daraufhin von der Ausländerbehörde eindringlich verwarnt. Noch während der Vorbewährungszeit (Diebstahl am 23.7.1998) und der Bewährungszeit wurde der Antragsteller erneut straffällig.

Mit Urteil vom 12.5.2000 verurteilte ihn das Amtsgericht Mannheim wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung und wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in vier Fällen, davon in einem Fall versucht, unter Einbeziehung des Urteils vom 28.1.1998 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Die Vollstreckung wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. Der erneuten Verurteilung lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zu Grunde: Der Antragsteller hatte am 8.11.1998 einen Jugendlichen ohne Vorwarnung mehrfach mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Als der Geschädigte vom Moped stieg um sich zu wehren, kam sein Mittäter hinzu und schlug den Geschädigten mehrfach in die Nieren, wodurch dieser zu Boden fiel. Danach traten der Antragsteller und sein Mittäter mit beschuhten Füßen auf ihn ein, bis eine Zeugin hinzukam und schrie, dass sie aufhören sollten und sich daraufhin Passanten näherten. Der Antragsteller schrie den Geschädigten sodann an: "Verschwinde oder ich mach Dich alle". Der Geschädigte erlitt durch die Misshandlungen eine Schädelprellung sowie weitere Prellungen und Schwellungen. Er wurde im Krankenhaus notfallärztlich versorgt, war anschließend für eine Woche arbeitsunfähig und hatte auch in der Folgezeit noch starke Schmerzen. Bei den Diebstählen, die der Antragsteller am 23.7.1998, 29.10.1998 und am 30.10.1998 (Versuch) begangen hat, handelte es sich um Aufbrüche von Personenkraftwagen. Der Antragsteller und zwei Mittäter hatten sich zur fortgesetzten Begehung von Diebstählen zu einer Bande zusammengeschlossen und entwendeten aus den von ihnen aufgebrochenen Fahrzeugen Wertgegenstände, Bargeld, Ausweispapiere, Scheckarten etc. Im Hinblick auf diese kriminelle Energie kam das Amtsgericht Mannheim im Urteil vom 12.5.2000 - wie schon im Urteil vom 28.1.1998 - zu dem nachvollziehbaren und überzeugenden Ergebnis, dass beim Antragsteller "schädliche Neigungen" festzustellen seien.

Der Antragsteller ist trotz der ersten Verurteilung und der eindringlichen Verwarnung noch in der Bewährungszeit erneut in einschlägiger Weise straffällig geworden, wobei sich seine bis dahin gezeigte kriminelle Energie sowohl im Hinblick auf die Brutalität der Körperverletzung als auch im Hinblick auf die mit anderen zusammen planmäßig vorgenommenen Fahrzeugaufbrüche noch gesteigert hat. Dies lässt darauf schließen, dass ihn aufgrund der in den strafgerichtlichen Urteilen festgestellten schädlichen Neigungen die genannten Maßnahmen im wesentlichen unbeeindruckt gelassen haben und nicht geeignet waren, ihn von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten.

