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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 07.03.2001
Aktenzeichen: 6 S 1366/00
Rechtsgebiete: BVFG


Vorschriften:

BVFG § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
BVFG § 6 Abs. 2 Satz 2 2. Halbs.
BVFG § 4 Abs. 1
1. In der ehemaligen UdSSR war es für Kinder volkstumsverschiedener Eltern, die eine weitere Schulbildung anstrebten, jedenfalls bis Ende 1955 regelmäßig nicht zumutbar, sich bei Ausstellung des ersten Inlandspasses zur Nationalität des volksdeutschen Elternteils zu erklären. In diesen Fällen ist die Erklärung zur Nationalität des nichtdeutschen Elternteils regelmäßig als "unbeachtliches Gegenbekenntnis" zu werten.

2. Das nach der Passverordnung 1974 grundsätzlich bestehende Wahlrecht für Kinder volkstumsverschiedener Eltern setzte nicht voraus, dass die Eltern miteinander verheiratet waren.


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Im Namen des Volkes Urteil

6 S 1366/00

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Spätaussiedlerbescheinigung

hat der 6. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schwäble und die Richterinnen am Verwaltungsgerichtshof Fricke und Ecker aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 7. März 2001

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 7. September 1999 - 17 K 1066/98 - geändert. Der Bescheid des Landratsamts Main-Tauber-Kreis vom 19. Juli 1996 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 11. Februar 1998 werden aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin eine Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG auszustellen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG. Sie wurde am 25.11.1938 in Senkowka/Rayon Wjasowskij/Gebiet Balaschowskaja (Stalingrad/Wolga) geboren und wurde 1941 zusammen mit ihrer 1905 geborenen und 1993 verstorbenen Mutter xxxxx xxxxx, ihrer Großmutter xxxxxxxxx xxxxx sowie ihrer Schwester xxxxxx nach Kasachstan umgesiedelt, wo sämtliche Familienangehörige unter Kommandantur standen. Von 1947 bis 1954 besuchte sie die siebenjährige Dorfschule in Sachnowka/Semipalatinsk, von 1954 bis 1957 absolvierte sie eine Ausbildung an der Mittelschule in Nowaja Schulba/Semipalatinsk. 1957 beendete sie die Mittelschule und arbeitete ein Jahr in einer Sowchose als landwirtschaftliche Arbeiterin. Von 1958 bis 1990 war sie Lehrerin, zunächst Hilfslehrerin, an der Schule in Sachnowka. Gleichzeitig absolvierte sie an der Pädagogischen Hochschule Alma-Ata von 1959 an ein Studium, das sie im Jahre 1965 mit einem Diplom als Deutschlehrerin der Mittelschule abschloss. Von 1990 bis 1995 war sie als stellvertretende Direktorin für Lehr- und Erziehungsangelegenheiten an der unvollendeten Mittelschule Sachnowka tätig. Der Vater der Klägerin ist der 1895 geborene und 1946 verstorbene russische Volkszugehörige xxxxxx xxxxxxxxxxxxx; ihre Eltern waren nicht miteinander verheiratet. In dem gemeinsam für die Klägerin und ihren Ehemann xxxxxxxxx xxxxxxxxx gestellten Aufnahmeantrag vom 1.3.1993 wird die Volkszugehörigkeit der Klägerin mit Russisch angegeben, ihre Muttersprache sowie die jetzige Umgangssprache in der Familie jeweils mit Russisch/Deutsch. Der Großvater mütterlicherseits der Klägerin war der 1865 geborene und 1924 verstorbene xxxxxxxxx xxxxxx, die Großmutter mütterlicherseits die 1866 geborene und 1946 verstorbene xxxxxxxxx xxxxx geb. xxxx. Bezüglich Großeltern mütterlicherseits und Mutter waren sowohl Volkszugehörigkeit als auch Mutter- und Umgangssprache in der Familie jeweils mit Deutsch angegeben. Die Klägerin, ihr Ehemann und ihr 1964 geborener Sohn xxxxxxxxxxx sind im Januar 1992 der Organisation "Wiedergeburt" beigetreten.

Die Klägerin verließ zusammen mit ihrem am 24.5.1939 geborenen Ehemann xxxxxxxxx xxxxxxxx, den sie am 7.1.1964 geheiratet hat, sowie ihrem Sohn xxxxxxxxxxx und dessen Ehefrau am 8.11.1995 Kasachstan und reiste mit einem Aufnahmebescheid vom 24.4.1995 in die Bundesrepublik Deutschland ein, in dem der Ehemann der Klägerin als Spätaussiedler im Sinne des § 4 Abs. 1 BVFG aufgeführt ist, sie selbst dagegen als Ehegatte des Spätaussiedlers im Sinne des § 7 Abs. 2 BVFG genannt ist. Der Ehemann der Klägerin wurde mittlerweile mit Bescheid vom 10.7.1996 als Spätaussiedler anerkannt, und ihm wurde eine Bescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG ausgestellt. Gleichfalls als Spätaussiedler anerkannt wurde der Sohn xxxxxxxxx.

