Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss verkündet am 23.06.2009
Aktenzeichen: 9 S 938/09
Rechtsgebiete: LVwVfG, RAVwS


Vorschriften:

LVwVfG § 51
RAVwS § 11
1. Einwendungen gegen die materiell-rechtliche Richtigkeit eines bestandskräftigen Grundverwaltungsakts sind im Vollstreckungsverfahren grundsätzlich ausgeschlossen. Hierfür steht nur der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Verfügung, der mit einem Eilrechtsschutzantrag nach § 123 VwGO abgesichert werden kann.

2. Werden einem Antrag auf individuelle Beitragsbemessung nach § 11 Abs. 2 RAVwS weder Einkommensnachweise noch anderweitige Angaben zu den erzielten Einkünften beigefügt, kann eine Festsetzung in Orientierung am Regelpflichtbeitrag erfolgen (Änderung der Rechtsprechung).


VERWALTUNGSGERICHTSHOF BADEN-WÜRTTEMBERG Beschluss

9 S 938/09

In der Verwaltungsrechtssache

wegen Unterrichtsausschlusses

hier: Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO

hat der 9. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg

am 23. Juni 2009

beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 9. April 2009 - 6 K 672/09 - geändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 19. März 2009 gegen den vom Schulleiter des Tulla-Gymnasiums Rastatt am 16. März 2009 verfügten Unterrichtsausschluss wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des 1995 geborenen Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem die begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Erziehungs- und Ordnungsmaßnahme (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 90 Abs. 3 Satz 3 des Schulgesetzes für Baden-Württemberg in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 11.12.2002, GBl. S. 476 - SchG -) abgelehnt wurde, ist gemäß § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist auch begründet, weil an der Rechtmäßigkeit des angeordneten Ausschlusses vom Unterricht für fünf Unterrichtstage derzeit ernstliche Zweifel bestehen und das Suspensivinteresse des Antragstellers daher überwiegt (vgl. § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO analog).

Schulische Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen dienen der Verwirklichung des Erziehungs- und Bildungsauftrags der Schule, der Erfüllung der Schulbesuchspflicht, der Einhaltung der Schulordnung und dem Schutz von Personen und Sachen innerhalb der Schule (§ 90 Abs. 1 SchG). Der zeitweilige Ausschluss vom Unterricht ist nur zulässig, wenn ein Schüler durch schweres oder wiederholtes Fehlverhalten seine Pflichten verletzt und dadurch die Erfüllung der Aufgabe der Schule oder die Rechte anderer gefährdet (§ 90 Abs. 6 Satz 1 SchG). Angesichts der vom Antragsgegner vorgelegten Unterlagen bestehen ernstliche Zweifel daran, dass ausreichende Tatsachenermittlungen für eine ordnungsgemäße Ermessensentscheidung vorgelegen haben.

Soweit sich dies im summarischen Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO und im Hinblick auf die ausgesprochen dürftige Dokumentation des Sachverhalts feststellen lässt, haben Antragsgegner und Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt, dass das Verhalten des Antragstellers vom 12.03.2009 ein Fehlverhalten darstellt. Die gegenüber der Mitschülerin aus der 5. Klasse abgegebenen Äußerungen besaßen beleidigenden und ehrverletzenden Charakter. Dies stellt auch der Antragsteller nicht in Zweifel; er hat sich für sein Verhalten auch entschuldigt.

Nach gegenwärtiger Erkenntnislage können die Äußerungen indes nicht als "schweres" Fehlverhalten im Sinne des § 90 Abs. 6 Satz 1 SchG bewertet werden. Denn auch beleidigende Äußerungen und Verhaltensweisen rechtfertigen einen Unterrichtsauschluss nicht in jedem Falle, vielmehr sind zur Einordnung des Gewichts der jeweiligen Verfehlung die konkreten Einzelfallumstände heranzuziehen (vgl. zuletzt Senatsbeschluss vom 02.01.2008 - 9 S 2908/07 -). Insoweit sind etwa das Alter des betroffenen Schülers, der allgemeine Sprachgebrauch unter seiner Altersgenossen und Schulkameraden sowie Anlass und Kontext der Äußerungen in den Blick zu nehmen (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 05.12.2008 - 1 BvR 1318/07 -, NJW 2009, 749).

Diesen Anforderungen genügen weder die Verfügung des Schulleiters vom 16.03.2009 noch der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts. Dies ergibt sich bereits daraus, dass eine Aufklärung des vom Antragsteller tatsächlich Gesagten und des Kontextes, in dem die Äußerungen gefallen sind, nur in rudimentärer Weise stattgefunden hat (vgl. zu den Aufklärungsanforderungen Senatsbeschluss vom 24.04.2009 - 9 S 901/09 - sowie BVerfG, Beschluss vom 08.12.2004 - 2 BvR 52/02 -, BVerfGK 4, 243 [252 ff.] für das Disziplinarverfahren).