Für die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der Antragsteller zwischenzeitlich aufgrund der erneuten Verurteilung und der nach der Festnahme am 24.11.1999 erfolgten Inhaftierung diese Neigungen überwunden habe und in Zukunft keine einschlägigen Gewalt- und Eigentumsdelikte mehr begehen werde, bestanden vor diesem Hintergrund im maßgeblichen Zeitpunkt der Ausweisung keine überzeugenden Anhaltspunkte. Allein daraus, dass der Antragsteller im Anschluss an die letzte Tat vom 8.11.1998 bis zu seiner Festnahme strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten ist, kann auf eine grundlegende Änderung seiner Verhaltensweise nicht geschlossen werden. Es mag insoweit zwar zutreffen, dass er sich nach dem Hauptschulabschluss im Sommer 1998 zunächst (erfolglos) um eine Ausbildungsstelle bemüht hat. Er hat sich jedoch in dieser Zeit auch mit seinen Mittätern zusammengeschlossen, um sich durch fortgesetzte Diebstähle eine dauerhafte Einnahmequelle zu verschaffen. Was er im Anschluss an die letzte Tat (8.11.1998) gemacht hat - ob er sich insbesondere überhaupt im Bundesgebiet aufgehalten hat -, ist nicht ersichtlich. Fest steht dagegen, dass der Widerruf der am 12.10.1998 bewilligten Strafaussetzung zur Bewährung am 3.12.1999 mit der erneuten Straffälligkeit des Antragstellers, aber auch damit begründet war, dass er gegen Weisungen gröblich und beharrlich verstoßen, sich insbesondere der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers entzogen hatte. Zum Zeitpunkt der Ausweisung befand sich der Antragsteller seit etwa 1 Jahr und zwei Monaten in Haft. Nach dem Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt Adelsheim vom 28.12.2000 hatte er eine Ausbildung zum Industriemechaniker aufgenommen, deren erfolgreicher Abschluss von der Steigerung seiner Motivation abhängig war. Auch wenn er sich unter den Bedingungen des Strafvollzugs einerseits keiner Gewaltdelikte mehr schuldig gemacht hat und nach dem Führungsbericht in der Justizvollzugsanstalt auch als konstruktiv bewertbare Verhaltensweisen zeigte, fiel er andererseits im Disziplinarbereich verschiedentlich auf. Insbesondere konsumierte er im April und im November 2000 Drogen. Dies zeigt, dass auch zu diesem Zeitpunkt seine Bereitschaft, sich an bestehende Regeln zu halten, jedenfalls noch eingeschränkt war. Im Zeitpunkt der Ausweisung gab es damit keine Anhaltspunkte für eine deutliche Abkehr des Antragstellers von bisherigen Verhaltensmustern und für eine zielstrebige und erfolgversprechende Vorbereitung auf ein straffreies Leben auf der Grundlage eigener Erwerbstätigkeit.

Mit der Ausländerbehörde ist der beschließende Senat der Auffassung, dass die Ausweisung auf dieser Grundlage auch unter Berücksichtigung der persönlichen Belange des Antragstellers verhältnismäßig war (vgl. § 45 Abs. 2 AuslG). Die persönliche Situation des Antragstellers und dessen Schwierigkeiten bei einer Rückkehr in seine Heimat sowie die Belastung für seine Familie wurden gewürdigt und in nicht zu beanstandender Weise gewichtet. Dabei ist die Ausländerbehörde ohne Ermessensfehler und zutreffend von einer erheblichen Wiederholungsgefahr bezüglich gegen die Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und das Eigentum anderer gerichteter Straftaten ausgegangen und hat die zugunsten des Antragstellers zu berücksichtigenden Umstände dem sich hieraus ergebenden entgegenstehenden öffentlichen Interesse nachgeordnet. Im Hinblick auf die schädlichen Neigungen des Antragstellers ergibt sich - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - auch keine andere Beurteilung daraus, dass der Antragsteller nur wenig Bindungen in den Heimatstaat seiner Eltern haben mag. Es ist nach der Lebenserfahrung nicht ersichtlich, dass hier geborenen Türken der zweiten Generation die Türkei völlig fremd ist und sie die türkische Sprache nicht beherrschen. Es spricht vielmehr einiges dafür, bei Ausländern der zweiten Generation regelmäßig anzunehmen, dass sie die Muttersprache ihrer Eltern erlernt haben und zumindest in Grundzügen noch beherrschen. Insoweit obliegt es ihnen, substantiiert Gesichtspunkte vorzutragen, aus welchen sich ein abweichender Geschehensablauf ergeben kann. Sofern sich solche Gesichtspunkte bereits den Akten entnehmen lassen, sind die Ausländerbehörden und im Streitfall auch die Verwaltungsgerichte ebenfalls verpflichtet, den Sachverhalt weiter aufzuklären (Beschluss des Senats vom 11.10.2000 - 11 S 1206/00 -, InfAuslR 2001, 196f.). Solche Gesichtspunkte sind hier nicht vorhanden. In seinem Schreiben vom 5.12.2000 im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung hat der Antragsteller insoweit lediglich geltend gemacht, dass er sich mit der deutschen Kultur mehr verbunden fühle als mit der türkischen. Aus diesem Grunde würde ihm im Falle der Ausweisung das Leben in der Türkei erschwert werden. Aus seiner Sicht wäre eine Anpassung in diesem Land problematisch. Zur Begründung seines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz vom 19.2.2001 ließ er dann vortragen, er könne die türkische Sprache nur rudimentär lesen und schreiben. Nach diesem Vorbringen konnte das Regierungspräsidium davon ausgehen, dass es dem Antragsteller in der Türkei möglich sein wird, seine Kenntnisse der türkischen Sprache zu ergänzen und zu vertiefen. Weiterhin konnte es davon ausgehen, dass die türkische Kultur und Lebensweise dem Antragsteller durch sein Elternhaus durchaus vermittelt worden sind und ungewöhnliche Schwierigkeiten bei der Reintegration daher nicht bestehen werden.