Zu dem Umstand, dass sie in ihrem ersten Inlandspass mit russischer Nationalität geführt ist, äußerte sich die Klägerin in einem Schreiben vom 26.4.1995 folgendermaßen: "Als ich die Schule beendete, wollte ich weiter lernen, aber die Kommandanturbewachung erlaubte es nicht. Und ich beschloss, im Pass "Russe" zu schreiben. Meine Mutter war dagegen. Im Jahre 1978 wurden die Pässe gewechselt. Im neuen Pass wollte ich Deutsche sein. Man erlaubte es mir nicht .... 1994 wechselte ich endlich die Nationalität, jetzt bin ich Deutsche."

In einem ausführlichen Lebenslauf, den sie ihrem Antrag vom 9.1.1996 auf Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG beifügte, schilderte die Klägerin die Situation ihrer Familie nach der Deportation. Ihre Mutter habe Tag und Nacht arbeiten müssen, damit ihre Großmutter, ihre Schwester und die Klägerin selbst nicht verhungert seien. Der jüngere Bruder ihrer Mutter, xxxxx xxxxx, sei in der Trudarmee gewesen und dort verhungert. Dies sei eine schwere Zeit gewesen. Sie hätten bei Russen in kalten Zimmern wohnen müssen. Zum Schlafen hätten sie lediglich Stroh auf dem Boden gehabt. Um alles habe die Mutter bei den Russen betteln müssen. Im Frühling, wenn noch Schnee auf den Feldern gelegen habe, hätten sie nach Körnern und gefrorenen Kartoffeln gesucht. Sie seien immer hungrig gewesen und hätten Läuse gehabt. Um Seife oder Salz zu bekommen, hätten sie bei den Russen die schmutzige und schwere Arbeit machen müssen. Ihre Schwester habe die Schule nicht besuchen können, da sie keine Schuhe und keine Kleidung gehabt habe. Sie selbst sei nur in die Schule gegangen, bis es kalt geworden sei, dann sei Schluss gewesen. Die Lehrerin habe ihr eine Zeitung und einen Buntstift gegeben, damit sie habe schreiben können. Von 1947 bis 1954 habe sie die siebenjährige Schule im Dorf Sachnowka besucht. Es habe Tage gegeben, an denen es nichts zu essen gegeben habe. Die Kommandantur habe ihr nicht erlaubt, in ein anderes Dorf zu gehen oder zu fahren. Sie seien eine deutsche Familie gewesen und hätten alle unter Kommandantur gestanden. Sie habe aber weiter lernen wollen und beschlossen, ihren Namen xxxxx zu wechseln. Sie habe den Namen des Freundes ihrer Mutter xxxxxxxxxxxx angenommen. Ihre Mutter sei krank geworden, so sehr habe sie sich darüber aufgeregt. Deutsche sei sie geblieben, habe Mutters Dialekt gesprochen und gut Deutsch gelernt. Bei Volkszählungen habe sie immer "Deutsche" angegeben. Sie sei nach deutschen Sitten und Bräuchen erzogen worden. Sie sei evangelisch getauft, und in der Familie seien die kirchlichen Feste gefeiert worden. Immer habe sie Deutsche sein wollen. Im Jahre 1978 seien die Pässe gewechselt worden, und sie habe im Pass wieder Deutsche sein wollen. Man habe es ihr jedoch nicht erlaubt. Aber 1994 habe sie es schließlich erreicht.

Laut einem Aktenvermerk vom 14.2.1996 gab die Klägerin weiter an, weil sie die höhere Schule habe besuchen wollen und dies zum dortigen Zeitpunkt mit deutscher Abstammung und Bekenntnis zum Deutschtum nicht möglich gewesen sei, habe sie ihre Geburtsurkunde neu ausstellen und ihren russischen Vater eintragen lassen. Sie habe ohne Wissen der Mutter dessen russischen Familiennamen xxxxxxxxxxxxxxx angenommen, obwohl sie ihren Vater nicht einmal gekannt habe. 1954 habe sie sich mit 16 Jahren den russischen Inlandspass ausstellen lassen, und zwar mit russischer Nationalität. Ihr 1964 geborener Sohn xxxxxxxxxx, in dessen Geburtsurkunde sie ebenfalls als Russin aufgeführt sei, habe mit 16 Jahren die deutsche Nationalität nach seinem Vater gewählt. Weiter habe sie angegeben, dass sie von der Schule ein Haus zur Verfügung gestellt bekommen habe; ansonsten habe sie gegenüber den Volksdeutschen keine Erleichterungen gehabt. Sie sei immer eine Deutsche gewesen, habe sich bei Volkszählungen als Deutsche ausgegeben und den Bewohnern ihres Dorfes geholfen, ihre Verwandten zu suchen. - Der Sachbearbeiter vermerkte, die Klägerin spreche fließend Hochdeutsch und habe angegeben, auch ein "Kauderwelsch" wie ihr Mann zu können.

Das Landratsamt Main-Tauber-Kreis hörte am 22.2.1996 den 1928 geborenen xxxxx xxxxxxxx an, der folgende Angaben machte: Er kenne die Klägerin seit 1940. Sie habe in dieser Zeit mit ihrer Mutter und ihrer Schwester xxxxxx bei der Tante des Zeugen gewohnt. Sie habe ihren Vater nie gekannt, denn dieser sei 1938 verhaftet worden. Sie habe zu Hause Deutsch gesprochen und sei von ihrer Mutter und ihrer Großmutter als Deutsche erzogen worden.