Der Schulleiter selbst hat vor Erlass des Unterrichtsauschlusses lediglich zwei DIN-A 5 Blätter angefertigt, auf denen sich einige, angeblich vom Antragsteller abgegebene Behauptungen finden. Dabei ist nur hinsichtlich weniger Äußerungen erkennbar, auf wessen Zeugnis die Beschuldigung zurückgeht. Für die Mehrzahl der auf den Blättern aufgelisteten Beleidigungen ist keine Bestätigung durch einen der angehörten Mitschüler vermerkt. In der Verfügung des Schulleiters vom 16.03.2009 schließlich ist eine konkrete Äußerung nicht benannt, vielmehr rekurriert die Begründung auf Beleidigungen, "die ich hier nicht wiedergeben möchte". Damit sind ausreichende (und nachvollziehbare) Anhaltspunkte für die Erforderlichkeit der verfügten Erziehungs- und Ordnungsmaßnahme nicht dargelegt.

Unklar ist damit bereits, welche Aussagen dem Antragsteller vorgehalten werden. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts nimmt ausschließlich auf den auch vom Antragsteller eingeräumten Satz: "Dein Vater lässt abends das Fenster offen, dass der Wind besser blasen kann" Bezug. Warum hierin eine "äußerst herabwürdigende" Beleidigung "übelster Art und Weise" liegen soll, bleibt indes offen. Die Einschätzung erhellt sich erst bei Hinzuziehung der (im Beschluss indes nicht ausgeführten) Stellungnahme des Schulleiters vom 20.03.2009. In dieser werden die dem Antragsteller konkret vorgeworfenen Beleidigungen benannt, u.a. auch der Satz: "Dein Vater kann es nicht mehr, deswegen macht deine Mutter das Fenster auf, damit der Wind ihr einen bläst".

Diese Aussage ist vom Antragsteller indes - auch durch Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung - bestritten worden. Schriftliche Aussagen der betroffenen Mädchen oder von unbeteiligten Mitschülern liegen nicht vor, so dass keinerlei nachprüfbare Belege für die weitergehenden Belastungen vorhanden sind. Dokumentiert ist allein die Aussage des Schulleiters, der naturgemäß aber nur mittelbare Angaben über die ihm gegenüber abgegebenen Zeugenaussagen machen kann. Insoweit fällt überdies auf, dass der Umfang der in der Stellungnahme vom 20.03.2009 behaupteten Bestätigung durch einen Schüler der Parallelklasse mit den unmittelbar angefertigten Vermerken nicht in Übereinstimmung steht. Denn ausweislich der handschriftlichen Blätter vom 13.03.2009 ist diese Äußerung von dem befragten Schüler nicht bestätigt worden; dieser gab - dem Vermerk zufolge - vielmehr nur den Satz: "Du kannst mir einen im Stehen blasen" an.

Ein Aufklärungsdefizit liegt damit bereits hinsichtlich der konkreten Äußerung vor, die dem Antragsteller als Fehlverhalten vorgeworfen wird. Dies wirkt um so schwerer, als der Antragsteller in seiner eidesstattlichen Versicherung angegeben hatte, auch das von ihm beleidigte Mädchen habe ihm gegenüber eingestanden, dass die Beschuldigungen nicht zuträfen. Im Rahmen des Entschuldigungsgesprächs vom 13.03.2009 habe das Mädchen auf seine Vorhaltungen ausgeführt:

"Ja, ich habe ein paar Beleidigungen von anderen gehört, die Du gesagt hättest. Die hast Du nicht an dem Tag gesagt, aber ich habe Herrn BXXXXXX einfach alles gesagt, was ich von anderen gehört habe, also was Du insgesamt gesagt haben sollst".

Unverständlich ist insoweit auch, warum die Klassenkameraden des Antragstellers, die bei dem Vorfall anwesend waren, nie zu den tatsächlich geäußerten Bemerkungen oder zum Hergang befragt worden sind. Soweit das Verwaltungsgericht insofern meint, es sei Sache des Antragstellers, schriftliche Erklärungen der Schülerinnen vorzulegen, wird die bestehende Beweislast verkannt. Denn es ist Aufgabe der Schulverwaltung, die Voraussetzungen der in Anspruch genommenen Eingriffsermächtigung - und damit das dem Antragsteller zur Last gelegte Fehlverhalten - zu belegen (vgl. auch Niehues/Rux, Schul- und Prüfungsrecht, Band 1, 4. Aufl. 2006, Rn. 388; Lambert/Müller/Sutor, Schulrecht Baden-Württemberg, Stand: 11/08, § 90 Rn. 1.2.2).