Das Verwaltungsgericht hat demgegenüber dem Ausweisungsschutz für ausländische Jugendliche, die, wie der Antragsteller, im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sind, angesichts des in der Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AuslG zum Ausdruck kommenden maßgeblichen Willens des Gesetzgebers ein zu hohes Gewicht beigemessen. Für diese Auffassung lässt sich auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK nichts herleiten. Die Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung eines Ausländers der zweiten Generation ist auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht gleichsam vorgegeben, wenn - insbesondere vermittelt durch seine Familie - soziale und soziokulturelle Beziehungen zu dem Staat seiner Staatsangehörigkeit bestehen. Es kommt in jedem Einzelfall entscheidend darauf an, ob der Ausländer im Aufenthaltsland eine eigene Familie gegründet hat und ob er Beziehungen zum Staat seiner Staatsangehörigkeit unterhält, die Staatsangehörigkeit also mehr als nur eine juristische Tatsache ist (vgl. EGMR, Urteil vom 30.11.1999 - Baghli, InfAuslR 2000, 53; Urteil vom 21.10.1997 - Boujlifa, InfAuslR 1998, 1; Urteil vom 26.9.1997 - Mehemi, InfAuslR 1997, 430; Urteil vom 26.3.1992 - Beldjoudi, InfAuslR 1994, 86; vgl. auch Zander, Übersicht über die Entscheidungen des EGMR, InfAuslR 1999, 433). Bei einem ledigen und kinderlosen Ausländer der zweiten Generation kann dementsprechend eine Ausweisung trotz schwerwiegender Straftaten dann unverhältnismäßig sein, wenn keinerlei Bindungen zum Heimatstaat mehr bestehen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass solche über die Familie vermittelte Beziehungen im Regelfall noch vorhanden sind (vgl. Beschluss des Senats vom 11.10.2000 - 11 S 1206/00 -, InfAuslR 2001, 196f.). Auch beim Antragsteller sind derartige Beziehungen, wie dargelegt, noch gegeben.

Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK ist in diesem Zusammenhang auch zu beachten, dass die deutsche Rechtsordnung zwischen der Ausweisung und einer nachfolgenden Abschiebung unterscheidet und die Folgen einer Ausweisung auch dann gerechtfertigt sein können, wenn - wie z.B. im Falle der Ausweisung von Asylberechtigten, aber auch im Falle der Unzumutbarkeit einer auch nur kurzfristigen Trennung von Familienangehörigen - der Vollzug einer Abschiebung nicht in Betracht kommt. Ebenfalls von besonderer Bedeutung ist im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit, dass die Ausweisung in der Regel keine Maßnahme ist, die den Ausländer auf Dauer aus dem Bundesgebiet ausschließt, sondern deren Wirkungen unter Berücksichtigung des Gewichts des Ausweisungsgrunds, der Erreichung des Ausweisungszwecks und der persönlichen Belange des Ausländers, insbesondere auch der familiären Bindungen befristet werden. Diese Abstufungen der Folgen einer Ausweisung in der deutschen Rechtsordnung sind bei der Würdigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen, der teilweise eine sich hiervon unterscheidende Rechtslage in anderen Vertragsstaaten zugrunde liegt. So war im Fall Mehemi (EGMR, Urteil vom 26.9.1997 a.a.O.) und im Fall Baghli (EGMR, Urteil vom 30.11.1999 a.a.O.) für die Frage der Verhältnismäßigkeit von maßgeblicher Bedeutung, dass ein Ausschluss vom französischen Staatsgebiet auf Dauer bzw. für die Dauer von zehn Jahren erfolgt war.