Der 1921 geborene Zeuge xxxx xxxxx schilderte bei seiner Befragung am 21.2.1996 die Klägerin als Person, die nach den deutschen Sitten und Gebräuchen sowie deutscher Kultur gelebt habe. Er kenne die Klägerin seit 1949 zunächst als seine Schülerin, später als seine Kollegin an der Schule im Dorf Sachnowka. In einem ausführlichen Schreiben vom 20.2.1996 gab er an, bei der Hochzeit der Eheleute xxxxxxxx und der Schwester der Klägerin xxxxx zugegen gewesen zu sein. Es habe sich um "richtige deutsche Hochzeiten" gehandelt. Seine Schlussfolgerung sei, dass die Klägerin eine Deutsche "war, ist und bleibt". Hierfür gebe er sein Ehrenwort.

Mit Bescheid vom 19.7.1996 lehnte das Landratsamt Main-Tauber-Kreis den Antrag der Klägerin auf Ausstellung einer Bescheinigung für Spätaussiedler nach § 15 Abs. 1 BVFG ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin stamme zwar von einer deutschen Mutter ab; auch sei davon auszugehen, dass ihr die bestätigenden Merkmale wie Sprache, Erziehung und Kultur vermittelt worden seien. Indessen habe sie bereits bei der ersten Ausstellung des Inlandspasses eine Erklärung zum russischen Volkstum und damit gegen das deutsche Volkstum abgegeben. Bestärkt habe sie die russische Nationalität noch damit, dass sie den Namen ihres russischen Vaters angenommen habe. Der einmalige Versuch 1978, ihre Nationalität ändern zu lassen, reiche nicht aus, um die Ernsthaftigkeit ihres Antrags zu beweisen. Es sei auch nicht erkennbar, dass sie sich seither oder geraume Zeit vor dem Aussiedlungsbeschluss bemüht habe, die Nationalitätseintragung ändern zu lassen. Die erst 1994 erfolgte Änderung sei wegen des engen zeitlichen Zusammenhangs mit dem Aufnahmeverfahren nicht als Erklärung zur deutschen Nationalität, sondern als Lippenbekenntnis anzusehen, um in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erhalten.

Hiergegen legte die Klägerin am 13.8.1996 Widerspruch ein, den sie damit begründete, im Jahre 1978 sei ihr Antrag auf Änderung ihrer Nationalitäteneintragung aus Schikane abgelehnt worden, weil sie Deutsche sei. Danach habe sie es jährlich neu versucht, ihr Antrag sei aber immer abgelehnt worden. Nur durch Einschalten einer "höchsten Dienststelle" habe sie 1994 eine Änderung erreicht. Diesen Widerspruch wies das Regierungspräsidium Stuttgart mit Widerspruchsbescheid vom 11.2.1998 zurück. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, zwar berufe sich die Klägerin darauf, durch das Bekenntnis zum russischen Volkstum ihres Vaters habe sie schwerwiegende berufliche Nachteile vermeiden wollen. Indessen sei sie 1954, im Jahr der erstmaligen Ausstellung des Inlandspasses, noch Schülerin gewesen, habe allerdings im gleichen Jahr in die Mittelschule gewechselt. Deshalb sei bereits zweifelhaft, ob sie bei der Ausstellung des ersten Inlandspasses bereits eine Ausbildung zur Lehrerin ins Auge gefasst habe. Laut einer im Juli 1996 telefonisch bei der Heimatauskunftstelle "Sowjetunion" eingeholten Stellungnahme seien ab 1956 deutsche Volkszugehörige nicht gehindert gewesen, als Lehrer zu arbeiten und wie die Klägerin ab 1959 ein Fernstudium zu absolvieren. Laut dieser Mitteilung sei der Berufsweg der Klägerin typisch für die damaligen Verhältnisse in der Sowjetunion gewesen. Außerdem müsse nach § 6 Abs. 2 Satz 2 letzter Halbs. BVFG hinzukommen, dass aufgrund der Gesamtumstände der Wille, der deutschen Volksgruppe zuzugehören, unzweifelhaft sei. Hiervon könne jedoch nicht ausgegangen werden.

Am 4.3.1998 hat die Klägerin beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klage erhoben mit dem Antrag, den Beklagten zur Ausstellung einer Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG zu verpflichten. Zur Begründung hat sie durch ihren Prozessbevollmächtigten vortragen lassen, im Jahre 1954, als ihr der erste Inlandspass ausgehändigt worden sei, sei keiner der Deutschen, die noch unter Kommandantur gestanden hätten, gefragt worden, welche Nationalität in den Pass eingetragen werden solle. Es sei automatisch die russische Nationalität eingetragen worden. Es werde auch noch auf die Bescheinigung über die Rehabilitierung vom 8.4.1993 hingewiesen, mit der öffentlich bestätigt werde, dass sie der deutschen Volksgruppe zugehöre.