Insbesondere aber ist eine Aufklärung des Kontexts der getätigten Äußerungen unterblieben. Hierzu hätte schon deshalb Anlass bestanden, weil der Schulleiter selbst in der Verfügung ausgeführt hat: "Offenbar provoziert durch zwei Schülerinnen der Klasse 5 beleidigte er diese und deren Eltern in einer Art und Weise, die ich hier nicht wiedergeben möchte". Wenn aber der Umstand einer Provokation als zutreffend oder jedenfalls möglich erkannt worden ist, sind weitere Ermittlungen unabdingbar, um den Bedeutungsgehalt der Äußerungen einschätzen und insbesondere das Gewicht des Fehlverhaltens zutreffend einordnen zu können. Der Antragsteller hat hierzu in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 22.03.2009 ausgeführt:

"Ich saß in der Mittagspause am 12.03.2009 gemeinsam mit meinen Klassenkameraden JXXXXX, HXXX und SXXXX auf den Bänken im TX-XX-Gymnasium. 5 Meter von uns entfernt saßen Mädchen aus der 5. Klasse auf einer Couch. Sie waren ziemlich laut. Der Schüler HXXX rief den Mädchen deshalb zu: ,Könnt Ihr bitte mal leiser sein, wir wollen lernen'. Nach 5 min. wurde dann eine der 3 Couchen frei. Wir gingen dorthin und setzten uns auf die freie Couch. Als wir Platz genommen hatten, kam eines der Mädchen aus der 5. Klasse zu uns und sagte: ,Verpisst Euch, das ist unsere Couch!' und trat mir gegen das Schienbein. Ich ließ mir das nicht gefallen und sagte: 'Dein Vater lässt abends das Fenster offen, dass der Wind besser blasen kann'. Mehr Beleidigungen habe ich nicht gesagt, was alle Anwesenden bestätigen können. Etwa 5 min. später kam dasselbe Mädchen dann wieder zu mir und schüttete eine volle Tüte Chips über mich aus. Sodann schmiss sie mir die Tüte ins Gesicht."

Eine Stellungnahme oder Einschätzung hierzu findet sich in den Verwaltungsakten nicht. Geht man aber davon aus, dass das Vorgeschehen jedenfalls ungefähr in der beschriebenen Weise stattgefunden hat, kann die eingeräumte Äußerung bei Berücksichtigung des Gesamtgeschehens nicht als schweres Fehlverhalten bewertet werden, das den Schulleiter dazu ermächtigt hätte, mit einem fünftägigen Unterrichtsausschluss den Rahmen der ihm in alleiniger Kompetenz zustehenden Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen voll auszuschöpfen (vgl. § 90 Abs. 3 Nr. 2d SchG). Einer derartig schweren Sanktion stünde jedenfalls der im Schulgesetz für alle Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen ausdrücklich angeordnete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entgegen (§ 90 Abs. 2 Satz 2 SchG).

Ob der Unterrichtsausschluss unter dem Gesichtspunkt eines "wiederholten Fehlverhaltens" gerechtfertigt werden könnte - wofür angesichts des schulischen Fehlverhaltens des Antragstellers in der zurückliegenden Zeit einiges spricht -, kann offenbleiben. Denn jedenfalls die mit dem Widerspruch angegriffene Verfügung vom 16.03.2009 stellt eine ausreichende Grundlage hierfür nicht dar. Dies ergibt sich zunächst bereits daraus, dass dort ausschließlich auf das konkrete Geschehen vom 12.03.2009 Bezug genommen wird und andere Verfehlungen, die insgesamt den Schluss zulassen würden, dass der Antragsteller "seine Pflichten verletzt und dadurch die Erfüllung der Aufgabe der Schule oder die Rechte anderer gefährdet" (§ 90 Abs. 6 Satz 1 SchG), nicht benannt sind. Insbesondere aber leidet die Entscheidung des Schulleiters auch insoweit an einem Fehlgebrauch des in § 90 Abs. 3 Satz 1 SchG eingeräumten Ermessens, weil die Umstände des konkreten Einzelfalls und damit das Gewicht des dem Antragsteller zur Last gelegten Fehlverhaltens nicht zutreffend ermittelt und gewürdigt worden ist. Dieser Mangel ist im bisherigen Widerspruchsverfahren nicht behoben worden; vielmehr hat das Regierungspräsidium im Rahmen der Beschwerdeerwiderung ausdrücklich die Auffassung vertreten, die Maßnahme sei auf ausreichende Ermittlungen gestützt.

Insgesamt überwiegt daher bei der im Anordnungsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO allein möglichen vorläufigen Betrachtung der Sach- und Rechtslage das Suspensivinteresse des Antragstellers, so dass die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs anzuordnen und der Beschluss des Verwaltungsgerichts abzuändern ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG, wobei nach ständiger Rechtsprechung des Senats für Verfahren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen einen Unterrichtsausschluss nur die Hälfte des Auffangwertes festzusetzen ist (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 23.01.2004 - 9 S 95/04 -, NJW 2004, 1058).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (vgl. § 152 Abs. 1 VwGO sowie § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG hinsichtlich der Streitwertfestsetzung).

Ende der Entscheidung

Zurück