Auf den Vortrag des Antragstellers im Beschwerdeverfahren über sein Verhalten nach der Haftentlassung und seine Absicht, die während der Haft begonnene Ausbildung ab dem 3.9.2001 fortzusetzen, kommt es hinsichtlich des für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung maßgeblichen Zeitpunkts der Behördenentscheidung nicht an. Dieser Sachverhalt kann im Rahmen einer künftigen Befristungsentscheidung Berücksichtigung finden. Soweit zwischen dem Antragsteller und seinen Eltern nach Haftentlassung eine Beistandsgemeinschaft entstanden sein sollte, wovon nach dem bisherigen Vortrag nicht ausgegangen werden kann, wäre auch dieser Umstand in die Ermessensabwägung über die Befristung einzustellen. Die zu bestimmende Frist beginnt allerdings erst mit der Ausreise. Ob ausnahmsweise auch die Erteilung einer Duldung mit der anschließenden Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis in Betracht kommen könnte (vgl. hierzu Beschluss des Senats vom 26.6.2002 - 11 S 2240/01 -), wofür derzeit nichts ersichtlich ist, ist bei der Entscheidung über den Vollzug der Ausreisepflicht zu entscheiden. Dies würde allerdings voraussetzen, dass die privaten Belange des Antragstellers und seiner Familie die gewichtigen ordnungsrechtlichen Belange derart überwögen, dass auch eine nur kurzfristige Trennung bereits unzumutbar wäre.

Mit zutreffenden Erwägungen wird in der angegriffenen Verfügung auch ausgeführt, es sei zu befürchten, dass der Antragsteller nach der Entlassung aus dem Strafvollzug während des noch durchzuführenden Hauptsacheverfahrens erneut (in ähnlich schwerwiegender Weise) straffällig werde. Es besteht auch weiterhin ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung, das über das öffentliche Interesse hinausgeht, das diese Maßnahme als solche rechtfertigt. Der Antragsteller hat durch sein Verhalten - wie dargelegt - die konkrete Gefahr begründet, er werde auch während des Laufs des von ihm betriebenen Verfahrens gegen die Ausweisung weitere schwere Rechtsverstöße begehen. Diese Gefahr ist - unabhängig davon, ob er inzwischen tatsächlich, wie beabsichtigt, seine Ausbildung fortsetzt - weiterhin gegeben, weil keine sichtbaren Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass er sich von seinen schweren kriminellen Verfehlungen distanziert hat. Solche Anhaltspunkte ergeben sich insbesondere nicht aus dem von ihm persönlich gefertigten Schreiben zur beabsichtigten Ausweisung. Dort gab er zwar an, dass er sich in Bezug auf seine Straffälligkeit zukünftig bemühen werde, die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland einzuhalten und zu achten, falls er weiterhin im Bundesgebiet bleiben dürfe. Ihm sei auch während des Vollzugs bewusst geworden, dass er durch seine kriminellen Handlungen einigen Personen sowie sich selbst und seiner Familie geschadet habe. Im Bezug dazu habe er seine Ansichtsweise insoweit geändert, dass er mittlerweile wisse, was für ihn und sein zukünftiges Leben wichtig und notwendig sei. Diese Aussagen lassen indessen eher auf eine starke Betonung der eigenen Interessen schließen, die auch im bereits zitierten Führungsbericht festgestellt wird, als auf ehrlich empfundene Reue und Einsicht in das Unrecht, das er anderen zugefügt hat. Vor diesem Hintergrund entfällt das öffentliche Interesse am Sofortvollzug auch nicht schon deswegen, weil der Antragsteller seit seiner Haftentlassung am 15.8.2001 unter dem Eindruck des schwebenden Beschwerdeverfahrens strafrechtlich bisher nicht erneut in Erscheinung getreten ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 25 Abs. 2, 13 Abs. 1, 14 Abs. 1 , 20 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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