Mit Urteil vom 7.9.1999 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klägerin, die unzweifelhaft die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 BVFG erfülle, habe keine Erklärung zur deutschen Nationalität im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG abgegeben, weil sie in ihrem ersten Inlandspass, der ihr im Jahre 1954 im Alter von 16 Jahren ausgestellt worden sei, ihre Nationalität mit "Russin" habe eintragen lassen. Dieses Gegenbekenntnis sei auch nicht nach § 6 Abs. 2 Satz 2 2. Halbs. BVFG rechtlich unerheblich, da nicht erkennbar sei, dass der Klägerin bei Angabe der deutschen Nationalität im Jahre 1954 Gefahren für Leib und Leben oder schwerwiegende berufliche Nachteile gedroht hätten. Zwar stelle der Ausschluss Volksdeutscher vom Studium wegen ihrer Nationalität einen schwerwiegenden beruflichen Nachteil dar, es sei aber bereits zweifelhaft, ob bei Ausstellung des ersten Inlandspasses eine Ausbildung der Klägerin als Lehrerin überhaupt schon ins Auge gefasst worden sei. Denn 1954 habe sie erst die siebenjährige Schule beendet und anschließend bis 1957 die Mittelschule besucht. Erst 1958 habe sie nach einer einjährigen Tätigkeit als landwirtschaftliche Arbeiterin auf einer Sowchose ihre Tätigkeit als Lehrerin aufgenommen. Ihr Studium habe sie von 1959 bis 1964 absolviert. Weder in ihrem Lebenslauf noch in ihrer Anhörung habe sie jedoch angegeben, dass sie bereits im Jahre 1954 konkret die Absicht gehabt habe, Lehrerin zu werden und zu studieren. Um überhaupt prognostizieren zu können, ob die Angabe der deutschen Nationalität bei Ausstellung des ersten Inlandspasses zu schwerwiegenden beruflichen Nachteilen geführt hätte, müsse aber zu diesem Zeitpunkt ein bestimmtes Berufsziel wenigstens in Umrissen feststehen. Ob dies der Fall sei, könne letztlich jedoch dahinstehen, zumal es zumindest seit Beginn der sechziger Jahre in der UdSSR keine speziell auf die deutsche Volksgruppe zugeschnittenen Zugangshindernisse zum Studium mehr gegeben habe. Außerdem müsse auch dann, wenn ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum mit schwerwiegenden beruflichen Nachteilen verbunden gewesen sei, aufgrund der Gesamtumstände der Wille unzweifelhaft erkennbar sein, der deutschen Volksgruppe und keiner anderen anzugehören. Auch davon könne im Falle der Klägerin nicht gesprochen werden, denn die Klägerin sei von dem Bekenntnis zum russischen Volkstum in der Folgezeit nicht durch ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum wieder abgerückt. Aus ihren Einlassungen ergebe sich, dass sie den Nationalitäteneintrag in ihrem Pass im Jahre 1994 ausschließlich deshalb habe auswechseln lassen, weil ihr im Laufe des Aufnahmeverfahrens bekannt geworden sei, dass sie nur als deutsche Volkszugehörige in Deutschland in den Genuss der Fremdrente kommen würde. Selbst in ihrem Aufnahmeantrag vom 1.3.1993 sei ihre Nationalität noch mit "Russin" angegeben gewesen. Ihren angeblichen Versuchen ab 1978, den Nationalitäteneintrag ändern zu lassen, könne deshalb kein Gewicht beigemessen werden. Im Übrigen sei ihr Vorbringen, sie habe ab 1978 jedes Jahr versucht, den Nationalitäteneintrag ändern zu lassen, nicht glaubhaft, denn dieser Vortrag sei erstmals in der Widerspruchsbegründung erfolgt.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die vom Senat mit Beschluss vom 19.6.2000 zugelassene Berufung eingelegt. Unter Bezugnahme auf ihr bisheriges Vorbringen trägt sie ergänzend vor, sie habe sich immer nach außen hin zum deutschen Volkstum bekannt. Ihr gesamter Lebenswandel sei entscheidend von ihrer Mutter und auch vom Schicksal der Familie geprägt gewesen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 7.9.1999 zu ändern, den Bescheid des Landratsamts Main-Tauber-Kreis vom 19.7.1996 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 11.2.1998 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihr eine Spätaussiedlerbescheinigung gemäß § 15 Abs. 1 BVFG auszustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er führt u.a. aus, ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum im Sinne von § 6 BVFG setze das Bewusstsein und den Willen voraus, selbst Deutscher zu sein und keinem anderen Volk anzugehören. Eine deutschfreundliche Einstellung und Betätigung reiche hierfür nicht aus. Die Anstellung als Lehrerin für den Deutschunterricht lasse lediglich die Wertschätzung für die deutsche Sprache erkennen, nicht aber unbedingt ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum.

