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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 08.07.2008
Aktenzeichen: 4 S 681/05
Rechtsgebiete: BeamtVG, BGB


Vorschriften:

BeamtVG § 35 Abs. 1
BeamtVG § 44 Abs. 2
BGB § 242
§ 44 Abs. 2 BeamtVG stellt eine abschließende gesetzliche Konkretisierung des Grundsatzes von Treu und Glauben dar, der daneben für eine Versagung von Unfallausgleich nicht mehr in Betracht kommt.
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil

4 S 681/05

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Unfallausgleich

hat der 4. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 08. Juli 2008

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 13. Juli 2004 - 5 K 1140/02 - geändert. Die Bescheide der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post vom 23.01.2002 und vom 22.05.2002 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin für die Zeit ab 15.10.1997 einen Unfallausgleich auf der Grundlage einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Klägerin und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen jeweils zur Hälfte.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung von Unfallausgleich nach § 35 BeamtVG.

Die 1942 geborene Klägerin war Bundesbeamtin. Am 15.10.1997 geriet sie auf der Fahrt zum Dienst mit ihrem Pkw ins Schleudern und überschlug sich. In ihrer Dienstunfallmeldung vom 18.10.1997 gab sie als verletzte Körperteile an: Linkes Knie, Wirbelsäule und als Art der Verletzung: Prellung, Stauchung. Aus der Meldung geht hervor, dass die Klägerin vor dem Unfall eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50. v.H. aufwies. Die Unfallkasse Post und Telekom erkannte das Ereignis mit Bescheid vom 28.10.1997 als Dienstunfall an. In der Folgezeit war die Klägerin mit Ausnahme eines abgebrochnen Arbeitsversuchs in der Zeit vom 04. bis 19.11.1998 bis zu ihrer Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand zum 01.01.2000 dienstunfähig erkrankt.

Auf Veranlassung der nunmehr für die Dienstunfallangelegenheiten der Klägerin zuständigen Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post (RegTP) erstattete Dr. Leutelt von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frankfurt am Main unter dem 25.06.1998 ein Gutachten über den unfallbedingten Grad der MdE, in dem er als wesentliche Unfallfolgen eine folgenlos abgeklungene Knieprellung links sowie muskuläre Verspannungen der unteren Brustwirbelsäule rechts feststellte und die MdE auf unter 10 v.H. taxierte. Hiergegen erhob die Klägerin Einwendungen und beantragte mit Schreiben vom 01.12.1998 die Gewährung von Unfallausgleich. Die RegTP lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11.01.1999 ab. Den von der Klägerin eingelegten Widerspruch wies das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie mit Widerspruchsbescheid vom 09.07.1999 als unbegründet zurück. Die daraufhin beim Verwaltungsgericht Mainz erhobene Klage nahm die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 29.05.2000 zurück.

