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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 19.04.2004
Aktenzeichen: 12 S 1576/03
Rechtsgebiete: BSHG, SGB I


Vorschriften:

BSHG § 91 a
SGB I § 66 Abs. 1
SGB I § 39 Abs. 1
Zur Anwendbarkeit des § 66 SGB I gegenüber einem Sozialhilfeträger, der nach § 91 a BSHG die Feststellung einer Sozialleistung betreibt.
12 S 1576/03

VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

wegen

Wohngeld

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 12. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Kuntze, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Utz und den Richter am Verwaltungsgericht Frank

am 19. April 2004

beschlossen:

Tenor:

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 09. Mai 2003 - 8 K 4288/02 - wird abgelehnt.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert für das Antragsverfahren wird auf 756,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

Der auf die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Antrag hat keinen Erfolg.

1. Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt grundsätzlich voraus, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses des angegriffenen Urteils bestehen; Zweifel lediglich an der Richtigkeit der Begründung sind jedenfalls dann nicht ausreichend, wenn sich die angegriffene Entscheidung aus anderen Gründen als zutreffend darstellt, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin nicht möglich erscheint (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.12.2003 - 7 AV 2/03 -, juris; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.07.1999 - 6 S 2662/97 -, juris; Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 2. Aufl., § 124 RdNr. 23 f.; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 124 RdNr. 7a). Gemessen daran liegt der Zulassungsgrund nicht vor. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen nicht, da die Rechtssache jedenfalls aus anderen als den vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegten Gründen richtig entschieden worden ist.

Der Bescheid des Beklagten vom 15.05.2002 und der hierzu ergangene Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 12.08.2002 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seiner durch § 91a BSHG eingeräumten verfahrensrechtlichen Befugnis, im eigenen Interesse und Namen ein fremdes Recht, nämlich das des Leistungsberechtigten, gegenüber dem vorrangig verpflichteten Sozialleistungsträger geltend zu machen. Dabei kann offen bleiben, ob der in § 66 Abs. 1 SGB I geregelte Versagungsgrund gegenüber einem (überörtlichen) Träger der Sozialhilfe, der nach § 91a BSHG die Feststellung einer Sozialleistung betreibt, anwendbar ist; im vorliegenden Fall geht es nicht um die Mitwirkung des Leistungsberechtigten selbst (vgl. die Überschrift vor §§ 60 ff. SGB I), an den bzw. dessen Betreuer sich der Beklagte insoweit auch nicht gewandt hat, sondern um ein im pflichtgemäßen Ermessen des erstattungsberechtigten Sozialhilfeträgers stehendes Vorgehen nach § 91a BSHG gegenüber einem anderen Sozialleistungsträger, so dass sich hier Handlungspflichten des Klägers aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und möglicherweise etwa aus den §§ 16 Abs. 3, 17 Abs. 1 SGB I, §§ 3 ff., 86 SGB X ergeben können. Dies kann indes dahinstehen, ebenso die Frage, ob im vorliegenden Fall die (weiteren) Tatbestandsvoraussetzungen des § 66 Abs. 1 und 3 SGB I als erfüllt anzusehen sind. Die streitigen Bescheide sind jedenfalls deshalb rechtswidrig, weil die Behörden das ihnen in § 66 Abs. 1 SGB I eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt haben (vgl. §§ 113 Abs. 1 S. 1, 114 VwGO).

Bei einer Entscheidung über die Versagung oder die Entziehung der Leistung nach § 66 Abs. 1 SGB I hat der Sozialleistungsträger sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und dabei die Grenzen des Ermessens einzuhalten; der Betroffene hat hierauf einen Rechtsanspruch (§ 39 Abs. 1 SGB I). Eine Ermessensentscheidung erweist sich insbesondere dann als fehlerhaft, wenn die Behörde bei ihrem Handeln von unzutreffenden, in Wahrheit nicht gegebenen, unvollständigen oder falsch gedeuteten tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen ausgeht, Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art berücksichtigt, die rechtlich nicht relevant sind, oder umgekehrt wesentliche Gesichtspunkte außer acht lässt, die zu berücksichtigen wären (vgl. Kopp/Schenke, a.a.O, § 114 RdNrn. 12 ff. m.w.N.).