Der Senat hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 7.3.2001 angehört. Wegen ihrer Angaben wird auf die Sitzungsniederschrift nebst Anlage verwiesen. Wegen weiterer Einzelheiten zum Sach- und Streitstand nimmt der Senat auf die Gerichts- und auf die Behördenakten des Beklagten Bezug, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Verpflichtungsklage der Klägerin zu Unrecht abgewiesen. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Ausstellung der begehrten Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs.1 Satz 1 BVFG (vgl. § 113 Abs.5 Satz 1 VwGO). Die Bescheide des Landratsamts Main-Tauber-Kreis und des Regierungspräsidiums Stuttgart waren daher aufzuheben.

Die Klägerin ist Spätaussiedlerin im Sinne der §§ 4 Abs. 1 und 6 Abs. 2 BVFG. Sie hatte seit dem 8.Mai 1945 ihren Wohnsitz in einer Republik der ehemaligen UdSSR (Kasachstan, Region Semipalatinsk), die sie nach dem 31.12.1992 mit einem zuvor erteilten Aufnahmebescheid und damit "im Wege des Aufnahmeverfahrens" verließ (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 1 BVFG). Sie ist auch deutsche Volkszugehörige nach § 6 Abs. 2 BVFG. Die Klägerin, die unstreitig von einer volksdeutschen Mutter abstammt, von dieser allein erzogen wurde und die deutsche Sprache fließend spricht, erfüllt, wie auch das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, unzweifelhaft die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 BVFG. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts liegen bei ihr jedoch auch die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG vor.

Im vorliegenden Fall ist allein die erste Alternative dieser Vorschrift anzuwenden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist diese Alternative einschlägig, wenn nach dem Recht des Herkunftsstaates eine Erklärung des Betroffenen maßgebend ist, während sich die dritte Alternative des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG nur auf Fälle bezieht, in denen jemand ohne sein Zutun, z.B. allein aufgrund der Abstammung, nach dem Recht des Herkunftsstaates der deutschen Nationalität zugerechnet wird, wie dies z.B. nach der sowjetischen Passverordnung von 1974 bei Abkömmlingen der Fall ist, deren beide Elternteile dem deutschen Volkstum zugehörten (vgl. BVerwGE 99, 133 <140>; von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, § 6 BVFG n.F. Anm. 3c, cc). Nach der Passverordnung vom 10.9.1940 musste ebenso wie nach den späteren Passverordnungen von 1953 und 1974 die Nationalität in den ersten Inlandspass eingetragen werden. Anders als die Passverordnung von 1974 enthalten die Passverordnungen von 1940 und 1953 zwar kein ausdrückliches Wahlrecht für Kinder mit volkstumsverschiedenen Eltern; in der Praxis wurde jedoch ebenso verfahren, wie dies später in der Passverordnung von 1974 vorgesehen war ( BVerwGE 105, 60 <62>). Dort heißt es: "Die Eintragung der Nationalität im Pass richtet sich nach der Nationalität der Eltern. Gehören die Eltern verschiedenen Nationalitäten an, dann wird bei der Erstausstellung des Passes nach dem Wunsch des Passinhabers die Nationalität des Vaters oder der Mutter eingetragen. Eine spätere Änderung über die Nationalität erfolgt nicht." (Ziffer I, 3 der Passverordnung 1974, wörtlich zitiert nach Osteuropa-Archiv, Mai 1977, A 253). Für die Klägerin, die von einer volksdeutschen Mutter und einem russischen Vater abstammt, hat daher dieses Wahlrecht grundsätzlich bestanden, ohne dass es darauf ankommt, ob ihre Eltern miteinander verheiratet waren, denn hierauf stellt die Passverordnung nicht ab.

Die Klägerin hat sich bis zu ihrer Ausreise im Sinne von § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 (1. Alternative) BVFG zur deutschen Nationalität bekannt. Hierbei fordert das Gesetz nicht, dass sich jemand vom Beginn der Erklärungsfähigkeit bzw. der Bekenntnisfähigkeit an ununterbrochen bis zum Verlassen des Aussiedlungsgebiets zum deutschen Volkstum bekannt hat. Vielmehr reicht es aus, wenn die Erklärung zur deutschen Nationalität im Sinne der 1. Alternative des § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG spätestens im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebiets vorgelegen hat (BVerwGE 99, 133 <145>; ebenso von Schenckendorff, a.a.O., § 6 BVFG n.F. Anm. 3c). Deshalb ist es sogar möglich, von einer in früherer Zeit abgegebenen Erklärung zu einer nichtdeutschen Nationalität bis zum maßgebenden Zeitpunkt durch Hinwendung zum deutschen Volkstum abzurücken. Um eine frühere Erklärung zu einer nichtdeutschen Nationalität rückgängig zu machen, reicht es dann allerdings nicht aus, wenn eine Lebensführung, die ohne das Gegenbekenntnis die Annahme der deutschen Volkszugehörigkeit aufgrund schlüssigen Gesamtverhaltens gerechtfertigt hätte, lediglich beibehalten wird. Es bedarf vielmehr eines darüber hinausgehenden positiven Verhaltens, aus dem sich eindeutig der Wille ergibt, nur dem deutschen Volk und keinem anderen Volkstum zuzugehören (BVerwGE 99, 133 <146>). In Fällen, in denen zuvor kein beachtliches Gegenbekenntnis abgegeben worden war, sind dagegen derart strenge Anforderungen an den Nachweis einer Erklärung zum deutschen Volkstum nicht zu stellen, weil ein innerer Bewusstseinswandel nicht stattgefunden hat, wenn sich der Betroffene immer als Deutscher gefühlt (innere Bewusstseinslage) und das Gegenteil nicht durch eine Erklärung nach außen (äußerer Erklärungsinhalt) dokumentiert hat. Eine Erklärung zum deutschen Volkstum ist auch nicht deshalb als rechtlich unbeachtlich anzusehen, weil sie nach dem 30. Lebensjahr und damit lange nach Eintritt der Bekenntnisfähigkeit abgegeben wurde (BVerwGE 102, 214 <218>).