Mit Anwaltsschriftsatz vom 05.09.2000 beantragte die Klägerin erneut "hundertprozentigen Unfallausgleich" und machte geltend: Das Verfahren sei bisher von der falschen Seite her betrieben worden. Bei ihr bestehe in Wahrheit eine vom Unfall ausgelöste posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), eine Angsterkrankung mit vegetativen Störungen und Depressionen, bei der die durch die unfallbedingten körperlichen Einschränkungen entwickelte extreme nervliche Belastung ausgeprägt sei. Dies ergebe sich aus dem in ihrem Auftrag erstellten neurologisch-psychiatrischen Gutachten des Dr. Martin vom 24.05.2000. Auch der für die RegTP erstellte Befund von Dr. Bretschneider, Amtsarzt beim Gesundheitsamt des Main-Taunus-Kreises, vom 03.08.1999 besage, dass sich eine depressive Entwicklung mit einer psychosomatisch-psychiatrischen Problematik herauskristallisiert habe. Nach Aufforderung durch die Behörde legte die Klägerin noch eine gutachterliche Stellungnahme des Dr. Martin vom 08.02.2001 vor, wonach die unfallbedingten physischen und psychischen Funktionsstörungen aus neurologisch-psychiatrischer Sicht eine MdE von 100 v.H. bedingten. Daraufhin beauftragte die RegTP die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Tübingen mit einer Begutachtung der Höhe der unfallbedingten MdE auf chirurgischem, orthopädischem, neurologischem und psychiatrischem Fachgebiet. Im Gutachten vom 31.05.2001 stellten Prof. Dr. Weise und Dr. Krackhardt auf unfallchirurgischem Fachgebiet eine ausgeheilte Prellung der Brustwirbelsäule sowie unfallunabhängige degenerative Veränderungen im gesamten Wirbelsäulenbereich fest, holten aber wegen einer massiven depressiven Grunderkrankung eine neurologische Zusatzbegutachtung durch Prof. Dr. Mayer von der Universität Tübingen ein. Diesem lag bei der Begutachtung auch eine von der Klägerin eingeholte gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. Greve vom 19.03.2001 vor, in der dieser die Meinung vertrat, bei der Klägerin liege zweifellos eine auf das Unfallereignis zu beziehende posttraumatische Depression vor, die zu einer hundertprozentigen MdE geführt habe. Im Gutachten vom 31.07.2001 kamen Prof. Dr. Mayer und Privatdozent Dr. Stevens dagegen zu dem Ergebnis, Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet seien eine folgenlos ausgeheilte Gehirnerschütterung sowie Teilsymptome einer PTBS mit phobischer Vermeidungshaltung dem Autofahren gegenüber; die hierdurch bedingte MdE sei mit 20 v.H. einzuschätzen. Daraufhin teilten Prof. Dr. Weise und Dr. Krackhardt unter dem 10.08.2001 der RegTP abschließend mit, aus unfallchirurgischer und neurologisch-psychiatrischer Sicht sei eine MdE von 20 v.H. gegeben. Mit Bescheid vom 23.01.2002 lehnte die RegTP die Gewährung von Unfallausgleich unter Hinweis auf die Begutachtung durch die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Tübingen ab. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die RegTP durch Widerspruchsbescheid vom 22.05.2002 als unbegründet zurück.

Am 19.06.2002 hat die Klägerin beim Verwaltungsgericht Freiburg Klage erhoben und zuletzt beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide der RegTP vom 23.01.2002 und 22.05.2002 zu verpflichten, ihr Unfallausgleich in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt.

Durch Urteil vom 13.07.2004 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG, nämlich eine MdE von 25 v.H. für länger als sechs Monate, seien nicht erfüllt. Denn nach dem verwertbaren Gutachten von Prof. Dr. Weise und Dr. Krackhardt unter Berücksichtigung des neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Prof. Dr. Mayer bestehe nur auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eine MdE von 20 v.H. Die von der Klägerin vorgelegten "Gutachten" gäben, weil unzulänglich, keine Veranlassung zur Einholung eines weiteren - gerichtlichen - Gutachtens.

Nach antragsgemäßer Zulassung der Berufung durch Senatsbeschluss vom 22.03.2005 hat die Klägerin zur Begründung eine nervenfachärztliche Bescheinigung ihres behandelnden Arztes Dr. Dittmar vom 20.09.2004, eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme von Prof. Dr. Greve vom 11.10.2004 sowie eine fachärztliche Bescheinigung von Prof. Dr. Wirsching vom 07.12.2004 vorgelegt und geltend gemacht, damit seien wesentliche Einwände des Verwaltungsgerichts gegen die Substantiierung ihrer Gegengutachten entkräftet. Für eine Disponiertheit oder Vorerkrankung gebe es keine Belege.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 13. Juli 2004 - 5 K 1140/02 - zu ändern, die Bescheide der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post vom 23.01.2002 und 22.05.2002 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr für die Zeit ab 15.10.1997 einen Unfallausgleich auf der Grundlage einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und trägt vor, die von der Klägerin vorgelegten neuen fachärztlichen Bescheinigungen könnten zu keiner anderen Beurteilung führen. Jedenfalls habe die Klägerin seit Auftreten ihrer psychischen Störungen deren Behandlung verweigert. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben habe sie daher die Zahlung eines Unfallausgleichs verwirkt.