Zweck des § 66 Abs. 1 SGB I ist, den Hilfesuchenden zur Mitwirkung an der Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts anzuhalten, weshalb bei der Ermessensausübung insbesondere zu berücksichtigen ist, ob, in welchem Umfang und in welchem zeitlichen Rahmen der Sozialleistungsberechtigte zur Erfüllung dieser Pflichten in der Lage ist (vgl. BVerwGE 98, 203, 209 f.; Giese/Krahmer, SGB I, § 66 RdNrn. 2, 17; Mrozynski, SGB I, 3. Aufl., § 39 RdNr. 34). Bezogen auf den vorliegenden Fall ist insoweit allein auf das Verhalten und die Situation des (überörtlichen) Sozialhilfeträgers abzustellen, der nach § 91a BSHG im eigenen Interesse und Namen die Feststellung einer Sozialleistung betreibt, um damit den Nachrang der Sozialhilfe sicherzustellen (zu § 91a BSHG vgl. BSG, FEVS 51, 481; 49, 281; 42, 342).

Dem Beklagten war als Wohngeldbehörde bereits im Verwaltungsverfahren, spätestens jedoch im Widerspruchsverfahren, bekannt, dass der Kläger als überörtlicher Träger der Sozialhilfe aufgrund einer Änderung des Wohngeldgesetzes zum 01.01.2001, die sich zugunsten der auf seine Kosten untergebrachten Heimbewohner auswirkte, eine Vielzahl von Wohngeldanträgen - die Rede ist von 18 000 Fällen - zu bearbeiten und dabei insbesondere die förmlichen Antragsformulare auszufüllen und die erforderlichen Nachweise zu beschaffen hatte. Berücksichtigt man die Umstände im vorliegenden Fall, insbesondere die hohe Zahl der vom Kläger gleichzeitig zu bearbeitenden Wohngeldanträge, die bei Erstanträgen für die Feststellung des geltend gemachten Wohngeldanspruchs erforderlichen umfangreichen Unterlagen (vgl. das Aufforderungsschreiben des Beklagten vom 28.08.2001) sowie die eine Sachverhaltsermittlung oftmals erschwerende Situation etwa durch die Heimunterbringung, die Schwerbehinderteneigenschaft oder das Vorliegen eines Betreuungsverhältnisses, so sah sich der Kläger noch während des gesamten Zeitraumes zwischen der Antragstellung vom 21.05.2001 und der Widerspruchsentscheidung vom 12.08.2002 mit einem außergewöhnlichen Arbeitsanfall konfrontiert. Diesen besonderen Gegebenheiten wird in der streitigen Ermessensentscheidung nicht angemessen Rechnung getragen.

Dem Versagungsbescheid des Beklagten vom 15.05.2002 kann nicht entnommen werden, ob und - falls ja - unter welchen Gesichtspunkten Ermessen ausgeübt worden ist (zum Begründungserfordernis vgl. § 35 Abs. 1 S. 3 SGB X). Auch im Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 12.08.2002, der dem ursprünglichen Verwaltungsakt die für die gerichtliche Überprüfung maßgebliche Gestalt gibt (vgl. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), fehlt es - worauf der Kläger bereits im Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht hingewiesen hat - an einer am Zweck der Ermächtigung ausgerichteten Abwägung und angemessenen Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles. Es liegt auf der Hand, dass es dem Kläger aufgrund der geschilderten besonderen Umstände nicht möglich war, im Hinblick auf die damals offenen 18 000 Wohngeldfälle sämtlichen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I in jedem einzelnen Fall zeitnah nachzukommen. Im Widerspruchsbescheid heißt es hierzu, dass der Kläger für seine Nichtmitwirkung innerhalb der jeweils gesetzten Fristen eine überzeugende Begründung nicht genannt habe; er habe "außer wohngeldrechtlich unmaßgeblicher organisatorischer Gründe im eigenen Handlungsbereich keine Gründe nach § 65 SGB I, die ihn an der Ausübung seiner Mitwirkung hindern", angeführt.