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist zur Überzeugung des Senats erwiesen, dass sich die Klägerin seit 1963 bis zu ihrer Ausreise mehrfach unzweideutig zur deutschen Nationalität bekannt hat; zusätzliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit sind insoweit nicht zu stellen, weil sie zuvor - in Betracht kommen nur die Vorgänge um das Jahr 1954 - kein beachtliches Gegenbekenntnis abgegeben hatte.

Zwar wurde der Name der Klägerin in deren Geburtsurkunde im Jahre 1954 von "xxxx xxxxx" in "xxxxxxxxx xxxxxxxxxxxx" geändert. Darin liegt jedoch bei der gegebenen Sachlage kein der Klägerin persönlich zuzurechnendes Gegenbekenntnis zur russischen Nationalität. Die Klägerin, die auf den Senat in jeder Hinsicht einen glaubwürdigen Eindruck machte, hat in der mündlichen Verhandlung bekundet, sie habe ihre erste Geburtsurkunde, die sie zu Hause in einer alten Bibel gefunden habe und in der sowohl der Name ihrer Mutter als auch der ihres Vaters aufgeführt gewesen sei, ohne Wissen ihrer Mutter in der Schule abgegeben und sei lediglich damit einverstanden gewesen, dass im Juni 1954 auf Veranlassung des Direktors ihrer Schule in ihrer Geburtsurkunde ihr bisheriger Name "xxxxx xxxxx" in "xxxxxxx xxxxxxxxxxxx" geändert wurde, damit sie die weiterführende Schule habe besuchen können. Da in der Geburtsurkunde keine Eintragung über ihre Nationalität enthalten war, ist in diesem Vorgang kein Bekenntnis zur russischen Nationalität zu sehen.

Auch im Zusammenhang der Ausstellung des ersten Inlandspasses hat die Klägerin kein beachtliches Gegenbekenntnis zur russischen Nationalität abgelegt. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin - auch insoweit uneingeschränkt überzeugend - klargestellt, dass sie selbst den Antrag auf Ausstellung des ersten Inlandspasses, der im November 1954, kurz vor ihrem 16. Geburtstag, hätte beantragt werden müssen, nicht gestellt und diesen Pass auch nicht selbst abgeholt hat. Vielmehr sei der Pass ihrer Mutter - vermutlich - im Jahre 1956 von der Kommandantur übergeben worden. Diese Angaben, die ungeachtet des "grundsätzlichen" Wahlrechts durchaus Bestätigung in der tatsächlichen Behördenpraxis finden (vgl. etwa Urteil des Senats vom 24.4.1996 - 16 S 2230/95 -), werden im vorliegenden Einzelfall dadurch bestätigt, dass die Klägerin die in den Akten befindliche Anmeldebescheinigung, bei der es sich um den Antrag auf Ausstellung des Passes handeln dürfte, weder bei Antragstellung noch beim Abholen des Passes unterschrieben hat. Sie stehen auch nicht im Widerspruch zu ihren bisherigen Einlassungen. Sowohl ihre Ausführungen im Schreiben vom 26.4.1995 als auch im ausführlichen Lebenslauf vom 9.1.1996 beziehen sich auf den Namenswechsel im Juni 1954, mit dem erreicht wurde, dass sie die 35 km entfernt gelegene weiterführende Mittelschule besuchen konnte, und hatten keinen Bezug zur Beantragung des ersten Inlandspasses im November 1954, zu welchem Zeitpunkt erstmals Angaben zur Nationalitäteneintragung erforderlich waren. In ihrem Lebenslauf ist auch eindeutig nur von dem Namenswechsel und damit von dem Vorgang im Juni 1954 die Rede. Auch die bei erstem Zusehen missverständlich erscheinende Formulierung im Schreiben vom 26.4.1995, sie habe beschlossen, im Pass "Russe" zu schreiben, spricht im Ergebnis nicht gegen die Klägerin. Denn aus dem Gesamtzusammenhang ergibt sich, dass sich auch diese Einlassung nur auf den Vorgang im Juni 1954 bezogen haben kann, denn nur zu diesem Zeitpunkt stand die Frage zur Entscheidung an, ob die Klägerin eine weiterführende Schule besuchen konnte. Im November 1954, als der erste Inlandspass beantragt werden musste, besuchte die Klägerin bereits die weiterführende Mittelschule und hätte keinen Anlass gehabt, im Inlandspass die russische Nationalität ihres Vaters zu wählen. Bei dieser Sachlage erweist sich die Erklärung der Klägerin, sie habe das Schreiben vom 26.4.1995 "in aller Kürze" fertigen müssen, in der Tat als plausibel und insgesamt als glaubhaft.