Mit Beschluss vom 03.04.2006 hat der Senat die Einholung eines fachmedizinischen Sachverständigengutachtens durch den von den Beteiligten gemeinsam vorgeschlagenen Gutachter Prof. Dr. Herzog, Universitätsklinikum Heidelberg, angeordnet. Mit Beschluss vom 22.05.2006 hat der Senat den Beweisbeschluss geändert und Oberarzt Dr. Hain, Universitätsklinikum Heidelberg, der von Prof. Dr. Herzog mit der hauptverantwortlichen Bearbeitung von Gutachtenaufträgen betreut worden ist, zum Gutachter bestimmt. Das von Dr. Hain erstellte Gutachten vom 03.01.2007 kommt zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin eine partielle posttraumatische Belastungsstörung, eine akute Belastungsreaktion (remittiert), eine dysthyme Störung, eine Neurasthenie, rezidivierende depressive Episoden (derzeit remittiert), eine Agoraphobie mit Panikattacken und anhaltende somatophorme Schmerzstörung (remittiert) vorliegen. Zum Eintritt des vorliegenden Störungsbilds habe die Traumatisierung durch den Unfall maßgeblich und richtungweisend als wesentliche Ursache geführt. Ein anderes, täglich vorkommendes Ereignis hätte nicht denselben Erfolg herbeigeführt. Eine MdE von 30 v.H. liege vor. Vorbestehende Vulnerabilitäten hätten für sich genommen keinen Krankheitswert. Die MdE bestehe seit dem Unfall 1997, wobei es zu einer Symptomverschiebung gekommen sei. Die zunächst vorliegende somatoforme und in Folge depressive Symptomatik habe sich zurückentwickelt, die psychosozialen Folgen der komorbiden psychischen Folgen seien zunehmend stärker hervorgetreten. Die Gesamteinschränkung sei seit 1997 als gleichbleibend zu bewerten. Zur Beantwortung von Nachfragen der Klägerin hat Dr. Hain mit Stellungnahme vom 03.10.2007 sein Gutachten ergänzt.

In der mündlichen Verhandlung hat Dr. Hain sein Gutachten erläutert. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Dem Senat liegen die Akten der Beklagten (1 Ordner) vor. Auf diese Akten wird ebenso wie auf die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Freiburg und des Berufungsverfahrens wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und teilweise begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch nach § 35 BeamtVG auf Gewährung von Unfallausgleich auf Grundlage einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. seit dem 15.10.1997 (1.). Dieser Anspruch ist nicht - wie von der Beklagten geltend gemacht - nach Treu und Glauben verwirkt (2.).

1. Der Anspruch auf einen Unfallausgleich nach § 35 Abs. 1 BeamtVG setzt voraus, dass ein Beamter infolge eines Dienstunfalls in seiner Erwerbstätigkeit länger als sechs Monate wesentlich beschränkt ist. Solange dieser Zustand andauert, wird der Unfallausgleich in Höhe der Grundrente nach § 31 Abs. 1 bis 4 BVG gewährt. Eine wesentliche Beschränkung besteht ab einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 25 v.H. (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.06.1965 - VI C 38.63 - BVerwGE 21, 282, 283f.; Wilhelm, in: Fürst, GKÖD, § 35 BeamtVG Rn. 4 u. 20).

Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin vor, wobei der Senat im Anschluss an die Einschätzung des Sachverständigen Dr. Hain von einer Minderung der (Rest-)Erwerbsfähigkeit in Höhe von 30 v.H. seit dem 15.10.1997 ausgeht.

a) Bei dem Autounfall der Klägerin am 15.10.1997 handelt es sich entsprechend dem bestandskräftigen Bescheid der Unfallkasse Post und Telekom vom 28.10.1997 um einen Dienstunfall.

b) Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin ist seit diesem Dienstunfall um 30 v.H. gemindert.

Erwerbsfähigkeit ist die Kompetenz des Verletzten, sich unter Nutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm abstrakt im gesamten Bereich des Erwerbslebens bieten, einen Erwerb zu verschaffen. Auf den bisherigen Beruf oder die bisherige Tätigkeit wird dabei nicht abgestellt. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit wird durch einen Vergleich der vor und nach dem Dienstunfall bestehenden individuellen Erwerbsfähigkeit festgestellt (zum Vorstehenden: Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, BBG/BeamtVG, BeamtVG § 35 Rn. 5ff.). Bestand schon vor dem Dienstunfall eine Beschränkung der Erwerbsfähigkeit - wie bei der Klägerin um 50 v.H. -, kommt es nach § 35 Abs. 2 Satz 2 BeamtVG auf die Minderung der individuellen Resterwerbsfähigkeit an.

Dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin als Folge des Unfalls vom 15.10.1997 gemindert ist und diese Minderung seither einen Grad von 30 v.H. beträgt, ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. Hain. Danach liegen gegenwärtig bei der Klägerin folgende Störungsbilder mit Krankheitswert vor: Eine partielle posttraumatische Belastungstörung, eine akute Belastungsreaktion (remittiert), eine dysthyme Störung, eine Neurasthenie, rezidivierende depressive Episoden (remittiert), eine Agoraphobie mit Panikattacken und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (remittiert). Dieses komorbide Störungsbild mittlerer Ausprägung führt zu einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit der Klägerin und zu sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Dabei ist es seit dem Unfall zu einer Symptomverschiebung gekommen. Die zunächst vorliegende somatoforme und in Folge depressive Symptomatik hat sich zurückentwickelt, während die psychosozialen Folgen der komorbiden psychischen Folgen zunehmend stärker hervorgetreten sind. Insgesamt ist daher seit dem 15.10.1997 im Längsschnitt von einer gleichbleibenden Gesamteinschränkung auszugehen.

Der Senat hat keinen Anlass, die umfassenden und detaillierten gutachterlichen Ausführungen von Dr. Hain in Zweifel zu ziehen. Insbesondere wird sein Gutachten nicht durch den Vortrag der Beteiligten und die von ihnen vorgelegten Gutachten und Stellungnahmen erschüttert.

Die Annahme einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v.H. wird nicht durch das von der Beklagten eingeholte Gutachten von Prof. Dr. Mayer vom 31.07.2001 in Zweifel gezogen, wonach lediglich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. vorliege. Dieses Gutachten ist gegenüber dem Gutachten von Dr. Hain von geringerer Überzeugungskraft, weil darin nur aufgrund des momentanen Gesprächseindrucks am Untersuchungstag bei der Klägerin das Vorliegen einer psychischen Störung mit Krankheitswert ausgeschlossen wird. Weder ist eine weitergehende testpsychologische Zusatzbegutachtung erfolgt, wie sie Dr. Hain durchgeführt hat und die eine genauere Erfassung der Symptomatik ermöglicht, noch werden die übrigen, insbesondere seitens der Klägerin vorgelegten, ärztlichen Stellungnahmen hinreichend in den Blick genommen. Dies schlägt sich darin nieder, dass das Gutachten (S. 15) als Unfallfolgen lediglich "Teilsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung mit phobischer Vermeidungshaltung dem Autofahren gegenüber" feststellt. Dies steht jedoch im Gegensatz zu den von der Klägerin dem Gutachter gegenüber geschilderten Beschwerden (S. 4 des Gutachtens: Wortfindungsschwierigkeiten, Schlafstörungen, Antriebsarmut, herabgesetzte Stimmung). Insoweit wird nur das Vorliegen einer wesentlichen depressiven Störung ausgeschlossen, ohne dass eine umfassende differenzialdiagnostische Betrachtung erfolgt, wie sie der gerichtliche Sachverständige Dr. Hain (Gutachten S. 30ff) ausführlich vorgenommen hat.

