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Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 12.10.2004
Aktenzeichen: 8 S 1661/04
Rechtsgebiete: BauGB, BauNVO, LBO


Vorschriften:

BauGB § 34 Abs. 1 Satz 2
BauNVO § 15 Abs. 1 Satz 2
LBO § 6 Abs. 1 Satz 2
Das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme erfährt keine Konkretisierung oder gar Einschränkung durch das Abstandsflächenrecht des Landes, soweit nachbarliche Belange in Rede stehen, die von diesem nicht erfasst werden, wie etwa die in § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB geforderten gesunden Wohn- und Arbeitsverhältnisse.
VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

8 S 1661/04

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Baugenehmigung

hier: einstweiliger Rechtsschutz

hat 8. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichtshofs Stumpe sowie die Richter am Verwaltungsgerichtshof Schenk und Dr. Christ

am 12. Oktober 2004

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerden der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21. Juni 2004 - 13 K 2081/04 - geändert. Die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragsteller gegen die der Beigeladenen unter dem 4. Mai 2004 erteilte Baugenehmigung zur Errichtung einer Fertiggarage wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese auf sich behält.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf EUR 2.000,-- festgesetzt.

Gründe:

Die - zulässigen - Beschwerden sind begründet. Das Verwaltungsgericht hätte den Begehren der Antragsteller stattgeben und ihren Widersprüchen aufschiebende Wirkung beilegen müssen. Denn es spricht vieles dafür, dass die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und die Antragsteller in ihren nachbarlichen Rechten verletzt. Die genehmigte Fertiggarage hält zwar die Maße einer nach § 6 Abs. 1 Satz 2 LBO privilegierten Grenzgarage ein und muss deshalb keine Abstandsflächen einhalten. Ob sie damit in jeder Hinsicht dem Bauordnungsrecht entspricht, woran Zweifel bestehen könnten, weil sie - entgegen § 6 Abs. 2 LBO - einen Abstand zur Grundstücksgrenze von 0,03 m einhält, kann offen bleiben. Denn sie dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme zulasten der Antragsteller verletzen. Dieses Gebot folgt im vorliegenden Fall entweder aus dem in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Erfordernis des "Einfügens" in die nähere Umgebung, falls es sich bei dem seit dem 13.3.1934 rechtsverbindlichen Bebauungsplan "1934/052 53-44 A/B" um einen einfachen Bebauungsplan i.S.d. § 30 Abs. 3 BauGB handelt, oder aus § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO, sollte es sich bei ihm um einen qualifizierten Bebauungsplan i.S.d. § 30 Abs. 1 BauGB handeln. Nach ständiger Rechtsprechung kann zwar ein Nachbar, der sich gegen die Verwirklichung eines Bauvorhabens zur Wehr setzt, unter dem Blickwinkel der Sicherstellung einer ausreichenden Belichtung und Besonnung seines Grundstücks grundsätzlich keine Rücksichtnahme verlangen, die über den Schutz des bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenrechts hinausgeht, weil diese landesrechtlichen Grenzabstandsvorschriften ihrerseits eine Konkretisierung des Gebots nachbarlicher Rücksichtnahme darstellen (BVerwG, Beschluss vom 6.12.1996 - 4 B 215.96 - ZfBR 1997, 227 m.w.N.). Dies gilt aber nur "grundsätzlich", was bedeutet, dass Ausnahmen möglich sein müssen, zumal Bundesrecht nicht zur Disposition des Landesgesetzgebers steht (BVerwG, Urteil vom 31.8.2000 - 4 CN 6.99 - = BVerwGE 112, 41 = PBauE § 17 BauNVO Nr. 9). Vor allem aber bezieht sich diese Konkretisierung nur auf die genannten Belange der Belichtung und Besonnung, was sich im wesentlichen mit der Auffassung des Senats zur Schutzrichtung des Abstandsflächenrechts deckt (Beschluss vom 10.9.1998 - 8 S 2137/98 - VBlBW 1999, 26). Dagegen erfährt das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme keine Konkretisierung oder gar Einschränkung durch das Abstandsflächenrecht des Landes, soweit nachbarliche Belange in Rede stehen, die von diesem nicht erfasst werden, wie etwa die in § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB geforderten gesunden Wohn- und Arbeitsverhältnisse.

Im Hinblick auf die gesunden Wohnverhältnisse, insbesondere die hinlängliche Erreichbarkeit des Hauseingangs der Antragsteller, bestehen aber erhebliche Bedenken, ob die erteilte Baugenehmigung die gebotene Rücksicht auf deren nachbarliche Belange nimmt. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme (objektiv-rechtlich) begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, um so mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, um so weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmepflichtigen nach Lage der Dinge zuzumuten ist (so grundlegend: BVerwG, Urteil vom 25.2.1977 - IV C 22.75 - BVerwGE 52, 122 = PBauE § 35 Abs. 1 BauGB Nr. 8).

Nach diesen Maßstäben spricht vieles dafür, dass den Antragstellern die genehmigte Grenzbebauung mit einer Fertiggarage nicht zuzumuten ist. Nach Auffassung des Senats ergibt sich dies allerdings nicht aus einer Beeinträchtigung der beiden vorderen Fenster in der Westfassade ihres Hauses. Denn deren Belichtung und Besonnung wird durch die Garage nicht oder allenfalls geringfügig eingeschränkt. Gestört wird vielmehr lediglich der nicht geschützte Inhalt des Fensterausblicks. Unzumutbar dürfte aber die "Einmauerung" des Zugangsbereichs des Wohnhauses der Antragsteller sein. Denn dieser würde nach Errichtung der Grenzgarage - unstreitig - an der breitesten Stelle nur noch 87 cm betragen und sich wohl auf bis zu wenig mehr als 60 cm verengen (vgl. die Stellungnahme des Planverfassers der Beigeladenen vom 25.7.2004, S. 3). Ein Umzug oder ein Krankentransport ließe sich in einem derart beengten "Zugangsschlauch" kaum noch durchführen. Von einer Wahrung gesunder Wohnverhältnisse dürfte danach kaum noch die Rede sein. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die geringe Breite des Zugangsbereichs aus der Grundstückssituation folgt, an der die Garage nichts ändert. Denn es macht einen Unterschied, ob sich an einen Hauseingangsbereich auf dem Nachbargrundstück eine freie Hoffläche anschließt, deren Luftraum etwa beim Tragen von Gegenständen oder kranken Personen mitgenutzt werden kann, oder eine Garagenwand, die dies unmöglich macht. Andererseits kann von einer "Unabweisbarkeit" des Garagenvorhabens der Beigeladenen nicht die Rede sein. Denn sie könnte - worauf die Antragsteller bereits im ersten Rechtszug ausdrücklich hingewiesen haben - die Garage auch an der Ostseite ihres Hauses errichten und die heute dort wohl zur Erschließung des entstehenden Hintergebäudes Lxxxxxxxxxxx Straße xxx vorgesehene Zufahrt an die Westseite zum Grundstück der Antragsteller hin verlegen.

Nach allem bestehen in Ansehung der nachbarrechtlichen Position der Antragsteller so erhebliche Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der erteilten Baugenehmigung, dass es geboten ist, der Schaffung vollendeter Tatsachen vorzubeugen und die aufschiebende Wirkung der am 13.5.2004 eingelegten Widersprüche der Antragsteller anzuordnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus den §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.d.F. des Art. 1 des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 5.5.2004 (BGBl. I S. 718 - GKG n.F.; vgl. § 72 Nr. 1 GKG n.F.).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG n.F.).

Ende der Entscheidung

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