Selbst wenn man im Übrigen zum damaligen Zeitpunkt ein Gegenbekenntnis annehmen wollte, so wäre dieses - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 2. Halbs. BVFG rechtlich unerheblich. Nach dieser Vorschrift gelten die Voraussetzungen nach § 6 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVFG als erfüllt, wenn das Bekenntnis zum deutschen Volkstum mit Gefahr für Leib und Leben oder schwerwiegenden beruflichen oder wirtschaftlichen Nachteilen verbunden gewesen wäre. Wird hierbei von dem rechtlich gebotenen objektiven Maßstab ausgegangen, lassen die Beeinträchtigungen, denen die Volksdeutschen bis Ende des Jahres 1955 ausgesetzt waren, die fehlende Bewegungsfreiheit und praktische Unmöglichkeit, eine höhere Schulbildung zu erlangen, nur den Schluss zu, dass es für Kinder mit volkstumsverschiedenen Eltern damals nicht zumutbar war, sich für die Nationalität des volksdeutschen Elternteils zu entscheiden, wenn sie überhaupt noch ein irgendwie geartetes schulisches oder berufliches Fortkommen ins Auge gefasst hatten.

In dem hier maßgeblichen Jahr 1954 stand die Klägerin nach ihrer glaubhaften Darstellung zusammen mit ihrer Mutter noch unter Kommandantur; bestätigt wird dies durch die Angaben mehrerer Auskunftspersonen. Mithin geht es um den Zeitraum von 1941 bis 1955, der für die Deutschen in der Sowjetunion die "finsterste Zeit" darstellte (Pinkus/Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, 1987, S. 337). In dieser Zeit wurden nicht nur sämtliche Schulen, Oberschulen und höhere Lehreinrichtungen für Deutsch geschlossen sowie alle Sonderkurse in deutscher Sprache abgeschafft, sondern darüber hinaus auch deutsche Schüler nicht weiter zur Oberstufe oder zur höheren Ausbildung zugelassen. Damit war nicht nur deutsche Schulbildung unmöglich gemacht, sondern allen Kindern und Jugendlichen nationaler Minderheiten der Zugang zur normalen Schulausbildung versperrt worden. Sogar der Grundschulbesuch war durch die "Härte des Lebens in der Verbannung", den Mangel an einfachstem Unterrichtsmaterial und den administrativen Hürden außerordentlich erschwert (Pinkus/Fleischhauer, ebd.). Die Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit der Deutschen in der Verbannung war unterbunden. Sie mussten ihre Personalausweise abgeben und erhielten Deportiertenausweise. Das bedeutete permanente Kontrolle; sie mussten sich in der ersten Zeit zweimal, von 1945 bis 1954 einmal monatlich bei der örtlichen Abteilung der Hauptumsiedlungsverwaltung einfinden (a.a.O. S. 323). Nach Stalins Tod im Jahre 1953 traten kaum Veränderungen ein (a.a.O. S. 338); die innenpolitischen Veränderungen wirkten sich auf Lage und Lebensbedingungen der Deutschen in der Sowjetunion zunächst "nur marginal" aus (a.a.O. S. 352). Erst mit dem Erlass vom 13.12.1955 "Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen, die sich in Sondersiedlungen befinden" (a.a.O. S. 358) erhielten sie die Bürgerrechte wieder und konnten etwa von der freien Berufs- und Arbeitsplatzwahl Gebrauch machen, außerdem wurden die Zulassungsbegrenzungen bei Oberschule und Universitäten aufgehoben (a.a.O. S. 360). Hiermit im Einklang stehen die Angaben der Klägerin zur Lage ihrer Familie nach der Deportation; ihre Darstellung, es sei ihr von der Kommandanturbewachung im Jahre 1954 untersagt worden, die nicht an ihrem Wohnort befindliche weiterführende Mittelschule im Dorf Nowaja Schulba zu besuchen, fügt sich der historischen Erkenntnislage nahtlos ein. Von Anfang an (Schreiben vom 26.4.1995) hat sie sich dahin eingelassen, dass sie nach Beendigung der siebenjährigen Schule habe weiterlernen wollen, dass es ihr jedoch die Kommandanturbewachung nicht erlaubt habe und dass sie deshalb ihren Namen gewechselt habe. Für den vorliegenden Fall, in dem auf das Jahr 1954 abzustellen ist, geht der Senat davon aus, dass der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit objektiv schwerwiegende berufliche Nachteile gedroht hätten, wenn sie sich der von ihrem Direktor vorgeschlagenen Vorgehensweise widersetzt hätte, ihre subjektive Befürchtung fand mithin in den tatsächlichen Gegebenheiten ihre Entsprechung. Zwar war zum damaligen Zeitpunkt ein mögliches Hochschulstudium und eine Ausbildung als Lehrerin noch nicht erkennbar (vgl. BVerwGE 105, 60 <63>), jedoch hätte die Klägerin andernfalls sofort die Schule beenden müssen und damit niemals den von ihr angestrebten Schulabschluss als Voraussetzung für eine weitere Ausbildung erreichen können. Insofern ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht nur ein mögliches Hochschulstudium und eine Ausbildung als Lehrerin in den Blick zu nehmen. Denn die fehlende Erlaubnis, eine weiterführende Schule besuchen zu dürfen, ist schon für sich genommen als schwerwiegender Nachteil im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 2. Halbs. BVFG anzusehen (vgl. auch BVerwGE 99, 133 <142>).