Gegenüber dem Einwand der Beklagten, die Klägerin habe nach dem Gutachten (S. 18) während ihrer fünfstündigen Untersuchung keine Zeichen von Erschöpfung oder Konzentrationsstörungen gezeigt, hat Dr. Hain in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und im Einklang mit der allgemeinen Lebenserfahrung dargelegt, dass allein aus der außergewöhnlichen Begutachtungssituation nicht auf das reguläre Leistungsniveau der Klägerin geschlossen werden kann, die im Rahmen der Anamnese angegeben hat, dass sie nur noch "anderthalb Stunden aushalten" könne (Gutachten S. 12).

Das Gutachten von Dr. Hain wird auch nicht durch die von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Gutachten und Stellungnahmen in Frage gestellt. Soweit in dem Gutachten von Dr. Martin vom 24.05.2000, dem sich die Stellungnahme von Prof. Dr. Greve vom 19.03.2001 anschließt, eine neurotische, posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wird, fehlt eine nähere Begründung, etwa eine Auseinandersetzung mit den Kriterien nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten ICD-10, wie sie ausführlich im Gutachten von Dr. Hain erfolgt. Die Stellungnahme von Prof. Dr. Greve vom 11.10.2004 behauptet zwar eine Übereinstimmung mit den Kriterien nach ICD-10 Nr. F 43.1, begründet dies aber nur schlagwortartig und ohne die Differenzierung zwischen einer partiellen Symptomatik und dem Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung in den Blick zu nehmen. Hierzu hätte aber, entsprechend dem Gutachten von Dr. Hain, Anlass bestanden, da auch Prof. Dr. Greve nur Symptome schildert (Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhte Schreckhaftigkeit), die nicht auf eine Reagibilität "in der bei einer PTBS bekannten ausgeprägten dauernden wachsamen Gespanntheit" (Gutachten Dr. Hain, S. 32) hindeuten. Auch in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin, insoweit unter Berufung auf ihren Beistand Prof. Dr. Müller-Küppers, die Annahme einer nur partiellen posttraumatischen Belastungsstörung nicht zu erschüttern vermocht.