Die in § 65 SGB I gezogenen Grenzen der Mitwirkung betreffen die Tatbestandsseite der in § 66 Abs. 1 SGB I normierten Handlungsermächtigung. Nach deren Zweck war bei der Ermessensausübung auf die Frage, ob, in welchem Umfang und in welchem zeitlichen Rahmen der Kläger in der Lage gewesen ist, seine Mitwirkungspflichten zu erfüllen, einzugehen. Darauf, dass dies im vorliegenden Fall nicht, jedenfalls nicht angemessen, geschehen ist, deutet auch die im Widerspruchsbescheid enthaltene Aussage hin, wonach im Verwaltungsverfahren jeweils angemessene Fristen gesetzt worden seien. Vor dem Hintergrund der geschilderten Ausnahmesituation, in der sich der Kläger im fraglichen Zeitraum befand, entbehrt auch die weitere, im Widerspruchsbescheid getroffene Feststellung, es sei von einer bewussten Verzögerungstaktik auszugehen, einer nachvollziehbaren Grundlage. Die somit weder sachgerechte noch angemessene Abwägung und Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Falles ist zudem schwerlich mit dem in § 86 SGB X ausdrücklich festgelegten Gebot der engen Zusammenarbeit der Leistungsträger zu vereinbaren.

Die - wie aufgezeigt - fehlerhafte Ermessensentscheidung ist auch nicht durch das Vorbringen des Beklagten im Rahmen des Klageverfahrens vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart geheilt worden (vgl. § 114 S. 2 VwGO; hierzu ferner Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, a.a.O., § 114 RdNrn. 50 ff.). Der Beklagte hat im verwaltungsgerichtlichen Verfahren daran festgehalten, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, Besonderheiten zu erkennen, da sich der Kläger auf allgemeine Aussagen zur Arbeitsüberlastung beschränkt und nicht zur Aufklärung des Einzelfalles beigetragen habe. Weiter wird ausgeführt, dass Behörden, die Arbeitsüberlastung und organisatorische Schwierigkeiten geltend machen würden, hinsichtlich der Einhaltung von Fristen nicht besser gestellt werden könnten als Privatpersonen; aus der Vorgehensweise des Klägers dränge sich der Verdacht einer geplanten Verzögerung durch die wiederholt gestellten Anträge zur Verlängerung von Fristen auf. Auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens des Beklagten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vermag der Senat aus den genannten Gründen eine rechtsfehlerfreie Ermessensentscheidung im vorliegenden Fall nicht zu erkennen.

2. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Sache nur dann, wenn mit ihr eine grundsätzliche, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellungen bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufgeworfen wird, die sich in dem erstrebten Berufungsverfahren stellen würde und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Die Darlegung dieser Voraussetzungen erfordert wenigstens die Bezeichnung einer konkreten Frage, die sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für das Berufungsverfahren erheblich sein wird. Darüber hinaus muss[!Duden1] die Antragsschrift einen Hinweis auf den Grund enthalten, der die Anerkennung der grundsätzlichen, d.h. über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung der Sache rechtfertigen soll (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.07.1984, BVerwGE 70, 24; Beschluss[!Duden2] des Senats vom 18.08.1988 - A 12 S 930/88 - ). Diesen Anforderungen entspricht das Antragsvorbringen nicht. In der Begründung des Zulassungsantrags mit Schriftsatz vom 26.06.2002 (gemeint ist 2003) ist eine hinreichend konkrete Rechtsfrage nicht formuliert worden. Selbst die im Schriftsatz des Beklagten vom 21.08.2003 enthaltene Fragestellung ist zu ungenau, lässt insbesondere nicht hinreichend die Entscheidungserheblichkeit erkennen und genügt damit nicht den sich aus § 124 a Abs. 4 S. 4 VwGO ergebenden Darlegungserfordernissen. Abgesehen davon ist dieser an den Verwaltungsgerichtshof gerichtete und bei diesem (erst) am 27.08.2003 eingegangene Schriftsatz mit dem darin enthaltenen erstmaligen Versuch, eine hinreichend konkrete, entscheidungserhebliche und fallübergreifend klärungsbedürftige Rechtsfrage zu bezeichnen, nicht (mehr) berücksichtigungsfähig (vgl. § 124 a Abs. 4 S. 4 und 5 VwGO).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 20 Abs. 3, 25 Abs. 2, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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