Hat die Klägerin nach allem im Jahre 1954 kein beachtliches Gegenbekenntnis zur russischen Nationalität abgegeben, kommt es allein auf die seither abgegebenen Bekenntnisse zur deutschen Nationalität an, ohne dass erhöhte Anforderungen an die Ernsthaftigkeit zu stellen wären. Diese Bekenntnisse sind durchweg eindeutig. Nach ihren in jeder Hinsicht glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin bereits vor ihrer Eheschließung im Jahre 1963 versucht, die Eintragung ihrer Nationalität im ersten Inlandspass von "Russisch" in "Deutsch" zu ändern, und diesen Versuch nochmals im Jahre 1978 unternommen, als in Folge der Passverordnung 1974 die Pässe gewechselt werden mussten. Diese beiden Änderungsversuche reichen bereits als Erklärung zur deutschen Nationalität aus, ohne dass es noch darauf ankäme, ob die Klägerin in der Folgezeit die Änderungsversuche jährlich wiederholt hat. Hinzu kommt, dass sie sich jeweils bei den Volkszählungen im Jahre 1970, 1979 und 1989 als Deutsche bekannt hat, wozu sie in der mündlichen Verhandlung detaillierte und plausible Angaben gemacht hat. Auch der Beitritt zu der Organisation "Wiedergeburt" im Januar 1992 ist rechtlich bedeutsam (vgl. hierzu BVerwGE 99, 133 <148>), denn er erfolgte über ein Jahr vor Stellung des Aufnahmeantrags und kann jedenfalls im Falle der Klägerin nicht als Verhalten gewertet werden, dass lediglich dem Zweck gedient hat, ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet oder sonstige Vergünstigungen zu erhalten (vgl. hierzu BVerwGE 105, 60 <66>). Ob auch die von der Klägerin im Jahre 1994 veranlasste Änderung ihrer Nationalität in "Deutsch" in ihrem Inlandspass rechtlich bedeutsam ist oder ob diese Erklärung von dem Beweggrund getragen war, im Bundesgebiet ihre Rentenansprüche angerechnet zu bekommen, kann angesichts der rechtlich bedeutsamen früheren Erklärungen zur deutschen Nationalität letztlich offen bleiben. Angesichts ihres sonstigen Verhaltens handelt es sich jedenfalls nicht um ein aussageloses Lippenbekenntnis.

Das nach allem bis zur Aussiedlung aufrechterhaltene Bekenntnis der Klägerin zur deutschen Nationalität findet im Übrigen auch in deren gesamten Lebensumständen seine Entsprechung. Sie ist in einer rein deutschen Familie und in dem Bewusstsein, Deutsche zu sein, aufgewachsen. Mit dem Volkstum ihres Vaters, den sie nicht gekannt hat, war sie nicht vertraut. Während des Besuchs der Mittelschule hat sie bei ihrer Tante gewohnt, die weder Russisch sprechen noch schreiben konnte. 1964 hat sie einen deutschen Volkszugehörigen geheiratet sowie ihre Söhne in deutschem Sinne und mit deutscher Sprache erzogen, so dass diese jeweils bei der Ausstellung ihres ersten Inlandspasses die Nationalität mit "Deutsch" angegeben haben. Ihr Sohn xxxxxxxx hat eine Spätaussiedlerbescheinigung nach § 15 Abs. 1 BVFG erhalten. Dass die Klägerin von ihrer Umgebung als Deutsche angesehen wird, wird auch durch die Angaben von Auskunftspersonen bestätigt. So hat vor allem der Zeuge xxxxx xxxx, ein ehemaliger Lehrer und späterer Kollege der Klägerin, diese als eine Person geschildert, die nach den deutschen Sitten und Gebräuchen sowie deutscher Kultur gelebt habe. Die Hochzeiten der Eheleute xxxxxxxx und der Schwester der Klägerin xxxxxx, bei denen er zugegen gewesen sei, seien richtige deutsche Hochzeiten gewesen. Insgesamt zog er den Schluss, dass die Klägerin eine Deutsche "war, ist und bleibt". Auch die Wahl der deutschen Sprache als Studien- bzw. Lehrfach zeugt von dem Bewusstsein der Klägerin, sich als Deutsche zu fühlen. Von einer rechtlich unerheblichen bloßen Wertschätzung der deutschen Sprache kann angesichts dieser Gesamtumstände und der Schwierigkeiten, die in der Sowjetunion mit dem Gebrauch der deutschen Sprache verbunden waren, entgegen der Auffassung des Beklagten nicht die Rede sein.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO erfüllt ist.

Beschluss vom 7. März 2001

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG auf 8.000,-- DM festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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