Soweit das Gutachten von Dr. Martin mit der Ergänzung vom 08.02.2001, die verschiedenen Stellungnahmen von Prof. Dr. Greve und die Bescheinigung von Prof. Dr. Wirsching vom 07.12.2004 von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 v.H. ausgehen, überzeugt dies nicht, da keine dieser Äußerungen eine nachvollziehbare Begründung für diesen Wert liefert. Das Gutachten von Dr. Martin enthält bereits nur eine undeutliche Beschreibung der krankheitsbedingten Leistungsfähigkeit der Klägerin ("nachvollziehbar in ihrer Leistungsfähigkeit reduziert ... die Arbeitsfähigkeit als auch in Zukunft stark eingeschränkt anzusehen"); mit dieser Beschreibung, die nicht für eine völlige, sondern eine nur teilweise Minderung der Erwerbsfähigkeit spricht, stimmt die pauschale Behauptung einer Minderung um 100 v.H. nicht überein. Die Stellungnahme von Prof. Dr. Greve vom 19.03.2001 nimmt weitgehend auf das Gutachten von Dr. Martin Bezug und enthält keine substantielle eigene Würdigung der krankheitsbedingten Beeinträchtigung; auch hier wird die Annahme einer maximalen Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht konkret, unter Auseinandersetzung mit der verbleibenden Leistungsfähigkeit der Klägerin, begründet. Die Stellungnahme von Prof. Dr. Greve vom 11.10.2004 führt insoweit keine weiteren Gesichtspunkte an. Soweit Prof. Dr. Greve in seiner Stellungnahme vom 26.03.2007 zum Gutachten von Dr. Hain für seine Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit maßgeblich auf die Dienstunfähigkeit (beschrieben als "vollständige Arbeitsunfähigkeit") und die vorzeitige Pensionierung der Klägerin abstellt, beruht dies auf einem unzutreffenden Verständnis des Maßstabs für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit i.S.d. § 35 BeamtVG. Diese beurteilt sich nicht anhand der konkreten Einschränkung in dem ausgeübten Beruf. Abzustellen ist vielmehr - wie bereits erwähnt - auf die Nutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich dem Verletzten abstrakt im gesamten Bereich des Erwerbslebens bieten. Daher kann nicht aus einer Dienstunfähigkeit nach § 42 BBG, deren Maßstab die Anforderungen sind, die das funktionelle Amt im abstrakten Sinne stellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.06.1990 - 2 C 18.89 - ZBR 1990, 352), auf eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 v.H. geschlossen werden. Auch die Bescheinigung von Prof. Dr. Wirsching vom 07.12.2004 enthält weder eine konkrete und nachvollziehbare Beschreibung der Schwere der Beeinträchtigung noch eine nähere Begründung der angenommenen Minderung der Erwerbsfähigkeit.

Im Unterschied zu dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Hain nimmt auch keine der von der Klägerin vorgelegten Stellungnahmen eine Einordnung des Krankheitsbildes anhand der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche gutachterliche Tätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (aktuelle Version abrufbar unter www.bmas.de) vor. Diese "Anhaltspunkte" stellen als antizipierte Sachverständigengutachten eine wesentliche Orientierungshilfe für die Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit dar (vgl. BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R -, BSGE 91, 205; Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, a.a.O., Rn. 10d). Wie Dr. Hain in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt hat, ist das Krankheitsbild der Klägerin, gemessen an den Kriterien der "Anhaltspunkte", mit Störungen im mittleren Schwerebereich verbunden (Kapitel 26.3: "Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit"); Anhaltspunkte für "Schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen oder schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten", die zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 bis 100 v.H. führen, sind dagegen nicht vorhanden.

c) Zwischen der Minderung der Erwerbsfähigkeit und dem Dienstunfall besteht auch ein hinreichender Kausalzusammenhang.

Eine solcher Kausalzusammenhang liegt vor, wenn der Dienstunfall die wesentliche Bedingung für die Beeinträchtigung ist. Beim Zusammenwirken mehrerer Bedingungen ist eine als alleinige Ursache anzusehen, wenn sie bei natürlicher Betrachtungsweise überragend zum Erfolg mitgewirkt hat, während jede von ihnen als wesentliche (Mit-)Ursache zu erachten ist, wenn sie nur annähernd die gleiche Bedeutung für den Eintritt des Erfolgs hatten (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.04.1967 - II C 118.64 - , BVerwGE 26, 332; Beschluss vom 01.03.2007 - 2 A 9.04 -, juris). Wesentliche Ursache kann demnach auch ein Ereignis sein, welches ein anlagebedingtes Leiden auslöst oder beschleunigt oder welches im Zusammenwirken mit einer Vorschädigung oder ungünstigen Befindlichkeit die Schadensfolge herbeiführt, wenn diesem Ereignis nicht im Verhältnis zu den anderen Bedingungen eine derart untergeordnete Bedeutung für den Eintritt der Schadensfolge zukommt, dass die anderen Bedingungen bei der angezeigten wertenden Betrachtungsweise allein als maßgeblich und richtungweisend anzusehen sind. Nicht Ursachen sind demgemäß sog. Gelegenheitsursachen, bei denen zwischen dem Dienst und dem eingetretenen Schaden nur eine rein zufällige Beziehung besteht, d.h. wenn es beispielsweise wegen der leichten Ansprechbarkeit einer krankhaften Veranlagung oder ungünstigen körperlichen Verfassung zur Auslösung von Schadenserscheinungen nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlicher Einwirkungen bedurfte, vielmehr auch ein anderes, alltäglich vorkommendes Ereignis denselben Erfolg herbeigeführt hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.03.2007, a.a.O.; Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, a.a.O., BeamtVG § 31 Rn. 80 f; Brockhaus, in: Schütz/Maiwald, Beamtenrecht, § 31 BeamtVG Rn. 41 ff).

Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. Hain, die sich der Senat zu eigen macht und die auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen worden sind, handelt es sich bei dem Dienstunfall der Klägerin nicht um eine derartige Gelegenheitsursache. Vor dem Unfall konnte die Klägerin bestehende Einschränkungen und möglicherweise vorliegende Disponiertheiten kompensieren (ergänzende gutachterliche Stellungnahme vom 03.10.2007, S. 3). Der Unfall selbst ist als objektiv und subjektiv durchaus schwer einzustufen und stellt damit eine wesentliche Mitbedingung für die nachfolgenden psychischen Störungen dar (a.a.O., S. 9). Ohne das Unfalltrauma wäre die psychische Struktur der Klägerin in dieser Form nicht dekompensiert; ein anderes, täglich vorkommendes Ereignis hätte nicht denselben Erfolg herbeigeführt (a.a.O., S. 10).

2. Die Klägerin hat ihren somit gegebenen Anspruch auf Gewährung eines Unfallausgleichs auf Grundlage einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. seit dem Zeitpunkt des Unfalls auch nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben wegen mangelnder Therapiewilligkeit verwirkt. Der Grundsatz von Treu und Glauben ist neben der speziellen Regelung des § 44 Abs. 2 BeamtVG nicht anwendbar; auch die Voraussetzungen des § 44 Abs. 2 BeamtVG liegen nicht vor.

a) Für Beamte, die in einem Dienstunfall verletzt worden sind, enthält § 33 Abs. 3 BeamtVG die Obliegenheit, sich einer ärztlichen Behandlung zu unterziehen, soweit diese nicht mit einer erheblichen Gefährdung für Leben oder Gesundheit verbunden ist. Die Folgen einer Verletzung dieser Obliegenheit regelt § 44 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG, wonach die Unfallfürsorge (also entsprechend der Legaldefinition in § 30 Abs. 2 Nr. 3 BeamtVG auch die Gewährung eines Unfallausgleichs) versagt werden kann, wenn der Verletzte eine die Heilbehandlung betreffende Anordnung ohne gesetzlichen oder sonstigen wichtigen Grund nicht befolgt und dadurch seine Dienst- oder Erwerbsfähigkeit ungünstig beeinflusst wird. Diese Regelung ist Ausdruck des allgemeinen Rechtsgedankens (vgl. auch § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB), dass ein Geschädigter sich die eigene Mitverantwortung für den Schaden oder dessen Höhe entgegenhalten lassen muss (Wilhelm, in: Fürst, GKÖD, § 44 BeamtVG Rn. 1); dieses Verbot des "venire contra factum proprium" beruht wiederum auf der allgemeinen Anforderung, das Verhalten nach den Grundsätzen von Treu und Glauben auszurichten (zu § 254 BGB siehe BGH, Urteil vom 18.04.1997 - V ZR 28/96 -, BGHZ 135, 235; Palandt/Heinrichs, BGB, 66. Auflage 2007, § 254 Rn. 1). Als gesetzliche Konkretisierung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes schließt die spezielle Vorschrift des § 44 Abs. 2 BeamtVG einen Rückgriff auf diesen allgemeinen Grundsatz aus.

