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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 23.01.2001
Aktenzeichen: 7 S 2589/00
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 104 Abs. 3 Satz 2
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 5
VwGO § 138 Nr. 3
1. Ein Prozessbeteiligter kann in jeder Phase eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, das er zunächst selbst betrieben hat, einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung beauftragen. Ein bereits bestimmter Termin zur mündlichen Verhandlung ist auf entsprechenden Antrag zu vertagen, wenn dem neuen Prozessbevollmächtigten die Terminswahrnehmung nicht möglich ist.

2. Die Verletzung rechtlichen Gehörs kann nicht erfolgreich mit dem Berufungszulassungsantrag gerügt werden, wenn zumutbare Möglichkeiten, sich erstinstanzlich gehör zu verschaffen, unterlassen worden sind. Ein anwaltlich nicht vertretener Beteiligter muss jedenfalls in der Regel keinen Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung stellen.


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

7 S 2589/00

In der Verwaltungsrechtssache

wegen

Leistungen nach dem BSHG

hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 7. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Gehrlein und die Richter am Verwaltungsgerichtshof Klein und Bader

am 23. Januar 2001

beschlossen:

Tenor:

Auf den Antrag der Klägerin wird die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 5. Oktober 2000 - 8 K 1850/00 - zugelassen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe:

I.

Die Klägerin erhob am 16.08.2000 Klage beim Verwaltungsgericht Freiburg. Mit Beschluss vom 14.09.2000 wurde das Verfahren auf den Einzelrichter übertragen, der mit Verfügung vom gleichen Tage Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 05.10.2000 bestimmte. Die Ladungsfrist wurde auf zehn Tage abgekürzt. Die Ladung wurde der Klägerin am 20.09.2000 zugestellt. Die Klageerwiderung ging am 28.09.2000 beim Verwaltungsgericht ein; Doppel dieses Schriftsatzes wurde der Klägerin am 29.09.2000 übersandt. Mit Schriftsatz vom 26.09.2000, beim Verwaltungsgericht eingegangen am 02.10.2000, hatte die Klägerin Terminsänderung beantragt. Zur Begründung führte sie aus: Sie wolle sich im Verhandlungstermin anwaltlich vertreten lassen. Aufgrund der kurzfristigen Ladung habe sie erst am 26.09.2000 einen Gesprächstermin bei ihrem Rechtsanwalt erhalten. Der Rechtsanwalt Dr. B. könne den Termin am 05.10.2000 nicht wahrnehmen, da er an diesem Tage bereits einen anderen wichtigen Termin habe. Sie selbst sehe sich außer Stande, ohne Beistand zu erscheinen. Falls dem Verlegungsgesuch nicht entsprochen werde, solle nach Aktenlage entschieden werden. Mit Beschluss vom 05.10.2000 lehnte das Verwaltungsgericht den Verlegungsantrag ab, verhandelte sodann in Abwesenheit der Klägerin zur Sache und wies die Klage ab. Das Urteil wurde der Klägerin am 25.10.2000 zugestellt. Mit dem am 24.11.2000 gestellten Antrag auf Zulassung der Berufung rügt die Klägerin die Verletzung rechtlichen Gehörs und macht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils geltend.

II.

Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung hat Erfolg.

Die Berufung war nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zuzulassen, weil die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruht.

Die Ablehnung des Antrags auf Vertagung stellt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar. Zu Recht macht die Klägerin geltend, dass die Ablehnung einer gebotenen Terminsverlegung den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen kann. Grundsätzlich hat jeder Prozessbeteiligte einen Anspruch darauf, in der mündlichen Verhandlung vertreten zu sein und dort ausreichend Gehör zu finden. Das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht unterliegt zwar nicht dem Vertretungszwang, weshalb es dem Bürger frei steht, sich selbst zu vertreten oder einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Anders als das Verwaltungsgericht geht der Senat aber davon aus, dass jeder Kläger grundsätzlich einen Anspruch darauf hat, in der mündlichen Verhandlung von einem Rechtsanwalt vertreten zu werden. Nach der Rechtsprechung des BVerwG zur Rechtslage vor Inkrafttreten des 6.VwGOÄndG war dem Vertagungsantrag des anwaltlich nicht vertretenen Bürgers in aller Regel zu entsprechen, wenn dieser plausibel darlegte, dass er ohne anwaltliche Vertretung den Anforderungen der mündlichen Verhandlung nicht gewachsen sei (vgl. BVerwG Buchholz 310 § 108 Nr. 240). Gleiches gilt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, wenn ein bereits bestellter Rechtsanwalt kurz vor dem Termin das Mandat niederlegt, ein Bevollmächtigter nach § 67 Abs. 2 Satz 3 VwGO zurückgewiesen wird oder ein Beteiligter seinem Rechtsanwalt kurz vor der mündlichen Verhandlung das Mandat entzogen hat. Durch diese Rechtsprechung wird die Bedeutung rechtskundiger Beratung und Vertretung in der mündlichen Verhandlung unterstrichen. Diese Grundsätze gelten seit Inkrafttreten des 6.VwGOÄndG erst Recht. Die Konzentration des Prozesses auf grundsätzlich eine Instanz und der Vertretungszwang in einem sich anschließenden Berufungszulassungsverfahren machen es jetzt in aller Regel erforderlich, sich bereits erstinstanzlich - jedenfalls aber in der mündlichen Verhandlung - rechtskundigen Beistand zu verschaffen, um die ansonsten drohenden erheblichen Nachteile zu vermeiden. So lehnen beispielsweise viele Rechtsanwälte wegen der kurzen Antragsfrist eine Vertretung im Berufungszulassungsverfahren ab, wenn sie nicht bereits erstinstanzlich beauftragt waren. Der Amtsermittlungsgrundsatz allein vermag diese strukturellen Änderungen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nicht zu kompensieren. Im übrigen durfte auch schon nach altem Recht bei Bewilligung von Prozesskostenhilfe die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht wegen des Amtsermittlungsgrundsatzes versagt werden (BVerwG Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 11 = FEVS 23, 363); dies gilt nach Inkrafttreten des 6.VwGOÄndG erst Recht. (vgl. insbesondere auch BVerfG NJW 1997, 2103). Bei fehlender anwaltlicher Vertretung kann die Fürsorgepflicht dem Verwaltungsgericht sogar gebieten, Prozessbeteiligte auf die neuen Risiken fehlender anwaltlicher Vertretung hinzuweisen.