Der abschließende Charakter des § 44 Abs. 2 BeamtVG folgt auch aus seinem Regelungszweck. § 44 Abs. 2 BeamtVG ist Ergebnis der gesetzgeberischen Abwägung zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an einer Begrenzung steuerfinanzierter staatlicher Kompensationsleistungen (vgl. Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, a.a.O., BeamtVG § 44 Rn. 1a) und dem Interesse des verletzten Beamten, die Folgen einer Obliegenheitsverletzung klar erkennen zu können. § 44 Abs. 2 BeamtVG enthält daher besondere Schutzvorschriften zugunsten des Verletzten - etwa die Notwendigkeit einer die Heilbehandlung betreffenden Anordnung (Satz 1) und das Erfordernis eines schriftlichen Hinweises auf die Folge des § 44 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG (Satz 2) - , die nicht durch einen Rückgriff auf allgemeine Rechtsgrundsätze umgangen werden können.

b) Die Voraussetzungen einer Nichtgewährung von Unfallfürsorge nach § 44 Abs. 2 BeamtVG sind nicht gegeben. Bereits die nach Satz 1 dieser Vorschrift erforderliche Versagungsentscheidung (vgl. Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, a.a.O., BeamtVG § 44 Rn. 7d; Wilhelm, in: Fürst, GKÖD, § 44 BeamtVG Rn. 4: "rechtsvernichtender Charakter") liegt nicht vor. Die Beklagte hat sich (erstmals im Berufungsverfahren) nur auf eine Verwirkung nach Treu und Glauben berufen und damit noch keine förmliche Entscheidung unter Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens getroffen. Zudem fehlt der nach § 44 Abs. 2 Satz 2 BeamtVG erforderliche schriftliche Hinweis auf die Folge der Versagung der Unfallfürsorge. Weiterhin ist nicht ersichtlich, dass der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen einer Nichtbehandlung (die im Übrigen von der Klägerin bestritten wird) und einer Verzögerung oder Verhinderung der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit besteht, für den die Beklagte als Dienstherr die materielle Beweislast trägt (Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, a.a.O., Rn. 7g). Denn ausweislich des insoweit von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Gutachtens von Dr. Hain (S. 39) ist eine weitere Psychotherapie erst nach Abschluss des Gerichtsverfahrens aussichtsreich. Daher kann offen bleiben, ob die in den Gutachten von Prof. Dr. Mayer und Dr. Hain ausgesprochenen Empfehlungen, weitere Therapien durchzuführen, überhaupt Anordnungen iSd § 44 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG darstellen, oder ob es sich dabei um "obiter dicta" handelt, die keinen Anordnungscharakter besitzen (zu den Voraussetzungen einer Anordnung siehe einerseits Plog/Wiedow/Lemhöfer/Bayer, a.a.O., Rn. 5c, wonach eine ärztliche Anordnung ausreichend ist, und andererseits Brockhaus, in: Schütz/Maiwald, a.a.O., § 44 BeamtVG Rn. 24, wonach es einer Anordnung durch den Dienstherrn bedarf).

3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Da die Klägerin die Gewährung von Unfallausgleich unter Zugrundelegung des oberen Schweregrades in Kap. 26.3 der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche gutachterliche Tätigkeit" begehrt ("schwere Störungen"), ihr aber nur Unfallausgleich entsprechend dem mittleren Schweregrad ("stärker behindernden Störungen") zusteht, und die Beklagte die Gewährung von Unfallausgleich ganz ablehnt, sind die Kosten hälftig zu teilen.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 127 BRRG, § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Beschluss vom 8. Juli 2008

Der Streitwert des Verfahrens wird gemäß § 63 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1, 52 Abs. 1 GKG unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf jeweils 14.976,-- EUR festgesetzt (vgl. auch Nr. 10.4 des "Streitwertkatalogs 2004", abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO; 15. Auflage 2007, Anh § 164).

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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