Dass die Klägerin zunächst ohne anwaltliche Unterstützung Klage erhoben hatte, ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ohne Belang. Ein solches Vorgehen eines Klägers kann im Übrigen allein aus Gründen der Fristwahrung, aus finanziellen Erwägungen oder in der Hoffnung auf eine noch für möglich gehaltene gütliche nichtstreitige Erledigung der Rechtssache erfolgt sein. Eine Verpflichtung, einen derart begonnenen Rechtsstreit auch weiterhin ohne anwaltliche Vertretung zu betreiben, besteht nicht. Es steht einem Kläger grundsätzlich frei, in jeder Phase eines laufenden Verfahrens, das er zunächst selbst betrieben hat, einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen zu beauftragen. Die damit verbundenen Verzögerungen des Verfahrens sind im Hinblick auf den Grundsatz des rechtlichen Gehörs hinzunehmen und fallen in aller Regel auch nicht ins Gewicht. Ob und in welchem Umfang anderes gelten kann, wenn ein Beteiligter seinen prozessualen Mitwirkungspflichten nicht genügt hat, bedarf im vorliegenden Fall keiner Erörterung. Denn die Klägerin brauchte sich jedenfalls nicht darauf einzustellen, dass das Verwaltungsgericht einen Monat nach Klageeingang, vor Einreichung der Klageerwiderung und zudem unter Abkürzung der Ladungsfrist, Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmen werde.

Bei Anlegung der oben dargestellten Grundsätze hätte dem Vertagungsantrag der Klägerin entsprochen werden müssen. Denn sie hat erstinstanzlich schlüssig vorgetragen, dass sie einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragen wolle. Ebenso hat sie schlüssig vorgetragen, dass Herr Rechtsanwalt Dr. B. an der Wahrnehmung des Termins aus zwingenden Gründen gehindert sei. Etwaige Zweifel des Gerichts hätten durch einen kurzfristigen Anruf bei der Anwaltskanzlei geklärt werden können. War dem für die Vertretung vorgesehenen Rechtsanwalt die Wahrnehmung des Verhandlungstermins unzumutbar, war Vertagung geboten. Die Ablehnung des Vertagungsantrages stellt deshalb eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar (vgl. hierzu Bader, VwGO, § 138 Rdnr. 45 m.w.N.).

Diese Einschätzung wird nicht durch den im Vertagungsantrag angebrachten Zusatz, dass "äußerst ersatzweise" beantragt werde, nach Aktenlage zu entscheiden, in Frage gestellt. Die Klägerin wollte erkennbar nur sicherstellen, dass eine - ihr zu diesem Zeitpunkt nicht vorliegende - nachgereichte Klageerwiderung des Beklagten keine Berücksichtigung finden solle. Das hauptsächlich verfolgte Ziel der Vertagung wird hierdurch nicht in Frage gestellt.

Der Verfahrensmangel war auch ursächlich für die angegriffene Entscheidung. Zwar kann sich ein Gehörsverstoß auch nur auf einzelne dem Urteil zu Grunde liegende Feststellungen beziehen, die die Richtigkeit des Ergebnisses nicht notwendigerweise in Zweifel ziehen. Anderes gilt aber, wenn der festgestellte Gehörsverstoß das angegriffene Urteil in seiner Gesamtheit betrifft; ein solcher Verfahrensmangel führt immer zur Zulassung der Berufung. Dies ist regelmäßig bei Entscheidungen ohne gebotene mündliche Verhandlung bzw. bei fehlender Vertretung in der mündlichen Verhandlung (z. B. bei unterlassener oder fehlerhafter Ladung) der Fall. Diesen Fallgruppen steht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Vertretung des Beteiligten gleich, wenn Vertagung geboten war.

Dem Erfolg der Gehörsrüge steht auch keine Verletzung der Mitwirkungspflichten der Klägerin entgegen. Zwar muss, wer die Verletzung rechtlichen Gehörs erfolgreich rügen will, in der Regel alle verfahrensrechtlich eröffneten Möglichkeiten ergreifen, die ihm nach Lage des Einzelfalls zumutbar sind, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Hierzu kann insbesondere auch ein Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gehören (BVerwG Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 248 = NJW 1992, 3185). Ein solcher Antrag wäre im vorliegenden Verfahren auch möglich gewesen, weil die Klägerin unschwer in Erfahrung hätte bringen können, ob ihrem Vertagungsantrag entsprochen worden war oder nicht und dementsprechend die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung hätte beantragen können. Die Stellung eines solchen Antrags ist einem anwaltlich nicht vertretenen Prozessbeteiligten aber in aller Regel nicht zumutbar. Ein juristisch nicht gebildeter Laie wird das Institut der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung regelmäßig schon nicht kennen, jedenfalls keine konkrete Vorstellung haben, was er in dieser Prozessphase nach Schließung der mündlichen Verhandlung noch unternehmen kann, um seine Rechte soweit als möglich zu wahren.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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